Wieder bin ich im Traviatempel Tjeikas Gast. Heute wird sie reden, hat sie mir bei der Vereinbarung des Treffens eröffnet, und mich damit ausgesprochen nervös gemacht. Was wird sie wohl sagen?
Als ich ihr gegenüber Platz nehme, lasse ich möglichst unauffällig meinen Blick über ihr schönes Gesicht schweifen, um mich von meinen Spekulationen abzulenken. Aus dem Zopf, zu dem sie ihr langes blondes Haar geflochten hat, sind einige Strähnen entkommen und stehen nun von ihrem Kopf ab, und auf ihrer Wange entdecke ich einen Rußfleck. Sie wird, wie meistens, schon lange vor den Gästen im Traviatempel wach gewesen sein und Frühstück vorbereitet haben. Die Zeit, die sie sich für mich nimmt, schiebt sie stets geschickt zwischen ihren zahlreichen Pflichten.
Ich ertappe mich immer häufiger bei dem Gedanken, dass sie eine ausgesprochen anziehende Rahjageweihte abgeben würde – wenn sie nicht so fokussiert auf die Fragerei wäre.
Auch Isidra sieht attraktiv aus. Bei unseren inzwischen fast regelmäßigen Besuchen im Gasthof beobachte ich häufig, wie einige der jungen Männer ihr verstohlene Blicke zuwerfen. Doch sie ignoriert sie alle, erzählt mir lachend von ihrem Tag, trinkt mit mir Wein und überredet mich nach einigen Becher manchmal tatsächlich zum Tanzen. Ich gewöhne mich langsam daran, so dass es mir leichter fällt, ihre Hände dafür zu ergreifen, und wenn man ihrem fröhlich funkelnden Blick und ihren geröteten Wangen Glauben schenkt, genießt sie jedes Lied. Ich freue mich, ihr damit eine Freude machen zu können, und es ist sicherlich nicht schlecht, das Tanzen nicht ganz zu verlernen. Wer weiß, wann ich diese Fähigkeit wieder brauche.
Tjeika beginnt zu sprechen, und rasch fokussiere ich meine Aufmerksamkeit wieder auf sie. Nach ein paar einleitenden Worten kommt sie direkt auf das Thema zu sprechen, das uns zusammenführt.
“Ich habe lange über deine Erlebnisse und Gefühle nachgedacht. Möchtest du meine Meinung dazu hören?”
Tatsächlich bin ich mir gar nicht sicher, ob ich das will. Was, wenn mir ihre Deutung nicht gefällt? Andererseits fordert Phex Mut – und ich würde gerne erfahren, was ich tun kann, um meine Selbstbeherrschung zu verstärken. Also nicke ich zögernd und warte ab.
“Du sagst, du schlägst zu, wenn dir jemand zu nahe kommt, obwohl du das eigentlich nicht willst”, fängt sie mit sanfter Stimme an. “Ich glaube, du verteidigst dich einfach. So, wie du zuhause Nähe erfahren hast, nämlich als Vorbedingung für Züchtigung, ist es nicht verwunderlich, dass du Nähe meidest. Und da du endlich selbstständig und alt genug bist, um dich zur Wehr zu setzen, willst du verhindern, dass dir je wieder so etwas geschieht. Du schlägst zu, bevor die anderen es tun können.”
Ihre Worte beschämen mich, und ich senke den Blick. “Das klingt nicht, als ob ich wirklich etwas dagegen tun könnte”, murmle ich leise.
“Doch, natürlich!”, versichert mir Tjeika sofort. “Das ist ja nicht der einzige Grund. Du verteidigst dich nur, weil du Angst hast und wütend bist. Wir müssen versuchen, die Ursachen zu bekämpfen.”
Ihr Lächeln ist aufmunternd, doch es reicht nicht ganz bis in ihre Augen hinein. Ich bezweifle, dass sie glaubt, was sie sagt. “Aha. Und was sind deiner Meinung nach die Ursachen? Dass ich als Kind geschlagen wurde? Dagegen lässt sich kaum etwas ausrichten, fürchte ich”, erwidere ich wenig hoffnungsvoll.
Sie seufzt und sieht mich traurig an. “Nein, natürlich nicht. Dagegen hätte damals jemand etwas unternehmen müssen.”
Ich sage nichts dazu – ich finde es sinnlos, darüber zu sprechen.
Dann fährt sie fort. “Du brauchst jemanden, dem du vertrauen kannst, um die Angst zu verlieren. Ich bete zu Travia, dass du eine Person findest, die dich liebt und deren Nähe dich von dieser Angst befreit. Und deine Wut … du bist schlicht und ergreifend wütend auf dich selbst.”
“Warum sollte ich das sein?”, unterbreche ich sie aufgebracht. Ihre Interpretationen gehen mir langsam deutlich zu weit. “Wieso glaubst du, mich verstehen zu können, obwohl wir uns nur ein paar Stunden unterhalten haben?”
Ärger wallt in mir auf, aber ich werde ihm jetzt ganz sicher nicht nachgeben. Es würde ihre abwegigen Theorien ja nur noch unterstützen.
Sie ist froh, dass sich ein Tisch zwischen uns befindet, das sehe ich ihr an. Ihr Blick huscht nervös zur Tür – großartig. Jetzt mache ich ihr auch noch Angst. Auch das wird ihre Theorien nur weiter befeuern, fürchte ich.
Zu meiner Überraschung spricht sie weiter, und ihre Stimme klingt fast ruhig. “Du bist wütend auf dich selbst, weil du erwartest, dass du all das einfach abschütteln und hinter dir lassen kannst. Du willst ein besonnener, ruhiger, selbstbewusster und selbstbeherrschter Mann sein, der seine Gefühle unter Kontrolle hat und keine Fehler begeht. Aber das ist nicht möglich.” Sie sieht mir fest in die Augen.
Die Bestimmtheit ihrer Worte trifft mich sehr. Ich senke den Blick, dämpfe meinen Ärger. “Natürlich ist das möglich. Man begeht Fehler einfach nicht zweimal”, erkläre ich leise in Richtung der Tischplatte, während ich erwäge, ob meine Einwilligung zu den Treffen mit Tjeika auf die Liste des Versagens gehört oder nicht.
“Dann sind die Schlägereien, in die du dich verwickeln lässt, keine Fehler?”, fragt sie herausfordernd.
Noch bevor ich antworten kann, dämmert ihr eine Erkenntnis, und sie schaut mich verblüfft an. “Natürlich nicht”, murmelt sie. “Sie sind deine Strafe …”
Verwirrt starre ich sie an. “Natürlich sind sie Fehler. Aber ich habe noch keinen Weg gefunden, die Wiederholung zu vermeiden. Und was für eine Strafe meinst du?”
“Die Schläge deiner Gegner sind die Strafe für deine Fehler”, erklärt sie fasziniert ihre Erkenntnis. “Darum weichst du den Kämpfen nicht aus. Du lässt nicht nur deinen Zorn heraus, du tust Buße für deine Fehler, indem du dir Schmerzen zufügen lässt – damit du dir deine Fehler selbst verzeihen kannst!”
“Das ist völliger Quatsch!”, unterbreche ich sie laut und springe so heftig von meinem Stuhl auf, dass er nach hinten umfällt. “Ich habe kein Interesse mehr an deinen seltsamen Ideen. Du kennst mich nicht, und du verstehst mich nicht. Ich habe kein Bedürfnis mehr nach weiteren Unterhaltungen!”
Ich sehe sie nicht mehr an, sondern stürme aus dem Tempel, nur fort von diesen verqueren Theorien und falschen Annahmen, zu Alfons, um mich zu beruhigen.