Alkohol macht ihn tatsächlich ein wenig gesprächiger, Kryptilds Idee war gut. Seit ich dazu übergegangen bin, zu unseren Gesprächen eine Flasche Wein und zwei Becher auf den Tisch zu stellen, erfahre ich immer mehr von dem, was meinen Akoluthen wirklich beschäftigt.
Das langsame Herantasten an das Thema Vertrauen hat sich gelohnt – er hat es heute von sich aus angesprochen. Sein Unverständnis tut mir in der Seele weh: Es scheint, als habe er tatsächlich noch nie jemanden in seinem Leben gehabt, dem er vertrauen konnte. Es wird Zeit, das zu ändern! Allerdings ist mir bewusst, dass sein Vertrauen in mich nicht ohne mein Vertrauen in ihn möglich ist.
Ich weiß, wann Kryptild den Unterricht, den sie Talfan bietet, üblicherweise beendet, und fange ihn am Perainetempel ab.
“Talfan. Ich habe etwas Wichtiges mit dir zu besprechen.”
Obwohl er mir gegenüber viel offener ist als früher, zeigt sich immer noch ein Anflug von Misstrauen in seinen Augen. Er ist auf der Hut, immer und überall. “Es wäre schön, wenn wir das bei einem gemütlichen Abendessen bei mir zuhause tun könnten – begleitest du mich?”, frage ich ihn direkt.
Er zögert, wirkt ein wenig überrumpelt – offensichtlich hat er nicht damit gerechnet, zu mir eingeladen zu werden, und der Gedanke bereitet ihm Unbehagen.
“Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist”, murmelt er leise in Richtung des Bodens. “Ich muss noch nach meinem Esel sehen. Wäre morgen im Tempel nicht passender?”
Stirnrunzelnd trete ich einen Schritt auf ihn zu. Er will den Abstand zwischen uns wieder vergrößern, doch hinter ihm befindet sich die kleine Mauer, auf der er gelegentlich sitzt, und behindert sein Fortkommen. Ich will ihn nicht bedrängen und schließe die Distanz zwischen uns daher nicht weiter, sondern senke meine Stimme, um ihm einen Grund zu geben, weniger als zwei Schritt Abstand zwischen uns zu halten.
“Was ist los?”, frage ich ihn leise.
Er windet sich, will nicht antworten, weiß aber um unseren Handel, der ihn zu einer Antwort verpflichtet. Ich habe nicht vor, ihn vom Haken zu lassen, und warte geduldig ab, bis er sich endlich zu sprechen durchringt.
“Im Tempel fühle ich mich … sicherer. Dort ist Platz … es ist bisher nie gut ausgegangen, wenn ich woanders in Perainefurten war.”
Daher weht der Wind also. Es ist Zeit, ihm zu zeigen, wie Vertrauen funktioniert.
“Talfan”, sage ich beruhigend, “Meine Familie wird dich nicht einengen. Und ich bin sicher, dass nichts geschehen wird – ich vertraue dir.”
Ich lächle ihn ermunternd an, als er den Blick hebt und meinem begegnet.
Unsicherheit flackert in seinen Augen auf, und er schluckt befangen. Dann nickt er zögernd, und ich spüre Erleichterung mich durchfluten. Es hing so viel von diesem Augenblick ab!
“Begleite mich”, fordere ich ihn auf, und er gibt sich einen sichtlichen Ruck, bevor er zu mir aufschließt und mir nach Hause folgt.
Laut rufe ich nach Turike, als ich die Haustür öffne, wie immer, wenn ich unerwarteten Besuch mitbringe. Mit neugierigem Blick kommt sie aus der Küche, Arlin auf dem Arm, Danja ist ihr dicht auf den Fersen. Zuerst will Danja auf mich zu rennen, sieht aber dann den fremden Mann hinter mir und bleibt auf halbem Weg wie angewurzelt stehen, um Talfan neugierig, aber ein wenig schüchtern anzustarren. Mit zwei langen Schritten bin ich bei ihr, hebe sie hoch und gebe ihr einen Kuss auf ihre weiche Wange, mache dasselbe mit Turike und wende mich dann zu unserem Gast um.
“Darf ich euch meinen Akoluten Talfan von Vascagni vorstellen? Das, Talfan, ist meine Gefährtin Turike Berlind mit unserem Sohn Arlin, und das hier ist unsere Tochter Danja.”
Er begrüßt alle drei mit einem höflichen Nicken, tritt aber nicht näher. Die Unsicherheit, die ich vorhin in seinem Blick sah, zeigt sich nun in seiner angespannten Körperhaltung. Er scheint sich nicht sicher zu sein, was die Etikette, die sein Verhalten mit anderen Menschen hauptsächlich steuert, nun von ihm verlangt.
Danja zappelt in meinen Armen, windet sich, bis ich mich lächelnd auf dem Boden knie und sie absetze. Für ihre gerade mal zweieinhalb Jahre hat sie schon einen starken eigenen Willen!
Kaum berühren ihre Füße den Boden, stürmt sie auch schon los – direkt auf Talfan zu. Mein Herz setzt einen Schlag aus und ich halte den Atem an, warte angespannt, was nun geschehen wird – immer noch knie ich mit einem Bein auf dem Boden. Ich werde es niemals rechtzeitig schaffen, sie einzufangen, bevor sie ihn erreicht. Jetzt wird sich zeigen, ob mein Vertrauen in ihn gerechtfertigt ist.
Ich sende ein wortloses Stoßgebet zu Phex und Travia, als sie bei ihm ankommt, gegen sein Bein prallt und sich quietschend und lachend daran festhält, während sie vor Freude über einen neuen Freund auf und ab hüpft.
Talfans Körperhaltung macht eine eindeutige Veränderung durch, als Danja so an ihm hängt, und auch seine Miene wandelt sich von zunächst Panik zu Überraschung und dann, unerwartet für mich, zu Freude. Sie lässt seine Züge weich werden, wie ich es noch nie gesehen habe. Erstaunt beobachte ich, wie er sich langsam auf ein Knie niedersinken lässt, Danja anlächelt und mit ihr redet. Sein sonst so misstrauisches, vorsichtiges Gebaren macht Sanftmut und Fröhlichkeit Platz, und ich tausche einen verblüfften Blick mit Turike, als ich mich wieder erhebe. Triumph glitzert in ihrem Blick – sie hatte schon immer behauptet, Familienleben täte Talfan gut, und mit einem Lächeln entschuldige ich mich für meine Zweifel.
Danja versucht, Talfan an der Hand ins Wohnzimmer zu ziehen, und er stolpert unbeholfen ein Stück nach vorne, bevor er ihr behutsam seine Finger entwinden kann. Verlegen lächelnd schaut er zu Turike und mir auf, und wir müssen beide lachen, was auch ihn ansteckt.
Noch nie habe ich ihn lachen hören, fällt mir da auf, und in diesem Moment bin ich froh, endlich auf Turikes Bitte bezüglich der Einladung eingegangen zu sein. Im Stillen leiste ich Abbitte bei Phex für meinen fehlenden Mut und meine Zweifel, während Turike Talfan herzlich begrüßt, stets auf die zwei Schritt Abstand achtend, die seine Komfortzone darstellen.
Danja ist ganz vernarrt in Talfan und muss ihm all die Spielsachen zeigen, die sie besitzt. Er wirkt ein wenig verloren, wie er am Tisch sitzt, Spielzeug um Spielzeug in die Hand gedrückt und erklärt bekommt, doch Turike und ich sind froh über Danjas Beschäftigung und nutzen diese Gelegenheit, um das Essen auf den Tisch zu bringen.
Als wir alleine in der Küche sind, grinst sie mich keck an: “Ich habe es dir gesagt!”
“Natürlich hast du das, und wie üblich hattest du Recht, Liebling”, gestehe ich meine Niederlage lächelnd ein, während ich den Topf vom Herd nehme. Dann wende ich mich ernst zu ihr um. “Bitte sei trotzdem vorsichtig mit ihm.”
Sie nickt beruhigend und entwindet dem interessierten Arlin die Löffel, die sie in der anderen Hand hält.
Je länger das Abendessen andauert, desto mehr lerne ich Talfans eigentliche Persönlichkeit kennen. Fasziniert beobachte ich seinen sanftmütigen Umgang mit Danja, dann sogar mit Arlin, den Turike ihm kurzerhand in die Arme drückt, als sie das Geschirr zurück zum Herd trägt. Die Unsicherheit, die ihm dabei anzusehen ist, verschwindet, als sie wieder Abstand zu ihm aufgebaut hat. Als Arlin mit großen Augen seinen Bart betastet, lacht er entspannt und verwickelt Arlin in eine Art Monologgespräch.
Ich beschließe, heute nicht mit ihm über seine weitere Ausbildung zu sprechen. Er wirkt so losgelöst und unbeschwert, wie ich ihn noch nie erlebt habe, und ich möchte ihm diesen Abend gönnen. Turike entlockt ihm geschickt immer wieder einige Details über seine Vergangenheit, und erfreut stelle ich fest, dass er über einen feinen Sinn für Humor verfügt. Ein weiterer Punkt, der Phex sicherlich gefällt!
Der Abend ist entspannt, bis sie ihn fragt, ob auch er Geschwister hat. Traurigkeit spiegelt sich in seinen Augen, als er von seiner Halbschwester erzählt, die ungefähr in Arlins Alter war, als er Punin verließ, und nun in Danjas Alter sein müsste. Nicht einmal ihren Namen kennt er.
Als Turike ihm mitfühlend eine Hand auf den Arm legen will, ändert sich seine Stimmung schlagartig. Er springt so schnell vom Stuhl auf, dass dieser nach hinten umfällt, presst Arlin schützend an sich und bringt Abstand zwischen sich und Turike.
Wir starren ihn erschrocken an, und als ihm klar wird, was er da gerade getan hat, färben sich seine Wangen rot.
“Es tut mir leid”, entschuldigt er sich, stellt den Stuhl wieder auf und setzt sich zögerlich wieder, nachdem er Turike Arlin zurückgegeben hat.
“Nein”, erwidert Turike nach kurzem Zögern, “Mir tut es leid. Rako hat mir erzählt, dass du das nicht magst.”
Dann sieht sie ihm für einen Augenblick in die Augen, bevor sie ihm lächelnd Arlin zurückreicht. “Er schläft gern bei dir.”
Talfan zögert nur kurz, nimmt Arlin dann dankbar wieder auf den Arm, und es dauert nicht lange, bis Turike das Gespräch wieder zurück in die entspannte Atmosphäre geführt hat, in der es zuvor stattfand. Bald ist die Stimmung wieder so gelöst, als habe der Vorfall nie stattgefunden.
Als es Zeit wird, Danja und Arlin ins Bett zu bringen, verabschieden wir Talfan, den ich zum ersten Mal wirklich gut gelaunt erlebt habe.