Am Abend steht er in der Tür des Tempels, als ich gerade nach Hause gehen will. Er tritt auf mich zu, nahe für seine Verhältnisse, und neigt leicht den Kopf.
“Danke für das Angebot, Euer Gnaden. Ich habe darüber nachgedacht.”
Gespannt warte ich. Er ist nervös, aber entschlossen – das macht mir Hoffnung.
Dann sieht er mir offen ins Gesicht: “Es wäre mir eine Ehre, von Euch zu lernen, und ich akzeptiere eure Bedingungen.”
Turike hatte wie immer Recht gehabt: Es war Phex’ Wunsch, mich seiner anzunehmen, anders kann ich mir die Freude, die ich ob seiner Worte empfinde, nicht erklären.
“Hervorragend!”, erkläre ich breit lächelnd, “Dann lass uns keine Zeit verlieren. Begleite mich auf einen Spaziergang, wir wollen uns unterhalten.”
Ich beginne am Anfang, erkundige mich nach seiner Herkunft und seinen Familienverhältnissen. Trotz seiner guten Vorsätze muss ich ihm jedes Wort einzeln entlocken, jede Information explizit erfragen, und bin schnell frustriert. Natürlich ist das besser als vorher, aber ein offener Informationsaustausch funktioniert anders. Egal, was ich frage, er ist immer auf der Hut.
Nach gut zwei Dutzend meiner Fragen, die er so einsilbig wie möglich beantwortet, versagt meine Geduld. “So funktioniert das nicht! Warum lässt du dir jede Antwort aus der Nase ziehen? Ich bin Geweihter, du kannst mir vertrauen. Was fürchtest du, wenn du offen sprichst?”
Er sagt nichts, aber diesmal werde ich ihm nicht den Gefallen tun, die Frage anders zu formulieren, oh nein. Diesmal muss er genau das beantworten, was ich zu wissen begehre, sonst erkläre ich unseren Handel für ungültig. Die Entschlossenheit sieht er mir offenbar an, denn er ringt um Worte, bevor er endlich mit der Sprache herausrückt.
“Ich fürchte Euer Urteil und die möglichen Konsequenzen.”
Zunächst will ich verärgert reagieren, da diese Antwort so allgemein wie möglich gehalten ist und wieder nichts verrät, doch dann denke ich nach. Ist das nicht die Grundangst jedes Menschen denen gegenüber, die Macht über ihn haben, sei es durch äußere Umstände oder durch Emotionen? Was rät man jemandem, der Konsequenzen fürchtet?
Ich schweige eine Weile und denke darüber nach, bis ich zu einem Schluss komme und mich wieder an ihn wende: “Es ist normal und nachvollziehbar, Konsequenzen zu fürchten. Doch Furcht lähmt dich. Sieh es wie in einem Kampf: Der, der Angst hat, weicht weder aus noch schlägt er zu oder pariert. Die Konsequenzen werden dich irgendwann ohnehin ereilen, spätestens dann, wenn die Wahrheit, die du zu verbergen versuchst, ans Licht kommt. Stelle dich – Phex erwartet Mut von uns Sterblichen. Die Götter haben vieles ohnehin bereits für dich entschieden, auch, wenn du es nicht weißt. Oft ist die Furcht grundlos. Wenn du fliehen willst, dann wähle die richtige Richtung, die, bei der du möglichst rasch Klarheit erlangst: wähle die Flucht nach vorne.”
Einen Augenblick denkt er nach, dann lächelt er tatsächlich. “Flucht nach vorne. Das werde ich mir merken!”
Ich scheine die richtigen Worte gefunden zu haben, und danke Phex in Gedanken für seine Führung.
Dann sieht er mich an und beginnt, meine Fragen wirklich zu beantworten, erzählt von seiner Familie, seiner Kindheit, seiner Herkunft. Er tut mir leid, und ich verstehe sein Unwohlsein in der Nähe anderer auf einmal, wenn ich seine gewalttätigen Reaktionen in den Tavernen auch verurteile.
Seine Begegnung mit Phex und die Befreiung durch den Listigen sind aufschlussreich, doch sie bereiten mir ein wenig Sorge. Er hat sich nicht wegen seines Glaubens, sondern aufgrund von Verzweiflung und eines Handels an den Fuchs gebunden – ist sein Götterglaube ein ausreichend stabiles Fundament, um darauf ein Leben als Geweihter aufzubauen? Es war ein unkluger Handel, einer ohne zeitliche Beschränkung, die ihm die freie Wahl gelassen hätte, in den Diensten des Listigen zu bleiben oder nicht. Was, wenn er es eines Tages bereut?
Als wir uns verabschieden, danke ich ihm für seine Ehrlichkeit, an der ich nicht zweifle. Diese Geschichte ist zu verworren, um ausgedacht zu sein. Ich werde eine ganze Weile darüber nachdenken müssen.