Du bist Aji.
Dein Mentor holt den Rest zurück, ruft den Wirt auf euer Zimmer und bittet ihn um etwas Papier. Als dieser damit zurückkehrt, hält Arthrax den Mann an der Schürze fest.
„Und noch eine Runde Bier für alle. Wir können das gebrauchen.“
„Sehr wohl“, sagt der Wirt und geht davon.
Allyster wirft dem Krieger einen strengen Blick zu. Arthrax stützt die Ellbogen auf den Tisch, vergräbt den Kopf in den Händen und stöhnt gequält.
„Also, planen wir.“ Auch Brenna seufzt.
„Dass wir unsere bisherigen Abenteuer überlebt haben, verdanken wir reinem Glück“, beginnt Allyster. „Wir hatten viel zu wenig Vorräte und wir wissen viel zu wenig über die Länder, bevor wir sie besuchen. Jetzt, da die Jenseitsvölker wissen, was wir planen, wird unsere Aufgabe noch weitaus gefahrvoller.“
„Ganz zu schweigen davon, dass Piraten oder Orks nicht gerade die schlimmsten Gegner sind, die euch begegnen können“, wirft Karja ein. „Sie sind keine Kriegsvölker.“
„Wie können Orks kein Kriegsvolk sein?“, fragt Arthrax entgeistert.
„Sie sind dumm“, erklärt Karja erbarmungslos. „Sie lassen sich leicht gegeneinander ausspielen. Es gibt keine Treue in ihrem Volk. Die Wissenssammler haben ihren Verstand ihren seltsamen Dämpfen geopfert. Der König der Dunkelelfen hat sein Volk dramatisch dezimiert und sich allein auf die Macht des Steins verlassen. Und Piraten sind ein verräterisches Pack, das sich nie auf einen Feind konzentrieren könnte, weil die Mondsee gleich sechs weitere bietet.“ Sie sieht euch nacheinander fest in die Augen. „Was jetzt vor euch liegt, wird ungemein schwieriger.“
„Wir müssen außerdem lernen, die Schöpfersteine zu verwenden“, fährt Allyster fort. „Aji hat den Ametrin in Panik verwendet, und das hätte nach hinten losgehen können. Nicht auszudenken, was geschieht, wenn jemand das falsche Wort der Macht ruft.“
„Ihr braucht überhaupt keine Worte“, verbessert Karja ihn.
„Magie ohne … Worte?“, fragt Allyster. „Das können nur wahrlich konzentrierte Meister.“
Karja schnaubt. „Bei eurer gestohlenen Magie vielleicht. Die Magier von Kalynor müssen sich einer toten Sprache bedienen, um die natürliche Magie der Welt ihrem Willen zu beugen. Doch hier haben wir es mit Schöpfersteinen zu tun.“
Zu deinem Erstaunen siehst du, wie dein Meister den Kopf senkt. „Erkläre mir die Schöpfersteine, Karja.“
„Sie sind lebendig“, berichtet die Piratin euch. „Wer immer sie besitzt, kann ihnen befehlen, aber ihr Herz öffnen sie nur wenigen Lebewesen. Sie entscheiden, die Steine. Die Magie, die in ihnen lebt, können sie zugunsten eines Anderen einsetzen. Ihr braucht ihnen nur zu sagen, was sie für euch tun sollen, und dieses Wissen können sie auch aus euren Gedanken ziehen, solange ihr sie tragt.“ Die Piratin hält inne. „Aber seid unbedingt vorsichtig. Ihr Zauber birgt ein magisches Gift, das euch die Stärke raubt. Nutzt ihr sie zu oft oder verlangt zu mächtige Zauber, kann euch das töten.“
„Wie in der normalen Magie“, murmelt Allyster. „Wie groß darf der Zauber sein? Wie viele kann man nutzen?“
„Das hängt von der Stärke des Trägers ab“, antwortet Karja ausweichend.
„Und fühlt man es, wenn man seine Kraft verbraucht? Was sind die Anzeichen?“
„Ich weiß es nicht!“, fährt die Piratin auf. Sie atmet tief durch, um sich zu beruhigen. „Ich weiß es nicht, Herr Allyster. Ich kenne nur die Sagen.“
„Man fühlt es“, sagst du. Alle Blicke richten sich auf dich. Etwas scheu fährst du fort: „Es ist ein Gefühl, als würde man in kühlem Wasser baden. Ein Kribbeln, das den Körper nach und nach erfasst.“ Du zögerst, unsicher, ob deine Gefährten dich verstehen. „Wenn es den ganzen Körper umfängt, ist es wie eine große Müdigkeit. Als würde man sich nie wieder bewegen können. Aber die Kraft regeneriert sich nach einiger Zeit.“
„Und du wurdest nicht ohnmächtig, obwohl du eine ganze Stadt voller Toten beschworen hast“, wirft Allyster ein.
„Nein, die Macht der Steine zieht immer weitere Stärke ab, bis nichts mehr übrig ist.“ Karjas Stimme durchbricht euer müdes Schweigen düster. „Es gibt keine Rettung in einer Ohnmacht.“
Einen Moment ist es still, dann räuspert sich dein Mentor vorsichtig. „Nun, in diesem Fall seid einfach ausgesprochen vorsichtig.“
„Das sind wir doch immer!“, behauptet Brenna mit einem breiten Grinsen. Allyster klappt den Mund auf, um zweifelsohne eine Unzahl an Gelegenheiten aufzuzählen, zu denen insbesondere Brenna das Gegenteil bewiesen hat, da geht die Tür auf.
Erschreckt dreht ihr euch um. Niemand sollte hier herein kommen!
Doch es ist nur der Wirt, der sechs Krüge mit Bier mitbringt. Ein breites Grinsen kriecht auf dein Gesicht und du streckst die Hände nach einem davon aus.
„Nichts da! Du bist viel zu jung.“ Arthrax schnappt dir den Krug weg.
„Hey!“, protestierst du.
Elred schiebt seinen Krug ebenfalls zu Arthrax. „Ich hatte genug.“
Allyster starrt auf sein Getränk und stellt es vor Brenna ab.
„Immer schön teilen!“ Karja beugt sich vor und schnappt sich einen von Arthrax‘ drei Krügen.
Der Wirt steht daneben und beobachtet euren Austausch wenig begeistert. Als alle Krüge an ihrem Platz stehen, klemmt er sich das Tablett unter den Arm und deutet eine Verbeugung an. „Ich gehe dann wieder nach unten. Noch eine angenehme Nacht.“
Während der dickliche Mann zur Tür watschelt, musst du unvermittelt gähnen. Dass es bereits so spät ist, war dir nicht aufgefallen. Als der Wirt durch die Tür geht und sie hinter sich ins Schloss zieht, dringt kurz leises Stimmengewirr aus dem Schankraum herauf.
Arthrax probiert einen Schluck Bier und verzieht das Gesicht. „Pisswarm. Was für eine Scheiße. Erst braucht er ewig und dann das!“
„Der Mann hat da unten genug zu tun“, weist Allyster ihn zurecht. „Und ihr solltet euch sowieso zurückhalten. Karja … kannst du uns etwas mehr über unsere nächsten beiden Ziele erzählen?“
„Das waren … das Steinrund und Galabad?“ Karja sieht müde auf die Karte und Allyster nickt.
„Viel unterschiedlicher als diese beiden Länder kann es kaum werden“, beginnt die Piratin. „Das Steinrund liegt in einigen kalten, trostlosen Hügeln. Und Galabad ist das heißeste Reich unserer Welt, eine trockene Sandwüste.“
„Was für Gefahren erwarten uns?“, fragt Allyster.
„Im Steinrund müsst ihr euch vor allem vor den Druiden in Acht nehmen. Fremde opfern sie ihren Göttern. Unsichtbarkeit ist dort vermutlich eure größte Chance. Denn sie beherrschen eine Magie, die durch Blicke aktiviert wird. Es gibt verbotene Teiche und geheime Schätze. Wer einen Blick darauf wirft, ist gekennzeichnet und wird von ihnen gejagt und getötet. Manche ihrer Zauberer können mit einem einzigen Blick töten – sofern sie euch sehen.“
„Charmant“, kommentiert Arthrax und rülpst. „Und wie genau mache ich uns da unsichtbar?“
„Zieh den Stein über“, weist Karja ihn an. „Und bitte den Stein, dich vor uns zu verbergen.“
Arthrax streift sich die Kette des Ammonits über und schließt die Augen. Dann … verblasst seine Gestalt plötzlich!
Du schnappst nach Luft. „Arthrax wird durchsichtig!“
Allyster reagiert weniger überrascht und runzelt die Stirn. „Wieso ist das so langsam? In einer gefährlichen Situation …“
Der Magier wird unterbrochen, als Arthrax sich aufkeuchend den Stein vom Hals reißt. „K-kalt!“
„Keine Panik, du großer Krieger“, spottet Allyster. „Ein wenig länger wirst du die Macht schon aushalten.“
„Ich weiß nicht, woran es liegt“, sagt Karja leise. „Vielleicht merkt der Stein auch, dass wir nicht in irgendeiner Gefahr sind, sondern nur seine Fähigkeiten austesten.“
„Und da entscheidet er, einfach mal weniger gut zu funktionieren?“, fragt Allyster entgeistert.
„Sie haben Charakter und Seele.“ Karja zuckt mit den Schultern. „Ob sie ihre Macht verschenken, bleibt ihre Entscheidung.“
„Dann könnten sie uns im Moment der größten Gefahr im Stich lassen?!“, entfährt es Allyster.
Karja weicht seinem Blick aus. „Möglich …“
Dein Meister atmet mehrmals tief durch, um sich zu beruhigen. „Gut. Also gut. Galabad. Was kannst du uns darüber sagen?“
„Bei allem Respekt, ich denke, das werde ich Brenna und Elred erzählen, während wir dorthin reisen“, lehnt Karja ab. „Heute ist es schon spät und ihr müsst über das Graumeer Bescheid wissen: Es ist ganz anders als die Mondsee. Eure größte Gefahr geht dort von den Kreaturen des Wassers aus. Das Graumeer ist die Heimat von Sirenen und anderem Teufelszeug, die aus der Mondsee schon lange vertrieben wurden. Ein weiterer Grund, warum ich nicht mit dorthin gehen sollte – nun, da die Piraten ihren Schöpferstein verloren haben, hindert kein Bündnis die Graumeer-Kreaturen daran, einen von uns zu töten, und sie hassen uns seit Jahrhunderten.“
Allyster nickt nachdenklich. Er hört Karja konzentriert zu, aber du merkst, dass dir die Augen zufallen. Arthrax und Brenna arbeiten sich durch ihre Bierkrüge und auch Karja unterbricht ihre Rede für einen Schluck. Elred versteckt ein Gähnen hinter der Hand.
„Seid auf magische Gesänge und übernatürliche Stürme vorbereitet“, beendet Karja ihren Bericht. „Dann werdet ihr das Graumeer überleben können.“ Sie leert ihren Krug.
„Gut, ab ins Bett“, entscheidet Elred und springt auf, bevor Allyster ihn aufhalten kann. „Ich denke, wir sind jetzt so gut vorbereitet, wie es von hier aus möglich ist.“
Der Zauberer versucht, etwas zu sagen, doch in diesem Moment folgen Arthrax, Brenna und Karja Elreds Beispiel und eilen zur Tür.
„Schon gut!“, knurrt Allyster. „Gute Nacht!“
Und so bist du dir am nächsten Tag sicher, dass ihr die Reise in die Jenseitslande antreten werdet. Ob ihr diesen Dienst für Kalynor erledigen werdet? Was für eine Frage!
Du antwortest mit fester Stimme:
- „Wir werden es schon schaffen.“ Lies weiter bei Kapitel 2.