Endlich ist der Frühling erwacht. Die Luft riecht nach feuchter, satter Erde, nicht mehr der strengen, sterilen Kälte, die Firun uns sendet. Im Monat Phex erwacht das Land, als hätte der Listige dank Tsas Vorarbeit Firun die Macht über das Wetter entwendet.
Der Gedanke lässt mich schmunzeln, während ich auf meinem gemächlichen Spaziergang durch die Straßen freundlich die sich fröhlich unterhaltenden und lachenden Passanten grüße. Vielleicht sollte man nicht zu viel in die Monatsnamen hineininterpretieren.
Ich erreiche den Vorplatz des Perainetempels. Dort, auf einer kleinen Mauer am Fuß einer großen Kastanie, sitzt wieder dieser Akoluth, einen Fuß auf der Mauer, den anderen auf der Straße, die Arme auf das aufgestellte Knie gelehnt, und schaut entspannt den lärmenden Kindern beim Spielen zu. Das gute, endlich etwas wärmere Wetter hat sie alle vor die Tür gelockt.
Lächelnd trete ich näher – vielleicht ist das eine Gelegenheit, sich in Ruhe zu unterhalten? Er ist jetzt schon fast drei Wochen bei uns, und dennoch weiß ich fast nichts über ihn.
Als ich nur noch wenige Schritte entfernt bin, steht er auf, die Entspannung ist verflogen. So ist das immer. Mein grüßendes Nicken erwidert er ebenso stumm.
“Was für ein schöner Tag heute!”, versuche ich, ein unverbindliches Gespräch anzufangen, und tatsächlich zeigt sich eine freundliche Regung in seinem Gesicht.
“In der Tat! Es ist trocken genug zum Fangen spielen, und das scheint es dem Enthusiasmus nach, der hier vorherrscht, schon lange nicht mehr gewesen zu sein!” Er sieht zu den Kindern hinüber und lächelt.
Ich ergreife die sich bietende Gelegenheit zum Themenwechsel. Vielleicht erfahre ich auf diesem Wege ja mehr. Für eigene Kinder scheint er mir allerdings noch zu jung zu sein. “Woran machst du das fest? Hast du Geschwister?”
Sofort verschließt sich seine Miene wieder. Mein Versuch ist gescheitert, er weicht aus. “Nun, das ist doch offensichtlich, seht doch hin.”
Als Phexgeweihter akzeptiere ich das Prinzip des Lebens im Verborgenen, selbst gegenüber anderen Dienern des Fuchses. Aber dieser junge Mann, der stets für sich bleibt, weckt meine Neugier. Was treibt ihn hierher? Denn dass ihn etwas treibt, nicht zieht, wurde mir schnell klar. Die Gastfreundschaft und die Lektionen, die wir ihm im Tempel gewähren, vergilt er mit Auftragsarbeiten. Ich werde mir etwas anderes einfallen lassen müssen, damit er ausreichend tief in meiner Schuld steht, dass ich die Informationen als Gegenleistung einfordern kann.
Was macht er am Perainetempel? Vielleicht ist das ja ein Ansatzpunkt. Ich werde Kryptild befragen gehen. Ich verabschiede mich mit einem freundlichen Gruß, für einen brüderlichen Handschlag steht er wie immer gerade ein kleines Stück zu weit entfernt, und gehe zum Perainetempel hinüber.
Wenig überraschend finde ich Kryptild im Tempelgarten. Die Aussaat neuer Pflanzen sowie die Pflege der mehrjährigen Gewächse, die nun bald wieder austreiben werden, nimmt sie zu dieser Jahreszeit immer vollständig in Anspruch. Sie kürzt gerade die Äste eines Strauchs, von dem ich weiß, dass er in wenigen Monaten beeindruckende weiß-rosa Blüten tragen wird.
Als sie mich erblickt, erhellt ein breites Lächeln ihr Gesicht: “Rako! Phex zum Gruße! Wie schön, dich zu sehen!” Sie steckt das Messer in die Scheide an ihrem Gürtel und eilt zu mir herüber, um mich zu umarmen.
“Peraine zum Gruße, Kryptild! Wie könnte ich einfach vorbeigehen, wenn ich doch weiß, dass du bei diesem Wetter hier sein musst!”
Uns verbindet eine lange Freundschaft, die auch die Beziehungen zwischen dem Peraine- und dem Phextempel hier in Perainefurten positiv beeinflusst hat. Wir setzen uns auf eine Bank, die unter einem noch nackten Weidenbaum steht, doch bald einen herrlich lauschigen Ort hier im Garten abgeben wird, sobald die Blätter austreiben.
Da ich weiß, dass ich mit dem Stichwort ‘Wetter’ einen Redeschwall ausgelöst habe, der sich für einige Zeit mit den aktuellen Pflanzungen beschäftigen wird, lehne ich mich zurück, lausche aufmerksam und nicke ab und an auffordernd oder zustimmend, je nach Bedarf. Die Details über die Pflanzen interessieren mich wenig, aber die beiläufigen Informationen über die Menschen merke ich mir gut. Man weiß nie, wann man sie gebrauchen kann.
Als sie zum Ende kommt und sich nach Neuigkeiten von mir erkundigt, erzähle ich von Belanglosigkeiten aus dem Tempel und ein paar Anekdoten aus meinem Familienleben, die uns zum Lachen bringen. Ohne den heiteren Tonfall zu ändern, erwähne ich dann wie beiläufig unseren Gast.
Sie kennt ihn, das merke ich sofort, doch etwas lässt sie zögern. Vorsichtig bohre ich nach: “Stell dir vor, ich habe ihn draußen vor dem Tempel sitzen sehen. Was er wohl vorhat ...” Es klingt nicht wie eine Frage, und ich gebe ihr Zeit.
Hätte ich nicht darauf geachtet, wäre mir ihr Zögern entgangen. “Er interessiert sich für Pflanzen, er ist seit zwei Wochen fast jeden Nachmittag hier. Er überlegt, Pflanzensamen als Handelsware einzusetzen.”
Interessant. Aber da ist noch mehr, das spüre ich, ich kenne Kryptild lange genug. Ich frage nicht, sehe sie aber mit einem Blick an, der ihr klar macht, dass ich weiß, dass sie mehr weiß.
Plötzlich steht sie auf, streicht ihre Robe glatt, nimmt das Messer wieder zur Hand. “Ich muss weitermachen, entschuldige bitte, Rako. Ich bin heute etwas langsam, ich komme in letzter Zeit immer viel zu spät ins Bett. Es ist seit einigen Tagen abends fast immer noch etwas zu tun.” Sie schenkt mir ein Lächeln und eilt davon.
Dieser schnelle Abschied ist untypisch und ich schaue ihr überrascht hinterher. Was will sie mir damit sagen? Etwas, das sie mir nicht sagen kann, verstehe ich. Und ich nehme mir vor, abends im Tempel vorbeizuschauen.
Meine Vermutung war richtig, wie mir das unverschlossene Fenster an der gartenseitigen Tempelwand zeigt. Meine Kenntnis des Gebäudes ermöglicht es mir, mich nur im Licht des flackernden Kaminfeuers zwischen einige Saatgutsäcke zu schleichen, die in einer dunklen Ecke des großen Hauptraumes stehen. Da ich nicht weiß, wie lange ich hierbleiben werde, mache ich es mir möglichst bequem und warte ab, ob etwas geschehen wird.