Mitten im dunkelsten Schlaf schreckten Stimmen den jungen Mann hoch. Ein Licht blendete ihn, doch seltsamer Weise fürchtete er sich nicht. Er hielt sich einen Arm schützend vor die Augen und senkte den Blick. Vielleicht könnte er indirekt etwas erkennen? Ein Lachen erklang. "Manodriil, ich bin's. Du kannst mich nicht sehen, aber das bedeutet nicht, dass ich nicht da bin. Du weißt nicht, wie du zu mir kommen kannst. Aber das bedeutet nicht, dass du mich nicht findest. Du hast keine Ahnung, wo du bist, aber das heißt nicht, dass du nicht weiter kommst." Das Licht wurde schwächer. "Halt, warte, komm zu mir! Ich habe noch so viele Fragen!"
Ruckartig setzte sich sein Körper auf. Es dauerte einen Moment, bis Manodriil begriff, dass er geträumt hatte und wo er war: Irgendwo, wo der Drache ihn hingebracht hatte. Der Drache! Er tastete neben sich, denn hier im Wald war es noch dunkel. Noch? Oder schon? Während die Erinnerung langsam zurück kam, begriff er, dass das Wesen nicht mehr bei ihm war. Sofort bekam er wieder einen Anfall von Panik. Es war so tröstlich, ein lebendiges Wesen bei sich zu haben. Mit ihm fühlte er sich nicht mehr so allein. Und wie sollte er alleine aus dem Wald heraus finden?
Rascheln und Gurgeln drangen an sein Ohr. Ergeben atmete er durch und lauschte mit seinem ganzen Körper. Was für Kreaturen mochte es hier geben? Was für einen Wahnsinn habe ich mir nur eingebrockt, haderte er mit sich selbst. Doch noch während trübe Gedanken seinen Verstand einwickelten, erinnerte er sich an ihre Stimme. Nur ein Traum!? Aber ihre Stimme! Ein warmer Glockenton. Wie Mutter Erde klang sie und doch so jung. Ihm war, als habe er nie etwas Schöneres gehört. Geborgenheit. Das war es, was sie in ihm auslöste. Ein warmes Gefühl breitete sich in ihm aus. Für einen Moment war seine Einsamkeit vergessen.
Die Schatten um ihn lichteten sich, als ein neuer Tag herauf kroch und die Silhouetten der Bäume freigaben, die er von den Schlingpflanzen befreit hatte. Täuschte er sich, oder leuchteten ihre Blätter wirklich stärker als zuvor?
Sein Drachenfreund blieb verschwunden, als er sich daran machte, von den nächsten Bäumen Schlingpflanzen zu entfernen.
Die Sonne stieg immer höher, und obwohl er unter dem Blätterdach einen gewissen Schutz vor der Hitze hatte, lehnte er sich nach einigen Stunden an die Wurzeln eines Baumriesen. Er strich über das Moos bewachsene, raugeriffelte Holz, das ein wenig kühlte. Sein Magen knurrte, doch er hatte keine Vorräte und die Pflanzen, die er sehen konnte, kannte er nicht. Wie sollte er überleben, ohne Wasser, ohne Mahlzeit? Er schaute den Stamm entlang nach oben. Dicke Äste versperrten die Sicht auf die Krone. Nichts zu sehen, was einer Frucht ähnlich wäre. Vielleicht sollte ich auf gut Glück ein wenig Moos probieren? Er schaute es genauer an, konnte sich aber nicht dazu entschließen. Bevor ich umfalle, kann ich auch ein wenig schlafen, dachte er und rollte sich zusammen. Aus den Augenwinkeln bemerkte er einen Schatten, der sich schnell hinter einem Baum versteckte. Was war das? Er wollte aufstehen, es untersuchen, oder wenigstens wach bleiben, doch nun sog ihn eine unwiderstehliche Kraft in einen tiefen Schlaf.
Er wurde von einem Strudel in eine Dunkelheit gesogen, die schwärzer als schwarz nichts zu enthalten schien. Als würde ein Stern von einem schwarzen Loch verschluckt. Ein Fallen, Fallen, Fallen. Dann hörte es auf. Doch er war nirgends gelandet, schwebte einfach weiter in der Dunkelheit. Angst schüttelte seinen Körper durch, bis er sich nicht mehr gegen die Vibration wehrte. Nun begannen sich Schemen aus dem Schwarz zu schälen. Etwas längst Vergessenes tauchte darin auf. Er wusste, dass er es kannte, aber noch konnte er sich nicht erinnern. Während er es zu erfassen versuchte, registrierte er auf, dass seine Angst nachgelassen hatte. Er spürte, wie nun Trauer in ihm auftauchte. Er wusste nicht, warum, aber vielleicht war es auch nicht wichtig. Er musste nur zulassen, dass die Weinkrämpfe durch seinen Körper durchliefen. Sein Solarplexus spannte sich an und sein Gesicht verzerrte sich. Würde er es nie hinter sich lassen? Selbstzweifel klebten sich an ihn wie Schlingpflanzen und würgten ihn. Er wollte sie ergreifen und abreißen, wie er die Bäume befreit hatte. Doch sie griffen nur fester zu. Eine Weile später gab er den Kampf auf und ließ es geschehen, dass sie in sein Gehirn eindrangen. Dort bildeten sie Sätze, gesprochen von Stimmen, die er kannte. Sätze wie 'du wirst es nie schaffen', 'du kannst das nicht', 'lass das lieber andere machen'. Hatte jemand zu ihm so gesprochen? Oder waren sie lange vor seiner Geburt übergeben worden, kamen aus einer Zeit, die er nie gekannt hatte? Er konnte es nicht genau sagen. Aber er hatte das sichere Gefühl, dass keine der Botschaften mit ihm oder seinem Tun zusammen hingen. Während er lauschte, bemerkte er, dass der Druck auf seinen Körper nachließ. Es war auch nicht mehr so dunkel, doch noch immer konnte er sich nicht erinnern. Jemand stieß ihn energisch an. Erschrocken fuhr er hoch ...
Manodriil schaute in ein grünes Augenpaar, das ihn vorwurfsvoll anblickte. Das letzte Mal waren sie noch kleiner gewesen als er. Doch nun musste er wieder zu dem Drachen aufblicken. Er streckte eine Hand aus, um seinen Freund zu streicheln. Der blies ihm ein Rauchwölkchen ins Gesicht. Manodriil grinste. "Bin ich froh, dass du da bist." Er schaute sich um und sah, dass die Schlingpflanzen, die er heute zusammen getragen hatte, schon brannten. "He, danke schön. Sag mal, kannst du vielleicht auch was zu essen für mich finden? Ich hab einen Mordshunger."
Bei dem Wort "Mord" zuckte der Drache zusammen und wurde auf einen Schlag etwas kleiner.
"Huch! Du kannst deine Größe so plötzlich verändern?" Er stand auf und betrachtete seinen Gefährten. "Vielleicht kannst du auch sehr schnell wieder größer werden? Dann wäre es ja kein Problem, hier wegzukommen!"
Der Drache wich zurück. Er schnaubte.
Für Manodriil war es, als hätte er gesprochen. Trotzdem vergewisserte er sich: "Du meinst, wir sollen hier bleiben? Die Bäume befreien?"
Der Drache legte seinen Kopf auf den des jungen Mannes, der ihn sofort streichelte und seufzte. "Gut, wenn du meinst. Du scheinst ja hier der zu sein, der sich besser auskennt." Er spürte seinen Magen knurren. "Aber etwas zu essen wäre mir schon recht."
Der Drache schüttelte den Kopf und stapfte davon. Was sollte er mit einem Jungen machen, der ihn nicht erkannte?