„Bist du bereit?“
Die Überzeugung, die in Talfans Nicken liegt, beruhigt mich, nimmt mir aber nicht meine Aufregung.
„Der Reisende übernachtet im Gasthaus ‚Zum fröhlichen Zecher‘ abgestiegen. Er heißt Miromir Ostapko, ungefähr 25 Jahre alt, rotblond, glattrasiert.“ Der Tempelvorsteher wirft Talfan einen irritierten Blick zu, als der durch Handzeichen um das Wort bittet. „Ja?“
„Das weiß ich bereits, Euer Gnaden“, antwortet Talfan höflich mit selbstsicherer Stimme. Wir schauen ihn alle erstaunt an.
„Woher?“ Der Tempelvorsteher wirft mir einen missbilligenden Blick zu, den ich mit der universellen Geste der Unschuld, dem Zeigen der leeren Handinnenflächen, beantworte.
„Ich habe spioniert, Euer Gnaden“, antwortet Talfan respektvoll, als wäre das die größte Selbstverständlichkeit. „Ich habe den von ihm gewählten Gasthof, dessen Gästetrakt, die Lage seines Zimmers sowie den Aufbau des Schlosses seiner Truhe untersucht. Dann habe ich mir mögliche Verstecke und Fluchtrouten eingeprägt.“
Für einen Moment herrscht verblüfftes Schweigen im Raum.
„All das heute Nachmittag?“, fragt eine der anderen Geweihten.
Talfan neigt ehrerbietig den Kopf. „Zwischen der Rahja- und der Rondrastunde, Euer Gnaden. Ich erhalte zur Efferdstunde Unterricht in Pflanzenkunde im Perainetempel.“
Der Tempelvorsteher räuspert sich und versucht, seine Überraschung zu verbergen. „Nun gut. Du weißt, was deine Aufgabe ist? Hast du noch Fragen?“
Mit einer leichten Verbeugung verneint Talfan die letzte Frage. „Ich bin bereit, Euer Gnaden.“
„Dann: Phex mit dir, Schatten. Einige von uns werden dich hier erwarten.“
Talfan verbeugt sich erneut. Seinem Gesicht ist keinerlei Regung anzusehen, doch in dem kurzen Blick, den er mir zuwirft, sehe ich Vorfreude und Aufregung funkeln.
Wie soll ich die Zeit bis zu seiner Rückkehr nur überbrücken?
„Ihr verhaltet Euch wie ein werdender Vater“, sagt Isidra grinsend, als sie mich den Gang auf und ab gehen sieht.
Ich werfe ihr einen skeptischen Blick zu. „Woher willst du das wissen?“
Sie lacht. „Das, Euer Gnaden, bleibt mein Geheimnis!“
Lächelnd bleibe ich stehen und sehe sie an. Das klingt interessant, und alles Interessante ist gerade dazu geeignet, mich abzulenken.
Isidra ist noch zu jung, um eigene Kinder zu haben. Also tippe ich darauf, dass sie ältere Geschwister oder andere Verwandte hat, die Kinder bekommen haben, oder selbst die Älteste von vielen Kindern ist.
Gerade für ältere Geschwister, ungerade für jüngere. Im Geiste bitte ich Phex um einen Fingerzeig und sehe zu Boden.
Fünf Ziegelreihen über dem Boden ist ein Fleck an der Wand. Ungerade also.
„Du hast jüngere Geschwister und hast deinen Vater beobachtet“, tippe ich daher. Dann schmunzle ich über das Erstaunen in ihrem Gesicht.
„Das stimmt“, gibt sie zu. „Woher wisst ihr das?“
Es war erschreckend einfach, doch das werde ich nicht zugeben. „Du solltest nicht auf alle Väter schließen“, sage ich stattdessen. „Viele helfen selbst bei der Geburt mit, und die Mütter sind meist sehr froh darüber.“
Sie sieht mich zweifelnd an. „Das machen doch die Perainegeweihten und Hebammen!“
Seufzend winke ich ab. Natürlich können wir Männer Schwangerschaft und Geburt nur als Zuschauer begreifen, doch das macht uns als Helfer nicht weniger geeignet. „Denk an meine Worte, falls du eines Tages selbst ein Kind zur Welt bringen solltest.“
Zu meiner Überraschung sagt sie nichts, sondern errötet. Das macht mich jetzt doch wieder neugierig. Und dann fällt mir wieder ein, was Hal gesagt hat: Sie trifft sich mit Talfan!
„Weißt du, worauf ich warte?“, frage ich, und sie schüttelt den Kopf. „Talfan erledigt einen Auftrag im Namen unseres Gottes“, eröffne ich ihr dann.
Wie ich vermutet hatte, weiten sich ihre Augen vor Überraschung – und Sorge. Ja, sie ist eindeutig an meinem Akoluthen interessiert.
„Ist es gefährlich?“, flüstert sie mit belegter Stimme. „Seid Ihr deshalb so nervös?“
Mit einem beruhigenden Lächeln auf den Lippen schüttle ich den Kopf. „Nein. Ich bin nervös, weil ich ihm Erfolg wünsche.“ Dann seufze ich. „Vielleicht ist es doch ein wenig wie bei deinem Vater. Ich kann kaum erwarten, vom Ergebnis der gerade stattfindenden Ereignisse zu erfahren.“
Sie schenkt mir ein schüchternes Lächeln. „Keine Sorge, Euer Gnaden. Talfan schafft es bestimmt. Er ist wirklich klug.“ Dann errötet sie erneut und wendet sich eilig zum Gehen.
Schmunzelnd sehe ich ihr einen Moment lang nach, dann nehme ich meine Wanderung wieder auf.
Benommen hebe ich den Kopf, als ich das Quietschen einer Tür höre.
Unfassbar – ich bin tatsächlich eingeschlafen. Wie spät mag es sein?
Doch ich vergesse die Frage, als ich die Silhouette erkenne, die sich dem Schein der Laterne auf meinem Tisch nähert. Es ist Talfan – er ist zurück, und in seiner Hand präsentiert er mir mit breitem Lächeln die Brosche.
„Ich habe dir doch gesagt, dass ich meine Sache gut machen werde“, sagt er triumphierend, als er vor meinem Tisch stehenbleibt.
Nein, ich hatte nicht wirklich gezweifelt, aber dennoch bin ich unendlich erleichtert, ihn erfolgreich heimkehren zu sehen! Am liebsten würde ich ihn umarmen und an mich drücken, so stolz bin ich in diesem Moment. Ob er damit rechnet und deswegen den Tisch zwischen uns hält? Oder hat er sich dieses Verhalten so sehr angewöhnt, dass es ihm gar nicht auffällt?
Egal!
„Erzähl mir alles!“, fordere ich begierig.
Talfan runzelt die Stirn. „Sollten wir es nicht dem Tempelvorsteher berichten?“
Ungeduldig wische ich seine Bemerkung mit einer Geste beiseite. „Der muss jetzt warten. Zuerst bin ich dran!“
Zu meiner ehrlichen Freude höre ich in Talfans Lachen mehr als bloßes Vergnügen. Freude und Zuneigung schwingen darin mit, und als er sich einen Stuhl heranzieht und schwungvoll rittlings darauf Platz nimmt, sehe ich in seinen Augen, dass er gehofft haben muss, mir als Erstem davon berichten zu dürfen. Er hat mich mit seiner Frage nur aufgezogen!
Seine Erzählung ist kurz, doch so lebhaft beschrieben, dass ich das Gefühl habe, dabei gewesen zu sein. Ich sehe es förmlich vor mir, das Gasthaus, den Schankraum, den Durchreisenden, wie er sich sein Abendessen bestellt. Talfan, der aufsteht, in Richtung des Aborts geht, doch im entscheidenden Moment abbiegt und den Schlüssel für die Zimmer aus dem Raum holt, in dem Handtücher und Bettwäsche aufbewahrt werden. Ich halte den Atem an, als er langsam die Treppe hinaufschleicht, rasch den Schlüssel im Schloss des Gästezimmers dreht und es eilig betritt. Meine Fingerspitzen kribbeln, während er das Truhenschloss betastet und mit seinem Dietrich öffnet, und mein Herzschlag beschleunigt sich, als er doch eine mitgebrachte Kerze entzünden muss, um in der Truhe nach der Brosche zu suchen. Erst, als er sie eingesteckt, das Geld hinterlassen, die Truhe verschlossen, das Zimmer unbeobachtet verlassen und den Schlüssel zurück an seinen Haken gehängt hat, kann ich wieder frei atmen.
„Unglaublich“, sage ich leise, als er endet. „Das hast du wirklich gut gemacht! Nicht nur der Austausch, auch das Auskundschaften zuvor!“
Ich habe gut daran getan, ihn für diesen Auftrag vorzuschlagen. Er hat die Erwartungen der übrigen Geweihten und sogar meine eigenen nicht nur erfüllt, nein, er hat sie übertroffen!
Dann stehe ich entschlossen auf. „Und jetzt haben wir den Tempelvorsteher lange genug warten lassen! Los, berichten wir ihm von deinem Erfolg – und übergeben wir die Brosche an die Person, die sie als Gruß von Phex zu Karmantju Daribon zurückbringen wird! So schnell, wie du warst, könnten wir das vielleicht auch noch heute Nacht schaffen!“