Leise Stimmen wecken mich. Tatsächlich bin ich beim Warten eingenickt – Phex sei Dank, dass ich mich hier bei Freunden aufhalte, sonst hätte das böse enden können!
Ich konzentriere meine Sinne auf meine Umgebung und lausche den Stimmen. Sie kommen aus einem Nebenraum, der näher am Tempeleingang liegt. Zwei leise, bedächtige Stimmen, die ruhig reden. Kurz zögere ich, doch dann schleiche ich mich näher, in einen Winkel, der mich durch die geöffnete Tür spähen lässt, nahe genug, um die leisen Worte zu verstehen.
Der Anblick, der sich mir bietet, erstaunt mich. Vitus, einer der fähigsten Heiler des Tempels, sitzt dort auf einem Stuhl, Verbandsmaterialien auf dem Tisch vor sich ausgebreitet. Kryptild lehnt mit angespannter Körperhaltung an der Wand und redet leise und eindringlich auf die dritte Person ein.
Es ist der Akoluth. Seine anscheinend verletzte Rechte hat er auf den Tisch gelegt und lässt Vitus, der ihm gegenübersitzt, eine Wunde versorgen, den Kopf hält er beschämt gesenkt und lässt Kryptilds Rede über sich ergehen, die gelegentlich von Vitus ergänzt wird. Auch, wenn Kryptild und Vitus leise sprechen, ist es doch unverkennbar eine Standpauke, die sie ihm halten.
Ich höre zu und ziehe meine Schlüsse, auch noch, als er sich murmelnd bedankt und aus dem Tempel verschwindet. Die beiden Geweihten sehen sich besorgt an, sprechen noch kurz miteinander, bevor sie die benutzten Materialien versorgen und zu Bett gehen. Ich warte, bis Stille im Tempel eingekehrt ist, bevor auch ich mich davonstehle. Ich muss über das Erfahrene nachdenken.
Als ich meine Haustür öffne, erwartet mich Turike mit besorgtem und vorwurfsvollem Gesichtsausdruck. Ich drücke ihr einen Kuss auf die Wange und entschuldige mich, bevor sie etwas sagen kann.
“Verzeih mir, Liebling, ich hätte dir Bescheid geben müssen, dass ich nicht weiß, was ‘ich komme später’ genau bedeutet.”
Meine selbstgewonnene Einsicht glättet ihre Züge, und sie nickt zustimmend. “Was war es denn, das dich so lange aufgehalten hat? Willst du noch etwas essen und mir davon erzählen?”
Sie hat meinen sehnsüchtigen Blick in Richtung des Herds sofort richtig gedeutet. Selbstverständlich hat sie mir eine Kleinigkeit aufgehoben – ihre Fürsorge ist einer der vielen Gründe, warum ich sie so liebe. Sobald sie mir gegenüber am Tisch Platz genommen hat und zusieht, wie ich die kleine Schüssel mit den warmgehaltenen Eintopfresten leere, beginne ich, ihr von meinem Tag zu berichten.
“Dieser Akoluth, der seit drei Wochen bei uns ist – ich habe ihn heute am Perainetempel gesehen und durch eine etwas längere Unterhaltung mit Kryptild erfahren, dass er in den letzten Wochen häufig dort ist, um etwas über Pflanzen zu lernen. Ihr Verhalten war ziemlich merkwürdig, als sie über ihn sprach, und als sie mich verabschiedete, ließ sie wie beiläufig fallen, dass sie abends in letzter Zeit immer unerwartet viel zu tun hätte und spät ins Bett käme. Und das Kryptild, ich meine, du kennst sie, sie geht mit den Hühnern schlafen! Sie schien mir etwas über ihn erzählen zu wollen, das sie mir nicht verraten durfte – also offenkundig etwas, das sie in ihrer Funktion als Geweihte betraf und das abends stattfindet …” Selbst Turike gegenüber zögere ich kurz, weiterzusprechen, aber ich tue es dennoch. “Ich habe mich daher heute Abend in ihren Tempel geschlichen und gelauscht.”
Zwischen Turikes Brauen entstehen steile Falten, als sie mich mit einer Mischung aus Überraschung und Missbilligung ansieht. “Du hast in einem anderen Tempel Geweihte belauscht?”
“Auf indirekte, aber eindeutige Aufforderung hin!”, verteidige ich mich verlegen, während meine Augen auf den Löffel konzentriert sind, der die letzten Eintopfreste aus der Schale kratzt. “Du kennst Kryptild, das war doch eindeutig!” Nun suche ich doch ihren Blick.
Sie nickt nachdenklich, bevor sie fragt: “Und hast du etwas erfahren, das deine Vermutung bestätigt hat?”
Erleichtert, dass sie meine Motive nicht infrage stellt, schiebe ich die Schüssel beiseite und nicke eifrig. “Oh ja! Es ging tatsächlich um den Akoluthen.”
Halb amüsiert, halb tadelnd hebt sie eine Braue. “Warum nennst du ihn immer nur den Akoluthen? Nenn ihn beim Namen!”
Zerknirscht zucke ich mit den Schultern. “Ich vergesse ihn dauernd. Er erledigt seine Aufgaben im Stillen und redet praktisch nie mit jemandem … aber ich verspreche, mich morgen zu erkundigen und ihn mir einzuprägen. Du hast Recht, ich bin unhöflich. Nun, jedenfalls war er am Abend dort und ließ sich Verletzungen versorgen. Aus einer Schlägerei stammende Verletzungen. Und das war ja wohl nicht das erste Mal …”
Mein Redefluss stockt, ich weiß nicht, wie ich meine Vorbehalte formulieren soll. Doch Turike kennt mich und kleidet meine Bedenken in Worte. “Du hast Angst, dass du einem potentiellen Schläger oder gar Assassinen Unterschlupf und Ausbildung in Phex’ Liturgien gewährst.”
Es ist eine Feststellung, keine Frage. Nach kurzem Nachdenken bestätige ich ihre Einschätzung mit einem stummen Nicken. Ermutigend lehnt sie sich zu mir herüber und legt eine Hand auf meine: “Dann finde mehr heraus! Es ist ein Rätsel, das zu lösen Phex sicher Ehre bereiten wird!”
Dankbar drücke ich ihre Hand und lächle. Natürlich hat sie Recht.
Außer Turike habe ich meine Bedenken niemandem mitgeteilt, dafür verfüge ich noch über zu wenige Informationen. Außerdem will ich mich nur wegen meines Bauchgefühls der mir übertragenen Verantwortung, mich während seines Aufenthalts bei uns um seine Ausbildung zu kümmern, nicht entziehen.
Auch, wenn ich mich vorwiegend um Phex’ Aspekt des Handels kümmere, ist mir die Spionage doch nicht fremd, und ich traue es mir zu, dem Grünschnabel unauffällig genug zu folgen, um ihm nicht aufzufallen.
Grünschnabel … Talfan heißt er – zumindest behauptet er das. Den Namen muss ich mir endlich merken.
Als er am Nachmittag mit den ihm aufgetragenen Reinigungsarbeiten fertig ist und den Tempel verlässt, folge ich ihm durch die Stadt. Seine Ziele sind interessant, verraten aber nicht allzu viel: der Perainetempel, ein Stall, abends eine Taverne. Letzteres überrascht mich: Er hat nie den Eindruck erweckt, allzu viel Wert auf Gesellschaft zu legen.
Aber was zeigt mir schon ein einzelner Tag? Es sind die Muster, die mich interessieren. Ich werde noch ein paar weitere Tage so verbringen müssen. Phex sei Dank versteht Turike das – zumindest eine Zeit lang.