Du bist Arthrax Sundergeer.
Du öffnest blinzelnd die Augen. Sofort stöhnst du auf. Dein Kopf fühlt sich an, als hätte ihn jemand mit einem Schmiedehammer bearbeitet. Die grellen Strahlen der Morgensonne, die in deine Augen stechen, machen alles noch schlimmer.
Du wälzt dich auf der dünnen Strohmatratze zur Seite und willst die Decke über den Kopf ziehen, doch das Licht dringt durch die Löcher darin. Außerdem überkommt dich eine Welle von Übelkeit. Du schaffst es gerade noch, dich zur anderen Seite zu drehen, bevor du dich auf den Holzfußboden erbrichst.
„Guten Morgen“, stöhnt jemand von der anderen Seite des Raumes. Langsam gewöhnen sich deine Augen an die Helligkeit und du erkennst deine Schwester Brenna, die sich eben aus dem Bett quält. Sie sieht so aus, wie du dich fühlst.
„Scheiße“, brummst du und fasst dir an den Schädel. „Was für ein Kater!“
Du kannst dich aufsetzen, ohne erneut kotzen zu müssen. Dein Schädel pocht. War da nicht irgendwas – etwas wichtiges? Heute?
„Wo sin'n die Ander'n?“, fragt Brenna benommen. Jetzt fällt es dir auch auf: Die anderen beiden Betten im Raum sind leer. Allyster, Aji und der Elf sind schon aufgestanden!
Gemeinsam taumelt ihr in den verlassenen Schankraum und dann auf die Straße. Brenna lehnt sich schwer auf deine Schulter. Du versuchst, in dem blendenden Licht der Morgensonne etwas zu erkennen.
„Da seid ihr ja, Murmeltiere“, erklingt eine vertraute und gleichwohl verhasste Stimme. Du blinzelst und erkennst die helle, längliche Gestalt vor dir. Du musst ein weiteres Stöhnen unterdrücken. Wenn man mit Kater aufwacht, dann gibt es nichts schlimmeres, als sich kurz darauf Elred Aramys Nuvian gegenüber zu sehen. Wenigstens hast du den Elf gefunden.
„Wo seid ihr denn hin, so früh?“, fragt nun auch Brenna und versucht, ohne deine Hilfe zu stehen. Es gelingt ihr nicht.
„Habt ihr es etwa schon vergessen? Ihr steht jetzt im Dienst der Krone“, sagt der Elf spöttisch.
Du reibst dir die Stirn. „Das war kein Traum?“
„Nein“, sagt jemand mit tiefem Bass. Allyster ist zu euch getreten. Der Magier befestigt soeben einen kleinen, goldenen Gegenstand an seinen blauen Roben. „Das war kein Traum, sondern eine ausgewachsene Schnappsidee.“
Langsam erinnerst du dich. An die Taverne, an den Fremden im Kapuzenmantel, der die Insignien der königlichen Familie um den Hals trug. Und du erinnerst dich an die Mission.
„Die Jenseitslande?“, stöhnst du gequält.
„Oh“, sagt Brenna tonlos, die sich wohl ebenfalls erinnert. „Scheiße!“
„Immerhin kriegen wir gute Pferde“, sagt Elred, der immer noch spöttisch klingt, „und diese kleinen Marken hier - sind eure!“
Er drückt dir eine kleine, goldene Anstecknadel in die Hand. Angestrengt schielst du darauf. Die Nadel hat die Form einer kleinen Krone. Du beißt versuchsweise drauf.
„Kein echtes Gold.“
„Blattgold auf Eisen“, bestätigt Allyster, nimmt dir die Nadel aus den Fingern, die sich wie fünf Schweinewürste anfühlen, und befestigt die Gemme über deinem Herzen. „Aber nichtsdestotrotz das Zeichen, das wir nur der Königsfamilie selbst unterstellt sind.“
Dir ist noch immer etwas schwindelig. Ist das wirklich wahr? Hast du tatsächlich zugestimmt, dich in die Jenseitslande zu begeben, auf der Suche nach den geheimnisvollen und äußerst gefährlichen Schöpfersteinen? Die Geschichte kommt dir immer noch wie ein böser Traum vor. Vielleicht, wenn du dich wieder ins Bett legst und ein paar Stunden schläfst …
In diesem Moment hüpft freudig quietschend Aji zu euch herüber. Der kleine Junge grinst über das ganze Gesicht: „Hauptmann Falur sagt, wir dürfen uns vier Pferde aussuchen! Nehmen wir den Weißen, Allyster, bitte?“
Der Junge hängt sich an die Robe des Magiers. Allyster streicht dem Kind über den Kopf, versucht dabei, seine grimmige Miene beizubehalten. „Mal sehen.“
„Komm schon!“, bettelt Aji und zerrt an dem blauen Gewand. Allyster folgt mit langsamen Schritten und ihr anderen habt keine Wahl, als ebenfalls zu folgen. Du reibst dir die vom Schlaf verquollenen Augen.
Im Stall erwartet euch ein hochgewachsener Mann in Uniform. Die dunkle Haut und die schwarzen Locken weisen ihn als Sonnländer aus – es kann sich nur um Hauptmann Falur handeln. Während der Hauptmann euch kritisch mustert, fummelst du deinen Kronenstecker zurecht.
„Ihr seid Arthrax?“, fragt dich der Hauptmann. Du nickst und überlegst, ob du ihm vielleicht die Hand schütteln solltest oder es eine andere Etikette gibt. Zum Glück redet der Hauptmann gleich weiter. „Eure Männer wollten partout nicht ohne Euch entscheiden.“
Du bist gerührt. Bringst aber immer noch keinen Ton heraus. Hauptmann Falur hebt ob deiner Schweigsamkeit eine Augenbraue und winkt euch dann, ihm zu folgen.
„Ich habe Anweisung, euch vier kräftige Pferde zu überlassen – der Knabe reitet ja wohl nicht alleine? – Packtiere nicht mitgezählt. Wasser, Lebensmittel und weitere Vorräte sind bereits abgezählt. Sucht euch Tiere aus, danach besprechen wir euer Vorgehen.“
Der Hauptmann kommt dir überheblich vor. Du bemühst dich, deinen Unmut zu verbergen, während du dem hochgewachsenen Wächter in den Stall folgst. Dort wenden euch mehrere Pferde die Köpfe zu, andere kauen lautstark auf ihrem Hafer. Der Geruch nach Staub, Tier und Heu ist überwältigend. Aji beginnt, heftig zu niesen.
Hauptmann Falur deutet mit einer einladenden – allerdings auch ungeduldigen – Geste auf die Pferde.
Du überlässt dem Elf die Auswahl und nickst nur ab und zu fachmännisch, als würdest du irgendwas von dem Gemurmel des Spitzohrs verstehen.
Allyster wählt einen reinrassigen Schimmel, sehr zur Freude von Aji. Brenna erhält einen braunen Tinker, du einen kräftigen, braunen Rappen mit blonder Mähne. Elred nimmt ein schönes, sandfarbenes Vollblut mit dunkler Mähne. Es ist Hauptmann Falur anzusehen, dass er die Tiere nur ungern aus der Hand gibt. Er händigt euch ein Maultier und einen kleinen, wolligen Esel als Packtiere aus und betont mehrfach, dass die Tiere guter Pflege bedürfen.
„Ich kenne mich mit Pferden aus“, entgegnet der Elf schließlich spitz, worauf Hauptmann Falur schweigt.
°°°
Die Pferde stehen im Hof der Herberge, bereits gesattelt und gezäumt. Ihr habt euch zu einer letzten Besprechung im Gastraum zusammengefunden. In der Zwischenzeit ist dein Kater ein wenig abgeklungen. Immer noch müde siehst du zu, wie Hauptmann Falur einen Tisch frei räumt und darauf eine große Landkarte aufrollt. Daneben verteilt er einige Dokumente.
„Hier ist die Grenze“, erklärt der Hauptmann, zu Recht davon ausgehend, dass du nicht lesen kannst. „Das ist der Schattenwald, wo die Dunkelelfen leben. Wir wissen mit Sicherheit, dass sich einer der Schöpfersteine in ihrem Besitz befindet. Hier, in den Bergen, im Reich der Orks, wird ein zweiter Stein verborgen. Und natürlich hier, im Drachental.“
Du beugst dich neugierig über die Karte. Zwar hast du dich bereits ein paar Mal in die Jenseitslande gewagt, trotzdem sind sie dir immer wie eine einzige, große, gefährliche Landschaft erschienen. Die Karte mit ihren vielen Landesgrenzen gibt dir einen Ausblick darauf, wie viele verschiedene Kulturen es dort gibt. Kalynor liegt in der Mitte wie ein Rad, von dem wie Speichen die Grenzen der Jenseitsländer abgehen.
„Ist das eine Stadt?“, fragst du und zeigst auf die Zeichnung einer Burg.
„In der Tat“, sagt Hauptmann Falur säuerlich. Er bedenkt dich mit einem Blick, der eindeutig seine Zweifel daran zum Ausdruck bringst, dass ihr Kalynor retten könnt. „Das ist die Hauptstadt der Unterlinge.“
„Toll“, sagst du und fragst lieber nicht weiter nach.
„Der Plan besagt, dass ihr in zwei Gruppen loszieht“, erklärt Falur dann und stellt zwei Gläser auf die Karte, um besagte Gruppen zu verdeutlichen. Er schiebt ein Glas nach unten – Süden – und das andere zur Seite. „Von hier aus dauert es eine Woche bis zum Reich der Dunkelelfen, zwei bis zum Orkland. Sobald einer der Schöpfersteine zerstört wurde – oder gestohlen, was nötigenfalls ebenfalls eurem Auftrag entspricht – werden die Jenseitswesen ihre Wachen verstärken. Es ist also von Vorteil, wenn ihr an zwei Orten gleichzeitig zuschlagen könnt.“
Du kaust unzufrieden auf deiner Unterlippe. „Gefällt mir nicht.“
„Mir auch nicht“, sagt der Elf. „Wir wären nur zwei oder drei Personen – gegen ein ganzes Königreich?“
„Ihr sollt keine Armee spielen, ihr sollt heimlich vorgehen“, erklärt Hauptmann Falur mit spöttischem Unterton. „In kleinen Gruppen seid ihr weniger auffällig. Außerdem – wie gesagt, Zeit ist ein wichtiger Faktor.“
„Ich denke, er hat Recht“, sagt ausgerechnet Brenna. Du wirfst deiner Schwester einen Blick zu – sie hört auch noch auf diesen aufgeblasenen Soldaten?!
„Was wissen wir sonst noch?“, mischt sich Allyster ein – die Entscheidung scheint über deinen Kopf hinweg gefallen zu sein.
„Wir wissen“, sagt Falur und betont das ‚Wir‘ recht widerwillig, „dass sich an der Grenze immer häufiger Wachtrupps, Späher und ähnliches zeigen. Kaum einer unserer Spione ist von jenseits der Grenze zurückgekehrt. Es herrscht Unruhe in den Jenseitslanden.“
„Das sind ja wundervolle Aussichten“, kannst du dir nicht verkneifen zu sagen. Falur schenkt dir einen finsteren Blick und reicht dir demonstrativ den Geldbeutel.
Du fühlst die Schwere des Goldes in deiner Hand. Wenn du das hier überlebst, bist du ein gemachter Mann. Schon die Anzahlung könnte reichen, um sich zur Ruhe zu setzen – wenn du das Gold nicht mit den anderen teilen müsstest. Der Geldbetrag ist klug kalkuliert.
Mit einem leisen Seufzen nickst du und steckst das Geld ein.
„Gute Reise“, wünscht euch Falur ohne rechte Überzeugung. Auf diese Weise beendet er euer Gespräch abrupt.
„Könnte ich vielleicht die Karte behalten? Wenn es eine Abschrift ist“, bittet Allyster. Huldvoll rollt Falur die Karte zusammen und reicht sie dem Magier.
Ihr verlasst die Herberge und tretet in einen grauen, verregneten Vormittag.
Die Tropfen sind kühl auf deiner Haut, dank dem Kater schwitzt du nämlich immer noch wie ein Schwein. Mürrisch schwingst du dich in den Sattel deines braunen Kaltbluts. Das Tier wirfst schnaubend den Kopf hoch.
„Also gut. Ich will trotzdem nicht, dass wir uns aufteilen“, verkündest du, da Hauptmann Falur nicht mehr in Hörweite ist. „Scheißen wir auf den Plan.“
„Ich denke, dass das ein guter Plan ist“, wendet Brenna ein. Deine Schwester scheint sich daran gewöhnt zu haben, dir in den Rücken zu fallen.
„Ich denke auch, dass ich persönlich vielleicht besser nicht zu den Dunkelelfen gehen sollte“, sagt Elred.
„Wieso?“, brummst du. „Sind doch sozusagen Cousins von dir.“
„Eben nicht“, sagt der Elf scharf. „Sie liegen mit meinem Volk in Blutfeindschaft! Das habe ich schon tausendmal gesagt.“
Du schüttelst den Kopf. Versteh einer die Elfen!
„Ich dagegen würde äußerst gerne in den Dunkelwald“, meldet sich Allyster. „Allein das Reichtum magischer Pflanzen!“
„Wir haben eine Mission“, ruft Brenna ihm in Erinnerung. „Ich bleibe bei dir und dem Jungen, schon allein, um aufzupassen, dass ihr nicht vom Weg abkommt. Arthy, du gehst mit Elred zu den Orks.“
„Was?“, fragst du überrascht. Du hast nicht damit gerechnet, dich von deiner Schwester trennen zu müssen. Und noch dazu sollst du mit dem Elf losziehen? „Auf keinen Fall!“
„Wieso? Das ist der beste Plan.“ Brennas Augen blitzen herausfordernd.
Du ballst die Hände zu Fäusten. „Und ich sage, wir bleiben zusammen. Ich kann doch nicht ein Weib, ein Kind und einen Greis alleine ziehen lassen.“
Das zu sagen war ein Fehler: Brennas Blick wird schlagartig finster. Allyster guckt zornig und Aji schnappt nach Luft. „Ich bin kein Kind mehr!“
„Gut, dann ist ja alles entschieden!“, schnaubt Brenna und springt auf ihren Tinker. „Wir nehmen das Maultier mit. Elred, du kriegst die beiden Esel.“
Sie wendet ihr Pferd mit einem scharfen Ruck am Zügel. Du erwiderst den finsteren Blick, den sie dir zuwirft, während Elred den Führstrick eures Esels aufnimmt.
Verabschiede dich von Brenna:
- „Tu doch, was du nicht lassen kannst!“ Lies weiter in: „Schatten im Reich der Dunkelelfen“, Kapitel 1
[https://belletristica.com/de/books/20827/chapter/21182]
- „Hör mal, Brenna … es tut mir leid.“ Lies weiter in: „Schatten im Reich der Dunkelelfen“, Kapitel 2
[https://belletristica.com/de/books/20827/chapter/21183]
- Optional: Schwarz und still erhebt sich der Tannenwald Ewyân mitten im sauren Sumpfland. Lies zuvor „Schatten im Reich der Dunkelelfen“, Prolog