Der November neigte sich dem Ende entgegen, und bescherte den Bewohnern von Adlerstal die ersten, frostigen Temperaturen. Eines nachts begannen zarte Flocken vom Himmel zu fallen. Erst nur wenige, doch als der Tag anbrach wurden es mehr und mehr, und legten sich wie eine Decke aus Puderzucker über Häuser, Bäume, und Sträucher.
Die dreifarbige Katze Fortuna saß am Fenster des Mehrfamilienhauses, in welchem sie wohnte, und beobachtete mit großen Augen das ungewohnte Schauspiel. Immer wenn Flocken das Fenster berührten, versuchte sie, die Eiskristalle mit der Pfote zu erwischen, natürlich erfolglos. Gähnend streckten sich die beiden anderen Katzen, und gesellten sich zu ihr. Sie beobachteten das Treiben mit gemäßigtem Interesse, da sie es schon kannten.
Ihre Besitzerin schlief an diesem Samstagmorgen noch tief und fest. Sie wurde erst wach, als die ersten Menschen die Fußwege freiräumten, um anschließend Sand darauf zu streuen. Durch die Geräusche von draußen geweckt, setzte sie sich verschlafen auf.
„Mmmh, guten Morgen ihr drei Hübschen…“, begrüßte sie noch müde ihre Katzen. Fortuna gab ihre Jagd auf, und sprang elegant vom Fensterbrett. Sie lief gemächlich zum Bett, und maunzte zur Begrüßung. Maja folgte ihr wenig später. Cupcake hingegen beobachtete weiterhin die Menschen draußen.
Jedenfalls solange, bis Jaqueline aufstand. Mit einem mal sprangen alle drei Katzen auf, und folgten ihrer Besitzerin zur Tür. Sie erwarteten nun wie jeden Morgen ihr Futter. Maja rannte voraus, dicht gefolgt von den anderen. „Es gibt ja gleich was zu Essen, ihr Süßen. Kleinen Moment noch.“, sprach Jaqueline sanft, als sie die Schälchen mit dem Nassfutter drin öffnete, und je eins in die Futternäpfe gab. Ungeduldig sprang Fortuna auf die Küchenplatte, und wollte schon anfangen zu fressen, als Jaqueline den Napf nahm, und auf den Boden zu den anderen stellte. „Gefressen wird hier unten.“, sang sie leise, und lächelte, trotz der aufkommenden Nervösität.
Heute wollte sie Miriam zuhause offiziell als ihre Freundin vorstellen.
Sie und ihre nun feste Freundin waren in den letzten Wochen unzertrennlich geworden. Sie trafen sich meistens nach der Schule bei einer von den beiden. Oder unternahmen draußen etwas. Wodurch Jaqueline oft erst spät nach Hause kam. Dann gab es öfter Ärger mit ihren Eltern. Jaqueline griff in Gedanken daran mürrisch nach den leeren Näpfen, und spülte sie ab.
Ich wünsche mir ein harmonisches Zusammenleben mit meiner Familie, aber seitdem ich mit Miriam gehe, gibt es immer wieder Ärger. Meine Eltern müssen doch mal verstehen, dass ich kein kleines Kind mehr bin, und abends auch mal länger wegbleiben will. Sie schloss die Schranktür mit etwas zu viel Schwung, sodass sie zuknallte. Cupcake erschrak, und flüchtete aus der Küche.
Jaqueline seufzte. Sie hatte sich mit ihrer Freundin beraten, und sie hatten beschlossen, es ihren Eltern zu erzählen. Mein erstes Coming Out, dachte Jaqueline ehrfürchtig und nervös. Sie selbst hatte kaum ein Problem damit gehabt, dass sie Mädchen lieber mochte als Jungs. Doch Jaqueline hatte große Angst davor, wie es ihre Umwelt auffassen würde. Ihr war der erste Kuss in der Öffentlichkeit auf dem Spielplatz unangenehm gewesen, was sie ihrer Freundin auch gesagt hatte. Miriam hatte Verständnis gehabt.
Ihre Gedanken wanderten zu Tessa. Sie schien schon zu wissen, was zwischen ihr und Miriam lief. Ihre beste Freundin, wenn sie das überhaupt noch war, hatte sich sehr verändert. Tessa hatte nur noch giftige Blicke und Schweigen für beide übrig. Jeder Versuch der Klärung war in Streit ausgeufert. Einmal hatte Jaqueline gerade noch eingreifen können, als Miriam auf Tessa losgehen wollte. „Lass mich, die Zicke da nervt mich jeden Tag. Zeit es ihr mal zu zeigen.“, hatte die Blonde gesagt, und Tessa mit erhobener Hand drohend angesehen. Doch Jaqueline hatte schlimmeres verhindern können, in dem sie sich dazwischen gestellt hatte. Es war gerade nochmal gut gegangen. Jaqueline hatte noch die rosarote Brille auf, wodurch sie das Verhalten von Miriam nur abwinkte, und dachte, dass Tessa ja wirklich nervte zur Zeit, weil sie so negativ drauf war.
Miriam hatte deutliche Spuren in ihrem Herzen hinterlassen.
Die Brünette ging zurück in ihr Zimmer. Noch schliefen die restlichen Familienmitglieder scheinbar, denn Jaqueline hörte keine Geräusche aus den anderen Zimmern. Bin ich die einzige, die so früh wach ist?, dachte sie schmollend. Sie überlegte, was nun mit der freien Zeit anzufangen war.
Nach einigen Minuten, beschlich sie ein mieses Gefühl, irgendetwas stimmte nicht, oder sollte nicht sein. Jaqueline ging leise zurück in die Küche, um das Frühstück für ihre Familie vorzubereiten, und um sich abzulenken. Sie grübelte jedoch nebenbei, während sie die Teller und Tassen aus dem Schrank holte, und auf dem Tisch platzierte.
Schließlich merkte sie, dass sie nicht nur nervös war, wegen dem bevorstehenden Coming Out, sondern da war auch Angst. Angst vor etwas Unbestimmtem, welche ihr nun kalte Schauer über den Rücken jagte. Vielleicht bin ich einfach doch noch nicht bereit dafür…, dachte sie bekümmert.
Als alles vorbereitet war, ging Jaqueline rasch zurück in ihr Zimmer, und tippte eine Nachricht an ihre Freundin ins Handy.
Hallo, Miri.. Ich habe das Gefühl, doch noch nicht bereit zu sein, für heute… Tut mir leid. Ich brauche irgendwie etwas Zeit für mich. Sei mir bitte nicht böse. - Jaqueline
Sie überlegte hin und her, ob sie den Text so abschicken konnte, und drückte dann mutig auf senden. Es dauerte nicht lange, da kündigte ihr Handy eine Nachricht an. Nervös nahm Jaqueline ihr Handy, und las.
Kein Problem. Was ist los, Süße?
Ich fühle mich einfach nicht gut. Danke für dein Verständnis. <3
Jaqueline fühlte sich erleichtert. Miriam schien es gut aufgefasst zu haben, dass sie heute mal ihre Ruhe haben wollte. Als sie die ersten Geräusche in der Wohnung hörte, die nicht von den Katzen stammten, stand sie beschwingt auf, und ging in die Küche, um die Familie zu begrüßen. Und um gemeinsam mit ihnen zu frühstücken.
Später am Tag begleitete sie Sonja nach draußen. Der Schnee war liegen geblieben, sodass die beiden Mädchen ihren Spaß mit dem kühlen Nass hatten. Sie warfen sich Schneebälle zu, und versuchten lachend, einen Schneemann zu bauen. Jaqueline genoss die Zeit mit ihrer kleinen Schwester, sie hatte ja in den letzten Wochen, neben der Schule nur Zeit mit Miriam verbracht…