Manodriil wachte auf. Noch immer im Moor. Er brauchte sich nicht zu vergewissern, dass seine Lampe noch brannte. Sie warf ein fahlgelbes Leuchten auf sein Gesicht. Du musst stärker werden, flüsterte er und strich über das Gußeisen-Gestell der Laterne. Rauh. Ohne dich bin ich verloren. Er setzte sich auf und angelte einen Fruchtstreifen aus der Jackentasche. Erstaunlich biegsam, dachte er und besah das gelblich-rote Fleisch der Manoori, als sähe er es zum ersten Mal. Wie ein Blitz zuckte eine Erinnerung durch sein Gehirn – Lachen, grüne Wiese mit einem Baum. Kinder spielten unter einem Baum. Sie versuchten, die köstlichen Früchte zu erreichen. Noch waren sie nicht reif, dass wussten sie. Trotzdem hatte es Spaß gemacht. Wenn einer von ihnen erfolgreich war, gab es großen Jubel und alle durften naschen, wenn sie die dicke, grüne Schale mit Aststücken oder scharfkantigen Steinen aufbrachen. Der noch säuerliche Saft verklebte ihnen die Hände. Auch das machte ihnen nichts aus. So eine frische Manoori war eine tolle Trophäe und sie hatten sie geliebt.
Der Junge kam zurück in die modrige Gegenwart. Er biss ein Stück der Frucht ab. Zäh, aber süß. Langsam kaute er. Länger als nötig. Ja, ein wenig brachte ihn der Bissen mit seiner unbeschwerten Kindheit zusammen. Er lächelte. Noch einmal mit den anderen zusammen sein...
Du musst mich hier herausführen, sagte er laut. Das Licht in seiner Laterne flackerte. Vielleicht hatte seine energische Aussprache einen Luftzug verursacht, dachte er. Wieder Flackern. Er lächelte. Vielleicht war es aber auch die Laterne selbst, die ihm antwortete?
Hoffnung. Kribbeln erfüllte seinen Körper mit neuem Mut. Ja, vielleicht gab es eine Möglichkeit, sich von der Laterne führen zu lassen. Warum nicht. Eine andere Orientierung gab es nicht im Sumpf unendlicher Nacht.
Also los, lass mich sehen, sagte er laut und stolperte rückwärts, als ihm zur Antwort wieder die grünen Augen entgegen starrten. Heißer Atem wurde in sein Gesicht geblasen. Oh Gott, lass die Bestie verschwinden. Müßiger Wunsch. Als würde sich ein Untier von einem frommen Gedanken verscheuchen lassen.
Es wurde kalt, als der heiße Atem auf seinem Gesicht kondensierte. Er wischte es mit dem Ärmel trocken und realisierte erst dabei, dass die Augen verschwunden waren. Hinter ihm gluckerte etwas. Langsam drehte er sich in die Richtung, aus der das Geräusch kam – nur um wieder in die Augen zu starren. Der Besitzer oder die Besitzerin blieb unsichtbar, Schemen in der Dunkelheit. Vorsichtig streckte Manodriil eine Hand aus, um das Geschöpf zu berühren. Die Augen wichen zurück.
„He, wer von uns hat hier wohl mehr Angst, was?“ Seine Stimme klang spröde, als habe sie Rost angesetzt. Zeit, dass ich sie wieder nutze, dachte der Junge und wunderte sich über den Gedanken. Er kam ihm seltsam fehlplatziert vor, so Auge in Auge mit einem Unbekannten.
Wieder ein glippschendes Schmatzen. Es kam offenbar aus dem morastigen Untergrund. Die Augen näherten sich. Ihr Besitzer oder ihre Besitzerin – wieso frage ich mich das eigentlich – hatte wohl einen Schritt auf ihn zu gemacht und dabei dieses Schmatzglippschige Platschen verursacht.
Phhhhhhhhhhhhhh! Heißer Atem wurde langsam ausgepustet und nässte wieder sein Gesicht.
He, lass das. Nun wich Manodriil wieder zurück. Unwillkürlich fuhr er sich mit dem Ärmel übers Gesicht, um es zu trocknen.
Schllllllllllüppppppppppft.
Etwas Warmweiches wischte hinterher. Phhhhhhhhhhhh! Schllllllllllllüpfft...
Igitt, lass das. Er schlug mit einer Hand nach dem Unbekannten.
Sofort wich es zurück. Aber nicht lange... Nach Art eines Hundes, eines Ungeheuer-großen Hundes, widmete sich das – der oder die – Manodriil's Gesicht. Er hatte nicht die Hauch einer Chance, sich zu entziehen. Widerwillig gab er auf. Lachend plumpste er auf den Boden und lachte und lachte. Auch eine Art der Kommunikation, dachte es dann in seinem Kopf. Kommunikation? Er hörte auf zu lachen. He, willst du mir was mitteilen, du Grünauge, du?
Der – oder die – beendete die unwillkommene Waschaktion und schaute ihn ruhig an.
Mmh. Der Junge brauchte eine Verdauungspause für sein Gehirn. Er griff in seine Tasche und zog einen Streifen Manoori aus der Jacke.
Schhllippf? Kaum war die Frucht sichtbar, als sich das Wesen mit einem neuen Laut bemerkbar machte.
„Ach, du magst sowas auch?“ Manodriil hielt das getrocknete Fruchtstück hoch, irgendwo vor die grünen Augen. Er spürte, wie daran gezogen wurde. Offenbar wurde sein Angebot akzeptiert. „Lass es dir schmecken. Schätze, hier kriegst du sowas nicht allzu oft vorgesetzt, was?“ Er hörte ein weiteres seltsames Geräusch. Es musste wohl Kauen sein. Und nun? Er merkte, wie er wieder müde wurde. Seine Augen wollten zufallen. Sieh an, dachte es, kaum habe ich eine unbekannte Situation, schon werde ich müde. Auch eine Art, mit Problemen fertig zu werden. Einfach einschlafen und sie dem Zufall der Welt überlassen. Während sich Dunkelheit von oben auf ihn senkte und ihn zu Boden drückte, spürte er noch etwas anderes. Ein Licht, das von rechts oben auf ihn fiel. Es kam nicht von dort außen, dort war es so dunkel wie zuvor. Das wusste Manodriil, ohne die Augen zu öffnen. Nein. Dieses Licht kam aus einer anderen Dimension oder vielleicht aus einer Innenwelt. Während er sich seinen Wahrnehmungen hingab, bemerkte er, wie es in ihm leichter wurde. Die Müdigkeit wich zurück. Na, sowas, wer hätte das gedacht? Er beobachtete ruhig weiter mit geschlossenen Augen. Müdigkeit war da, ließ ihn verweilen, ohne etwas zu tun. Aber sie war eindeutig nicht so sumpfigdicht wie sonst, seit er in diese Gegend geraten war. Außer Müdigkeit und Licht war da noch etwas.
Ein langer gebogener Hals, Schuppen am ganzen Körper, vier säulenartige Beine, jedes größer und massiger als Manodriil. Dazu zwei Arme mit Klauen, ein breiter Schädel. Feuer, das aus den Nüstern qualmt. Ein dünner, quastenartiger Schweif. Grüne Augen. Lass mich leben!
Der Befehl machte dem Jungen Angst. Das ganze Wesen machte ihm Angst. Ein Drache?
Er schlug mit weit ausladenden Schwingen.