Es war dunkel. Nebelschwaden hingen über dem Moor. Nur ein winziges Licht war zu erahnen. Ein Licht von einer Laterne. Warm lockte sein Schein in dieser Welt, die nur aus Düsternis zu bestehen schien. Wie eine Fata Morgana, eine Erscheinung, der nicht zu trauen ist, mutete es an, während es mal mehr, mal weniger sichtbar wurde, je nachdem, wie viele Wolken gerade vorüberzogen.
Manodriils Gesicht erschien im Lichtkegel. Seine rundliche Knubbelnase und die roten Wangen, dunkle Haarspitzen lugten unter der Wollmütze hervor. Schwer zu deuten sein Gesichtsausdruck. Doch glücklich war er jedenfalls nicht. Er stocherte mit einem kurzen Ast auf der Erde herum, in dem Versuch, die nassen Blätter, ein paar Schafsködel und einen dickeren Ast zu überreden, sich anzünden zu lassen. „Na, kommt schon, mir ist kalt“, murmelte er. Er sehnte sich nach Wärme, einem trockenen Platz, wo er sein Zelt aufbauen und die Karte, die er sorgfältig in einem Beutel unter dem rauhen Kittel verwahrte, studieren könnte. Doch auf derlei Luxus hatte er schon lange verzichten müssen. Er konnte sich selbst kaum erinnern. Zeit hatte keine Bedeutung in diesem Land, in dem sich Tag und Nacht ineinander verloren.
Nachdem er es aufgegeben hatte, sich ein Lager zu bauen, wollte er wenigstens ein bisschen Feuer machen, über dem er Wasser kochen und vielleicht ein paar Streifen Manoori-Frucht rösten könnte. Nicht, dass es eilig wäre. Weder Hunger noch Müdigkeit gehorchten in diesem seltsamen Land den normalen Gesetzen. Aber wenigstens wäre es mal eine Abwechslung.
Es ist schon komisch, sinnierte Manodriil, Hunger habe ich keinen und schlafen könnte ich ständig. Dabei ist es hier weiß Gott nicht gemütlich! Apropos Gott, wo steckte der eigentlich? Irgendwo müsste er doch sein, und wenn nicht hier, wo dann, wenn er allgegenwärtig ist, aber warum um alles in der Welt gönnt er mir dann nicht wenigstens ein Feuerchen? Selbst für einen Wutausbruch fehlte dem Jungen die Energie. Er hielt in seinem Tun und Denken inne und schaute auf die Laterne. Dass die noch brannte, grenzte an ein Wunder. Hoffentlich erlischt sie nicht. Der Gedankenstrom trug Manodriil fort von dem trostlosen Fleckchen.
Das Licht war dafür bestimmt, seinem Volk zu leuchten. Er sollte es hoch halten und allen zeigen. Doch stattdessen hatte er sich im Moor der ewigen Finsternis verirrt. Statt Geborgenheit zu schenken, vergeudete er es hier irgendwo im Niemandsland, wo nur Schatten zu existieren schienen. Er schauderte. Eigentlich war er ausgezogen, sein Feuer zu vergrößern. Und nun? Nun, konnte er von Glück sagen, dass es überhaupt noch brannte. Sonst hätte er keine Chance, aus dem Sumpf hinauszukommen. Ob es hier wilde Tiere oder andere Geschöpfe gab? Schließlich schien es die ideale Umgebung für allerlei Märchenwesen und Unterweltler. Einem Schattenwolf zu begegnen oder einer Schlammmolochin wäre nicht gerade das, was er sich erhofft hatte. Doch nun? Kaum konnte er sich erinnern, was Hoffnung bedeutet. Sie war erkaltet, nach der langen Reise. Angst dagegen war sein ständiger Begleiter geworden. Angst vor der Einsamkeit. Angst, für immer alleine zu bleiben. Am stärksten war seine Angst, sein Licht könnte vergeudet werden. Dass darf nicht geschehen! Kaum hatte er sich ein wenig von seiner Angst einfangen lassen, als neue Kraft durch ihn floss und seinen Willen anfachte. Erneut stocherte er in dem armseligen Häufchen aus Fundstücken seiner Wanderung, und dieses Mal flackerte ein Funken auf. „JA!“ Sein Jubelschrei schien völlig außer Verhältnis zum Erfolg zu stehen. Ein spärliches Flämmchen flackerte auf und erlosch sogleich. Doch für Manodriil war es ein Ereignis gewesen in der grenzenlosen Dunkelheit um ihn. „Es zeigt, dass es geht“, sagte er laut und fuhr in seinen Bemühungen fort. Doch wieder vergeblich.
Unvermittelt ließ er den Stock fallen und setzte sich. Aus seiner Jackentasche zog er einen Fruchtstreifen und kaute darauf herum. Er starrte auf das Häuflein, dem er ein Feuer zu entlocken versuchte. Seine Angst hatte er ausgeblendet und auch von seinem Körper nahm er wenig wahr. Dafür hatte ihn sein Gedankenstrom einmal mehr absorbiert.
Eine Hütte in einem Wald tauchte in seiner Erinnerung auf. Dunkel war es, irgendwo in einem Wald, der nackte Boden feucht von dem Nieselregen. Er wusste, wer dort lebte, aber er konnte sich nicht erinnern, wer das war. Ein vages Gefühl von Vertrautheit und gleichzeitig Angst, es zu erfahren. Gefangen zwischen dem Sog zur Hütte und dem Impuls wegzurennen, verweilte er regungslos, mit dem geistigen Auge weiter auf die verschlossenen Fensterläden schauend.
Ob sie zu Hause war? Er zögerte, sich weiter zu nähern. Was, wenn sie es war? Könnte sie ihm helfen? Würde sie es wollen? Da war er nicht so sicher. Er war überhaupt sehr unsicher. Wer sollte einem wie ihm schon glauben? Einem kleinen, völlig unbedeutenden Buben ohne Ansehen, Macht oder irgendwas anderem, das sie beeindrucken würde. Zumindest genug, damit sie zuhörten?
Alles war so einfach, wenn er alleine war! Dann konnte er klar sehen, ohne Zweifel, und er wusste, dass das alles wahr war. Aber kaum kam er mit einem in Berührung, der sich lustig machte oder schlimmer noch, Beweise verlangte – da brach seine ganze Gewissheit zusammen wie ein Lügengebäude. Er konnte nicht standhalten, das war das Problem. Er konnte einfach nicht zu dem stehen, was er wusste, dass es die Wahrheit war. Tief in sich trug er sie, die mehr war als ein Gedankenkonstrukt oder eine weltverbessernde Idee.
Alleine der Gedanke an die Reaktionen der anderen reichte aus, dass er seine Courage verlor. Selbst seine Zweifel beladene, von Unsicherheit durchtränkte Gewissheit versank als habe es sie nie gegeben. Er wandte sich von der Hütte ab. Wenn auch sie ihm nicht glauben würde, wäre es aus.
Und das Aus zu riskieren – das ganze vollkommene, endgültige Aus, das Aus mit einem großen „A“ - das war er nicht bereit. Es würde bedeuten, alle seine Träume, alles wofür er stand, zu opfern und sich einem Leben zu ergeben, das ihm nicht lebenswert erschien.
Zugegeben – sie war seine letzte Hoffnung. Er wusste das. Aber er konnte sich nicht überwinden. Nicht in dieser Nacht. Er hatte nicht angeklopft. Oder?
Genau genommen gab es hier einen Bruch in seiner Erinnerung. Ein Stück undurchdringlichen Morast und Nebel, von dem er nicht sagen konnte, was passiert war. Alles, woran er sich erinnerte, war dieser Blick auf ihre Hütte – und dann war er im Moor.
Wie bin ich hier her gekommen?