Wehmütig betrachte ich das Etikett, bevor ich den Rest des almadanischen Weins in Nazirs Becher gieße. Der Rahjageweihte prostet mir zu und nippt an seinem Getränk.
“Und du hast wirklich nur einen Esel, kein Pferd?”, erkundigt er sich mit leichtem Bedauern in der Stimme. Wir haben uns die letzte Stunde angeregt über Pferde und Wein unterhalten, zwei Dingen, die der Schönen Göttin wohlgefällig sind. Doch seine Geringschätzung gegenüber Alfons kann ich nicht unkommentiert stehen lassen!
“Sag das nicht! Ich glaube, du unterschätzt Esel ganz gewaltig. Ein Pferd hätte es nie mit mir durchs Unterholz und über Stock und Stein geschafft. Er ist der einzige Gefährte, den ich auf meinen Reisen brauche.” Ich nicke bekräftigend und leere meinen Becher.
Der Wein, den Nazir aus dem Süden mitgebracht hat, ist vorzüglich. Ich kenne sogar die Familia, die ihn hergestellt hat, doch das werde ich ihm nicht auf die Nase binden.
Er hebt versöhnlich die Hände – selbst diese Geste habe ich vermisst, ohne mir dessen bewusst zu sein. Hatte ich mich hier bei Nazir, Javert und Selma zu Beginn noch fehl am Platz gefühlt, so vermitteln sie mir inzwischen mit ihrer Art, den Geschichten aus dem Süden, ihrer Liebe zu Wein und Pferden und selbst mit ihrem Akzent ein Heimatgefühl, das mich nahezu überwältigt.
“Ich wollte deinen tierischen Freund keinesfalls beleidigen! Sicherlich haben die Zwölfe weise entschieden, als sie ihn dir zur Seite stellten. Hast du außer ihm noch andere Dinge aus deiner alten Heimat behalten?”
Nazirs Frage erzeugt ein Gefühl von Enge in meiner Brust. Alte Heimat. Verlorene Heimat. Nie hätte ich gedacht, dass ich so viele Details vermissen würde. Ein Blick in die Tiefen des Bechers zeigt, dass kein Wein mehr vorhanden ist, um den Kloß in meinem Hals fortzuspülen.
“Talfan? Ist alles in Ordnung?”
Meine Aufmerksamkeit ließ nur für einen Moment nach, doch den hat Nazir genutzt, um mir mitfühlend eine Hand auf die Schulter zu legen. Ich schrecke zusammen, rücke eilig von ihm ab und stehe auf. Erst, als ich Abstand zwischen uns gebracht habe, realisiere ich, dass meine Vorsichtsmaßnahme unnötig war: Bei Rahjageweihten genügt es, zu sagen, dass ich Berührungen nicht mag – ich werde mich nie gegen sie verteidigen müssen. Ihre Nähe ist tolerierbar.
Der irritierte Ausdruck auf Nazirs Gesicht zeigt, dass er sich meiner Abneigung gegenüber Körperkontakt nicht bewusst war. Wie auch! Bei Phex, wie unhöflich muss mein Verhalten auf ihn wirken! Fieberhaft denke ich über eine Möglichkeit nach, dem Gespräch zu entfliehen. Natürlich – das Training!
Ich versuche mich an einem entschuldigenden Lächeln. “Einige Kleidungsstücke. Meine Stiefel. Und mein Rapier.”
Dann werfe ich einen Blick in Richtung der beiden Rahjakavaliere. “Wollen wir heute noch ein Übungsduell fechten? Hal stellt uns gerne den Platz dafür zur Verfügung, sagte er mir.”
Die beiden tauschen einen Blick, bevor sie zu Nazir hinüberschauen und sich ohne Worte mit ihm zu verständigen scheinen. Je länger sie brauchen, desto schwerer fällt es mir, ruhig abwartend stehenzubleiben.
„Ich werde mit dir trainieren“, verkündet die Kavalierin dann mit einem freundlichen Lächeln. „Javert macht das morgen. So haben wir alle am meisten davon – stimmst du zu, Talfan?“
Ich will so dringend hier fort, dass ich jedem Vorschlag zustimmen würde, doch dieser ist wahrhaftig gut. Ich nicke knapp und gehe zur Tür, warte dort, bis die Kavalierin ihre sehr knappen Kleidungsstücke gegen welche getauscht hat, die für ein Übungsduell passender sind. Da sie sich völlig ungeniert vor den anderen umzieht, wende ich mich ab, um meine von dieser Rahjagesandtschaft fürchterlich verwirrten Gedanken und Emotionen unter Kontrolle zu halten, bis wir das Gasthaus endlich verlassen.