Wir waren mitten in einer angeregten Diskussion, als die Tür aufgestoßen wurde.
„Entschuldigt die Störung. Rako, wir brauchen dich.“
Ich konnte es Rako ansehen, dass er keine Ahnung hatte, worum es gehen könnte. Doch wir werden nur selten bei den Lehrstunden gestört, die er mir erteilt, also musste es etwas Wichtiges sein. Die Meinung meines Mentors wird hier hoch geschätzt.
Als er nach zehn Minuten nicht zurück ist, beschließe ich, die Zeit zum Meditieren zu nutzen. Mit dem Rücken in die von der Tür am weitesten entfernte Ecke des Raums geschmiegt schließe ich die Augen und lasse meine Gedanken treiben, ganz wie Rako es mich gelehrt hat.
Noch fällt es mir ab und an schwer, die Kontrolle über meinen Geist aufzugeben, aber ich werde mit jedem Mal besser.
Ein lautes Klopfen unterbricht meine Bemühungen und ich reiße die Augen wieder auf.
Isidra steht in der Tür und lächelt mir aufgeregt zu. „Talfan! Du sollst du den Geweihten kommen!“
Ich stehe auf und sehe sie verwirrt an. „Zu den Geweihten? Zu wem meinst du? Rako?“ Warum kommt er nicht einfach zu mir zurück?
„Nein! Sie haben sich alle zu einer Besprechung zurückgezogen, nur die Geweihten – und jetzt soll ich dich dazuholen!“ Ihre Wangen und Augen leuchten vor Aufregung – sie weiß genauso gut wie ich, dass das hier etwas Ungewöhnliches ist. Ihre Begeisterung ist ansteckend, und ich lächle, als ich zu ihr an die Tür trete.
„Was glaubst du, was sie vorhaben?“, flüstere ich beinahe.
Ihr Lächeln wird noch breiter. „Ich weiß es nicht – aber du, du wirst es bald herausfinden! Na los – sie sind hinten im großen Besprechungsraum!“ Mit einem Schritt zur Seite macht sie mir Platz und lässt mich an ihr vorbeieilen.
„Komm herein, Talfan!“
Ich erkenne Rakos gedämpfte Stimme durch die Tür und folge seiner Anweisung.
Das große Besprechungszimmer ist für Vertragsverhandlungen zwischen größeren Parteien gedacht. Es bietet über einem Dutzend Personen Platz, wenn man Stühle in zweiter Reihe um den großen Tisch herum aufstellt, sogar über zwei Dutzend. Doch heute sind nur die offiziellen Geweihten des Perainefurtener Phextempels hier, deren Blicke sich nun alle auf mich richten.
„Du strebst ein Leben als Geweihter an“, beginnt der Tempelvorsteher ohne Umschweife. Es ist keine Frage, sondern eine Feststellung – woher weiß er das so genau? Aber er hat Recht, also nicke ich nur und warte ab, was noch folgen wird.
„Bevor du eines Tages die Weihe empfangen kannst, so Phex es will, musst du dich und deine Fähigkeiten unter Beweis stellen“, fährt er fort. „Wir haben heute eine Aufgabe für dich, die dein erster Auftrag im Namen des Schattens sein soll.“
Mein Herzschlag beschleunigt sich vor Aufregung. Ich darf meinem Gott und seinen Geweihten beweisen, über welche Fähigkeiten ich verfüge? Ein kurzer Seitenblick zu Rako, der mir lächelnd zunickt, gibt mir die Bestätigung, die ich gesucht habe.
„Was soll ich tun?“
Eine halbe Stunde lang werden mir die Hintergründe erläutert. Eine Händlerin hier aus der Stadt, Karmantju Daribon, hat einen Durchreisenden bei einem Geschäft betrogen. Natürlich gefällt es Phex, wenn man seinen eigenen Vorteil ein wenig herausarbeitet, doch nur in vertretbaren Rahmen, und den hat sie deutlich überschritten: Sie hat ihm eine Brosche für seine Angebetete für das Zehnfache des üblichen Preises verkauft, und das, obwohl sie genau wusste, dass sie ihn damit in ernsthafte finanzielle Schwierigkeiten stürzen wird. Letzteres ist, was dem Herrn der Schatten missfällt, wird mir erläutert.
Ich weiß nicht, woher Geweihte wissen, was den Göttern gefällt und was nicht. Es ist eines der Rätsel, die ich eines Tages durch meine eigene Weihe zu lösen hoffe, denn Rako hat es mir trotz Nachfrage nicht verraten. Jetzt verlasse ich mich einfach auf ihre Worte.
„Wir werden also die Händlerin um den erworbenen Betrag plus einer kleinen Spende für den Tempel des Listigen erleichtern, auf dass es ihr eine Lehre sein möge. Damit sie weiß, wofür sie diesen Obulus entrichtet, werden wir die Brosche an die Stelle des entnommenen Geldes legen. Und hier kommst du ins Spiel.“
Ich! Mit angehaltenem Atem lausche ich den Worten des Tempelvorstehers.
„Du wirst dem Reisenden die Brosche abnehmen und stattdessen den bezahlten Betrag hinterlassen. Dann bringst du da Schmuckstück zu uns, und wir kümmern uns um den Rest.“
Freude und Enttäuschung ringen in mir um die Oberhand. Ich darf mich an einem Auftrag, der direkt von Phex persönlich kommt, beteiligen! Ich darf ihn allerdings nicht alleine durchführen.
Streng ermahne ich mich selbst. ‚Reiß dich gefälligst zusammen! Woher sollen sie wissen, was sie dir zutrauen können, wenn du dich nicht erst bei kleinen Aufträgen bewährst?‘
Also konzentriere ich mich auf meine Mission.
„Wann soll es losgehen?“, frage ich ruhig und schaue in die Runde.
„Heute Abend“, antwortet Rako mit einem gezwungenen Lächeln, das mich enttäuscht. „Bis dahin haben wir die notwendigen Informationen für dich.“
Fünf Minuten, nachdem ich aus der Besprechung entlassen wurde, kommt auch Rako wieder in das Zimmer, in dem wir zuvor waren.
„Traust du mir den Auftrag nicht zu?“, frage ich ihn ganz direkt.
Verblüfft sieht er mich an und lässt sich auf den Stuhl sinken. „Wie kommst du darauf?“
„Du hast die ganze Zeit über nervös deine Hände geknetet. Und du sahst eher besorgt als erfreut aus, als mir meine Aufgabe erklärt wurde.“ Meine Stimme klingt so kalt, wie ich mich fühle. Glaubt er wirklich, ich schaffe das nicht?
„Oh Talfan ...“ Lächelnd fährt Rako sich mit einer Hand über die Augen. „Das hast du völlig falsch verstanden. Ich habe dich für diese Aufgabe vorgeschlagen!“
Das überrascht mich. „Warum sorgst du dich dann?“
Rako schnaubt amüsiert. „Du bist mein Schützling, Talfan, und wirst deinen ersten Auftrag durchführen! Das ist wie ... Entschuldige, ich weiß, dass der Vergleich an vielen Stellen hinkt, aber es ist ein wenig wie damals, als Danja laufen gelernt hat und ganz alleine zu ihrem Freund auf der anderen Straßenseite gehen wollte. Man hat keine Zweifel, dass es klappen wird, aber man fiebert einfach mit! Es gibt so viele Unwägbarkeiten zu meistern, und man ist unendlich stolz, zu sehen, wie der eigene Schützling selbstständig wird.“
Da verstehe ich es endlich. Ich lehne mich über den zwischen uns stehenden Tisch in seine Richtung, strecke die Hand aus und berühre seine, nur ganz kurz und leicht, um ihm meine Verbundenheit zu zeigen. Und es hat sich gelohnt, mich dazu zu überwinden: Die Geste lässt ihn überrascht aufschauen, dann lächeln.
„Ich werde meine Sache gut machen, Rako“, versichere ich ihm ernst. „Können wir den Unterricht für heute beenden? Ich würde gerne ein paar Dinge herausfinden, bevor Kryptild mich erwartet.“
Der Durchreisende ist im Gasthaus „Zum fröhlichen Zecher“ abgestiegen, wie ich rasch in Erfahrung bringe. Hervorragend – mein Plan steht!
Ich suche mir eine ruhige Ecke im dortigen Schankraum, von wo aus ich einen guten Überblick habe und von den Schankleuten dennoch ganz sicher bemerkt werde.
Es funktioniert. Schon nach kurzer Zeit kommt die Wirtin aus einem Nebenraum, tritt an meinen Tisch und wirft mir einen misstrauischen Blick zu.
Die letzten beiden Male, die ich hier war, endeten in einer unschönen Prügelei, und ich sehe sie mit möglichst reuevollem Gesichtsausdruck an. „Meisterin Ruttel“, spreche ich sie demütig an. „Ich bin gewiss nicht hier, um Ärger zu machen. Ganz im Gegenteil.“
„So lange du hier alleine sitzt, mache ich mir da auch keine Sorgen“, grummelt sie. „Was, bei den Zwölfen, suchst du hier?“
Hannafrid Ruttel ist sehr gläubig. Dass ich Akoluth im Phextempel bin, ist vermutlich der einzige Grund, warum sie mich nicht längst des Hauses verwiesen hat. Diesen Umstand gedenke ich mir nun zunutze zu machen.
„Euch“, gestehe ich seufzend. „Ich habe mein schlechtes Benehmen bei meinen bisherigen Besuchen den Zwölfen gestanden.“ Ich gebe mir Mühe, meinen Gesichtsausdruck so beschämt wie möglich aussehen zu lassen. „Darf ich Euch als zumindest symbolische Wiedergutmachung einige Stunden meiner Arbeitskraft anbieten, um für meine Fehler zu büßen?“
Ihr Gesichtsausdruck wird weich. „Das ist sehr anständig von dir. Wenn du die Zwölfe um Vergebung bittest, werden sie dir dein Verhalten sicherlich nachsehen. Und ich nehme dein Angebot gerne an – wann?“
„Am liebsten sofort, Meisterin Ruttel ... ich wäre froh, diese Schuld nicht mehr mit mir herumzutragen.“
Die besten Lügen sind die, die sich möglichst nahe an der Wahrheit bewegen.
Die nächsten Stunden verbringe ich damit, Flure zu fegen, Geschirr abzuwaschen, Waschschüsseln in Gästezimmern mit frischem Wasser zu befüllen und Speisereste aus Schüsseln zu kratzen.
Dabei merke ich mir, wo die Schlüssel zu den Zimmern hängen, wie viele Ausgänge und Verstecke im Gästetrakt vorhanden sind und wo der Durchreisende nächtigt. Beim Austauschen seiner Waschschüssel kann ich sehen, dass die Truhe in seinem Zimmer ein gewöhnliches Schloss hat. Da der Mann während meiner Arbeit anwesend ist und mich misstrauisch im Auge behält, untersuche ich das Schloss kurz darauf in einem leeren Zimmer, die eine Truhe enthält, die der anderen auffällig ähnelt.
Als ich das Gasthaus verlasse, um zu meinen Unterrichtsstunden im Perainetempel zu gehen, fühle ich mich durch die geleistete Arbeit, als sei mir ein Teil meines schlechten Gewissens von den Schultern genommen worden. Meisterin Ruttel war mit mir zufrieden und hat mir meine vergangenen Taten zumindest teilweise verziehen.
Doch noch etwas anderes beschwingt meinen Gang. Der positive Nebeneffekt meiner Buße war, dass ich nun gut informiert bin. Der Auftrag kann beginnen!