Nein, er ist und bleibt mir ein Rätsel, dieser Akoluth. Ganz phexgefällig habe ich in den letzten Tagen Augen und Ohren offengehalten, bin ihm unauffällig durch die Stadt gefolgt, doch ich komme so nicht weiter. Es ist wohl an der Zeit, ein direktes Gespräch mit ihm zu suchen.
Nach der Messe, die heute zu Ehren Phex’ gehalten wurde und bei der Talfan natürlich anwesend war, trete ich ihm in den Weg, als er den Tempel verlassen will. Ich bin zwar nicht breitschultrig genug, um die ganze Tür zu blockieren, doch bei dem Abstand, den er zu Anderen zu halten pflegt, genüge ich vollkommen.
Er sieht mich an wie ein gefangenes Tier, und ich beeile mich, ihm meinen Wunsch mitzuteilen. Keinesfalls will ich, dass geschieht, was ich in den letzten Tagen einige Male beobachten musste.
“Talfan”, spreche ich ihn ruhig an, “Ich möchte unter vier Augen mit dir reden.”
Nur für einen kurzen Augenblick huscht Unwillen über sein Gesicht, bis es jeglichen Ausdruck verliert und er nickt. Er lässt seine Gefühle selten an die Oberfläche kommen.
Ich bedeute ihm, mir in eines der Zimmer zu folgen, in dem die den Tempel besuchenden Händler ihre Verträge diskutieren können, und schließe die Tür hinter uns.
“Du weißt, dass ich dich ausbilden soll. Was tust du, wenn du jemanden von einem guten Handel überzeugen möchtest?”
Seine Antwort kommt wie immer ohne Zögern. “Ich lege die Vorteile dar, die es ihm bietet, sowie die, die es mir bietet, um ihn von der Ausgeglichenheit zu überzeugen.” Er setzt sich auf den Stuhl mir gegenüber und schaut mich aufmerksam über die Tischplatte hinweg an. Er strahlt Entschlossenheit aus, wozu, kann ich nicht bestimmen.
“Das ist richtig, aber noch nicht alles. Was, wenn es für den anderen zunächst Nachteile zu bieten scheint oder aus seiner Sicht negativ sein könnte?”
“Ich verschweige den Teil oder zeichne ihn kleiner als er ist”, antwortet er und hebt herausfordernd das Kinn.
Ich lächle nachsichtig. Damit hatte ich gerechnet. Wo auch immer er das Handeln gelernt hat, sein Lehrer war ein wenig zu sehr auf seinen eigenen Vorteil bedacht. “Falsch. Für einen guten Handel, den du wirklich willst, ist unbedingte Ehrlichkeit vonnöten. Dein Gegenüber wird dir nicht mehr vertrauen, wenn er sich einmal hintergangen fühlt. Diese Lektion ist sehr, sehr wichtig. Von einmaligen Geschäften kann kein Händler leben. Die Kunden müssen zufrieden sein und wiederkommen – selbst, wenn sie dein Angebot ausschlagen, werden sie sich an deine Ehrlichkeit erinnern und hoffentlich mit neuen Anfragen zurückkommen.”
Einen Moment lang denkt er nach, dann nickt er langsam. Dumm ist er nicht, und er wird sich diese Worte hoffentlich gut einprägen.
Ich kann von der Einleitung nun zu dem kommen, was mich wirklich beschäftigt. “Ich möchte dir einen solchen Handel anbieten. Gerne will ich dein Mentor sein, dir Dinge beibringen, die du noch nicht weíßt, und, so Phex will, eines Tages deine Weihe vollziehen, oder dich mit dem Segen des Listenreichen verabschieden. Es gibt vieles, was ich dich lehren kann, nicht nur über den Aspekt des Handels und die Liturgien. Aber ich fordere dafür nicht nur deinen Ehrgeiz, deine Strebsamkeit und deinen Fleiß, sondern auch Antworten auf meine Fragen.
Du redest nicht gerne über dich. Du meidest die Nähe anderer Menschen wie Effertjünger das Feuer, und wenn sie dir doch zu nahe kommen, greifst du sie an. Ich habe das in den letzten Tagen einige Male beobachten müssen.”
Mir ist nicht entgangen, dass sich bei meinen Worten seine Muskeln angespannt und seine Fäuste geballt haben – er will diesem Gespräch entfliehen, und ich bin froh, nicht zwischen ihm und der Tür zu sitzen. Die Ausbrüche, die ich mitangesehen habe, machen mir Angst. Doch Phex’ Diener stellen sich Herausforderungen, und daher spreche ich weiter.
“Sprich mit mir, erkläre dich mir, und dein Vertrauen wird belohnt werden. Ich kann dir nicht nur als Geweihter des Phex helfen, ich habe auch Verbindungen in der Stadt. Ich habe Freunde im Perainetempel, wo man dir mit deinem Wunsch, mehr über Pflanzen zu lernen, weiterhelfen kann. Was auch immer dich Nähe meiden lässt, vielleicht kann dir einer meiner Bekannten helfen, der sich auf die Heilkunde der Seele versteht. Wenn du es willst, vermittle ich dir auch einen Lehrer in der Heilkunst, denn wenn du dich nicht änderst, wirst du dich oft selbst verbinden müssen. Und wenn du mir beweist, dass du dich unter Kontrolle halten kannst, …” Ein kurzer Zweifel überkommt mich, aber wie ich sagte, unbedingte Ehrlichkeit ist vonnöten. “... ich kenne auch Menschen, die dir beibringen können, so zu kämpfen, dass du nicht ganz so viel einsteckst.”
Er antwortet zwar nicht, sieht aber aus, als würde er das Angebot in Erwägung ziehen.
Ich atme ein und lasse mit der Luft die Anspannung aus meinem Körper entweichen, die sich aus Sorge um seine Reaktion aufgestaut hatte. Sollte ich ihm Zeit geben, über das Angebot nachzudenken, oder ihn zu einer schnellen Entscheidung drängen? Ich bitte Phex um einen Fingerzeig, und kurz darauf höre ich, wie jemand irgendwo im Tempel meinen Namen ruft.
Ich stehe auf und sehe auf Talfan hinunter: “Denk darüber nach und komme zu mir, wenn du deine Entscheidung getroffen hast.” Dann verlasse ich den Raum.