Natürlich gehen mich Talfans Pläne für den Tag nichts an, aber dass ich ihn an keinem der üblichen Orte antreffe, wundert mich dann doch. Im Perainetempel, meinem ersten Anlaufpunkt, hat man ihn heute noch gar nicht gesehen, sein Zimmer im Phextempel ist verwaist und selbst im Stall bei seinem geliebten Esel, von dessen Existenz ich nur durch die Beschattung, die ich zu Beginn unserer Mentor-Schüler-Beziehung durchgeführt habe, erfahren habe, ist er nicht. Dabei ist das sein bevorzugter Rückzugsort, wenn er von niemandem gefunden werden möchte. Liegt ihm etwas auf der Seele?
Eigentlich ist es zu spät, als dass er noch im Rondratempel sein könnte. Hal hat ihm täglich eine feste Stunde eingeräumt, und an die halten sich beide präzise. Hal wegen seiner vielen Verpflichtungen, und Talfan … nun, weil er eben Talfan ist. Ein Lächeln legt sich auf meine Lippen. Natürlich steht es einem Phexgeweihten gut zu Gesicht, Vereinbarungen einzuhalten, doch für ihn scheint es viel mehr als nur eine Abmachung zu sein. Eine Regel des Zusammenlebens. Früher kam er mit der Gemeinschaft im Tempel nicht gut zurecht, auch mit der im Dorf nicht. Doch Etikette, die Regeln des Umgangs miteinander, helfen ihm, andere Menschen in seiner Nähe zu tolerieren. Ob er es je schafft, seine Angst vor Berührungen zu verlieren? Beim Kampftraining funktioniert es doch auch – ob ich ihm dabei irgendwie helfen kann?
Seufzend schiebe ich den Gedanken beiseite. Es ist Talfans Sache, wen er wobei um Hilfe bittet. Falls er mich fragen sollte, bin ich gerne bereit, ihm beizustehen – er ist mir ein Freund geworden. Ein Freund, den ich überall suche, um ihn zum Abendessen einzuladen.
Im Rondratempel finde ich Hal beim Training mit einem seiner Akoluthen. “Rondra zum Gruße”, sage ich lächelnd, als der Lärm der aufeinandertreffenden Schwerter für einen Augenblick aussetzt.
Mit überraschter, aber erfreuter Miene wendet Hal sich mir zu. “Phex zu Gruße, Rako! Was kann ich für dich tun? Du suchst mich hier ja praktisch nie auf!”
Der gutmütige Spott in seiner Stimme kommt nicht unerwartet. Schon immer zieht er mich damit auf, dass ich unbedingt den Umgang mit einer Waffe erlernen sollte. Doch er insistiert nicht, so dass ich es als freundschaftliche Neckerei gerne ertrage.
“Weißt du, wo ich Talfan finden könnte?”
Zu meiner Überraschung grinst Hal breit. “Ach, ist er noch nicht zurück? Da sieh mal einer an!”
Mit verwirrtem Stirnrunzeln frage ich nach: “Wovon sprichst du? Wohin ist er gegangen?”
“Zu den Rahjakavalieren. Du weißt schon, den Kämpfern, die den Rahjageweihten begleiten.” Vieldeutig hebt er die Augenbrauen.
“Rahjageweihter? Was für ein Rahjageweihter? Und was, bei den Zwölfen, sucht Talfan denn bei dem?” Perplex starre ich meinen Freund an. Rahja, die Göttin der Lust und der Leidenschaft, ist so ziemlich die letzte der Zwölfe, bei der ich Talfans Interesse vermutet hätte! Die Vorstellung scheint mir völlig absurd. Außerdem hat Hal eindeutig die Bezeichnung “Geweihter” verwendet, nicht “Geweihte”.
Nun lacht Hal laut. “Ach, Rako, sei doch mal nicht so engstirnig! Er will nicht zu dem Geweihten, sondern zu seinen Begleitern! Die sind Fechter wie er – mit ihnen zu üben täte ihm sicher gut, dachte ich!”
Beschämt blicke ich zu Boden. Hal hat völlig Recht, wenn er mich engstirnig nennt! Wie konnte ich mich nur dazu hinreißen lassen, falsche Schlüsse zu ziehen? Natürlich geht es Talfan ums Kämpfen – das und phexgefällige Dienste sind seine Hauptinteressen. “Ich danke dir, Hal”, verabschiede ich mich knapp und eile nach Hause, bevor Hal eine Chance hat, mir zu antworten.