"Ooooh!" Der Mund blieb Manodriil vor Überraschung offen stehen, als er die scheinbare Ebene unter dem Gipfel bis zum Horizont schaute, an dem sich gerade ein tiefroter Sonnenball hinter lichtem Nebel gen Erde senkte. Wüsste er es nicht besser, hätte er die Gebirgsketten mit all den Schluchten aus dieser Perspektive für flaches Gelände gehalten. Wie gut, dass auch der schwierigste Aufstieg irgendwann geschafft ist, dachte er und lehnte sich an seinen schuppigen Freund. Gemeinsam genossen sie das Naturschauspiel, das sich in dieser besonderen Pracht nur für sie entfaltete.
Großzügigkeit und Verschwendung gehören zur Natur dazu - ebenso wie die gnadenlose Kälte, der sie auf dem Weg zum vermutlich höchsten Gipfel dieses wundervollen Landes ausgesetzt waren. Mit jedem Atemzug spürte der Junge, wie wenig Sauerstoff in dieser Höhe in der Luft enthalten war. Dem Drachen schien das nichts auszumachen. Kein Wunder, dachte Manodriil, schließlich war er durchs Fliegen ja große Höhen gewohnt. Warum sind wir eigentlich nicht hier gelandet? Wir hätten uns die ganzen Strapazen des Aufstiegs doch schenken können!"
Empörtes Schnauben blieb die einzige Antwort.
Erst als die Sonne vollständig hinter dem fernen Horizont verschwunden war, bog der Drache seinen langen Hals zu dem Jungen, der sich unter dem prüfenden Blick unwohl zu fühlen begann. "War die Frage denn so dumm? Muss ich wissen, warum?" Der Atem des Tierwesens kitzelte ihn im Gesicht. Er lachte.
Nach und nach verwandelten die Sterne das Himmelszelt in ein atemberaubendes Schauspiel, das sie gemeinsam genossen, bis es am Horizont wieder hell wurde. Manodriil hatte es aufgegeben, auf eine Antwort zu hoffen. Vermutlich war es eins der Rätsel des Lebens - man erfühlte ihren Sinn oder musste sich mit Erklärungen behelfen. Also warum nicht einfach hinnehmen und staunen?
Vor der Silhouette der roten Sonne erhob sich ein majestätisches Schloss mit schlanken Türmen, verwinkelten Anbauten und unzähligen Fenstern. So fern, so fern! Erreichbar nur über eine Straße, die sich wie ein Fluss in weit ausladenden Schleifen vom höchsten Gipfel zum Fuße des Schlosses wand. 'Nur wer den Weg nicht scheut, kann eintreten.' Die Stimme hallte in Manodriils Kopf und erzeugte ein Echo. Etwas seltsam Vertrautes schwang darin. Eine Frage, aus der die Antwort sich selbst erheben konnte. Endlos erschien der Weg, sein Beginn ebenso außerhalb seiner Sicht wie sein Ziel. Warum nicht fliegen, wenn man einen treuen Begleiter mit starken Flügeln an der Seite hat? Warum all den Windungen folgen, wenn es doch auch leichter geht. Mit dem Ziel klar und gerade voraus.
Erstaunt rieb sich der Junge die Augen, als er aufwachte. Er konnte sich nicht daran erinnern, eingeschlafen zu sein, und doch stand die Sonne schon fast im Zenit. Von Schloss und dem Weg dorthin war nichts zu sehen. Nur ein breiter Fluss wand sich unter ihnen durch die Landschaft. "Wollen wir los?" Erwartungsvoll schaute Manodrill zu seinem Freund auf, doch der zwinkerte nicht einmal mit einer Wimper. Statt einer Antwort blies er eine Rauchwolke in die Luft, die in Kringeln aufstieg und sich verflüchtigte. Hätte er sich an die alten Traditionen seines Volkes erinnert, hätte er die Botschaft vielleicht verstanden. So hielt er sie nur für eine vage Vertröstung auf später. Zum ersten Mal benötigte der Drache mehr Schlaf als er selbst. Na gut, dachte er, und machte sich auf eine Erkundung der näheren Umgebung des Gipfels.