“Der Listenreiche hat Spaß daran, wenn wir überheblichen oder arroganten Händlern eine Lektion erteilen – wir erweisen ihm Ehre, wenn wir solch eine Hintertür ausnutzen und sie auf die wortwörtliche Einhaltung des Eides hinweisen”, endet Rakos Unterweisung in Sachen des Händlersegens.
Ich nicke abwesend und betrachte den Becher, den ich gedankenverloren in meinen Händen drehe. Nicht, dass ich nicht aufgepasst hätte, ich gebe mir besondere Mühe, Rakos Lehrstunden aufmerksam zu folgen, aber meine Gedanken kreisen um etwas anderes: Was haben die Götter eigentlich davon, Geweihten einen Teil ihrer Macht zu überlassen? Was ist der Preis, den die Geweihten dafür zahlen? Und was haben die Götter davon, Handel mit Sterblichen einzugehen? Was liegt ihnen an uns?
“Hast du eine Frage?” Rakos sanfte Stimme dringt endlich in mein Bewusstsein.
Zuerst will ich den Kopf schütteln, doch als ich gerade dazu ansetze, entscheide ich mich anders. Er verlangt Einblick in meine Gedanken. Es ist sein Preis für seine Hilfe, und ich habe mich bereit erklärt, ihn zu bezahlen.
“Ich verstehe den Handel nicht, den Götter mit Geweihten eingehen. Was kostet ein Teil ihrer Macht? Und was ist der Vorteil, den die Unsterblichen dadurch erhalten?”, frage ich unsicher, bereit, das Gespräch zu beenden, falls meine Fragen eine abschätzige Reaktion hervorrufen.
Doch Rako sieht eher nachdenklich als missfällig aus, und ich entspanne mich wieder ein wenig.
“Ihre Macht ist ein Geschenk, kein Handel”, erklärt er dann. “Phex ist eine Ausnahme unter den Zwölfen. Mit ihm können wir handeln, nicht jedoch mit den anderen elf Göttern.”
Ein Geschenk? Warum sollten sie uns etwas schenken? Meine Frage muss mir auf die Stirn geschrieben stehen.
“Die Götter haben nicht sehr viel davon”, fährt er fort. “Mit uns haben sie schlichtweg noch ein paar Augen und Hände mehr in dieser Welt. Ihnen liegt an uns. Sie wollen, dass wir nach ihren Regeln leben, damit es den Sterblichen gut geht. Wären wir ihnen egal, würden sie nie auf Dere eingreifen – doch genau das tun sie, durch uns Geweihte und selten sogar persönlich.”
“Warum sollten ihnen etwas an uns liegen?”, frage ich verblüfft. “Sind Geweihte nicht nur ihre Werkzeuge?” Sofort beiße ich mir auf die Zunge, um nicht noch mehr unbedachte Fragen zu stellen.
Rako sieht traurig aus, als er sich seufzend in seinem Stuhl zurücklehnt und mich betrachtet. “Nein, Talfan. Wir sind nicht nur ihre Werkzeuge. Natürlich auch, aber nicht nur. Wir sind auch, wie alle anderen Sterblichen, so etwas wie ihre Kinder. Sie lieben uns und wollen uns helfen.”
“Wie Kinder? Deshalb ahnden sie unsere Fehler?” Die Frage kommt mir über die Lippen, bevor ich sie zu Ende denke.
Für einen Augenblick bilde ich mir ein, so etwas wie Mitleid über Rakos Gesicht huschen zu sehen, doch der Ausdruck ist zu schnell verschwunden, als dass ich mir sicher sein könnte. “Natürlich strafen sie auch“, sagt er, „Aber vor allem vergeben sie Fehler, wenn man aufrichtig bereut und Buße tut. Sie vermögen bis in unsere Seele zu blicken. Ihnen gegenüber sind wir machtlos – wir schenken ihnen unser Vertrauen, und sie stehen uns bei.“
Sie vergeben, wenn man bereut und Buße tut. Und sie stehen uns bei, wenn wir ihnen vertrauen.
Wieder geht es um Vertrauen. Das Thema häuft sich in den letzten Wochen, oder bilde ich mir das ein?
Ich schlucke nervös. Gerade ist Rako in der richtigen Stimmung, um mir Dinge zu erklären, und daher wage ich es, die Frage zu stellen, die mich schon so lange beschäftigt. “Rako … was ist Vertrauen wert?”
Eine Weile herrscht Stille zwischen uns. Es ist ihm anzusehen, dass er seine Worte sorgfältig überdenkt, um mir eine gute Antwort geben zu können. Dafür bin ich ihm dankbar, und doch werde ich immer ungeduldiger, je länger sein Schweigen andauert. Als ich gerade aufstehen und den Raum verlassen will, um der Spannung zu entgehen, lehnt er sich nach vorne, weiter in meine Richtung, und sieht mir direkt in die Augen.
“Alles”, erklärt er schlicht. “Es birgt große Risiken, denn wenn du jemandem wirklich vertraust, lässt du ihn in dein Herz, vielleicht sogar bis in deine Seele hinein. Diese Person kann dich schwer verletzen, aber gleichzeitig kann sie dir nahe sein wie kein Anderer. Sie kann dich dann auf eine Weise berühren, wie niemand sonst es vermag. Diese Nähe ist unbezahlbar und durch nichts auf der Welt zu ersetzen. Selbst sie zu beschreiben ist schwierig. Echtes Vertrauen ist das größte Geschenk, das es gibt. Man kann es nicht erzwingen, es wird immer freiwillig gegeben.”
Mir ist nicht klar, warum es erstrebenswert sein sollte, sich verletzlich zu machen. Ich weiß genau: Über kurz oder lang wird jemand, der einen berühren kann, die Möglichkeit nutzen, Schmerz zuzufügen.
Aber ich sage nichts, nicke Rako nur zu, wie ich es immer tue, wenn ich eine seiner Lektionen angehört habe. Als er nicht weiterspricht, danke ich ihm für das heutige Gespräch, stehe auf und verlasse den Phextempel.
Es wird Zeit für Kryptilds Unterricht.