"Es geschah eines Nachts, völlig unerwartet. Ich war vielleicht sieben oder acht Jahre alt. Zuerst bebte die Erde, ganz so, wie wir es hin und wieder im Fernsehen beobachten konnten. Nur vielleicht etwas leichter. Allerdings passierte das dort immer in Ländern, die weit entfernt von hier lagen. Für uns war so ein Erdbeben also etwas Neues. Meine kleinen Schwestern bekamen richtig Angst und schlüpften zu mir ins Bett - schließlich war ich ihr großer Bruder. Sie wussten, ich würde sie immer beschützen. Doch mich selbst hielt es unter keinen Umständen unter der Bettdecke. Ich kletterte über einen Stuhl auf den Fenstersims, gerade rechtzeitig, um einen grellen Blitz zu sehen, sodass mir für ein paar Minuten bunte Punkte vor den Augen tanzten. Mehr konnte ich nicht erkennen, denn dann stürmte unser Vater ins Zimmer und fragte aufgeregt, ob bei uns alles gut wäre. Ich war nur ein bisschen verunsichert, mehr neugierig, aber Vater wollte mir meine Fragen nicht beantworten. Er machte sich stattdessen daran, meine inzwischen verheulten Schwestern zu trösten...
Am nächsten Morgen, auf dem Weg in die Schule, wurde meine Neugier endlich befriedigt. Naja, eigentlich warf der Anblick des gewaltigen Risses im Gemäuer der alten Stadtbibliothek nur viele, viele neue Fragen auf...
Es ist kaum möglich, mit Worten zu beschreiben, was ich dort sah. Die Außenwand der Bibliothek war doch tatsächlich an einer Stelle einfach eingerissen. Der Spalt war bestimmt drei Meter hoch! Nur leider so schmal, dass nicht einmal ich meinen Kopf hindurchzwängen konnte... Und ich kam normalerweise überall hinein. Doch er war breit genug, um zumindest mit einem Auge hindurchzublinzeln. Was man dort sah, war unglaublich. Eine phantastische Welt, bunt und farbenfroh, nicht so grau wie unsere Stadt. Es gab Feen dort und eine ganze Reihe kurioser Geschöpfe, wie ich sie bis heute nie wieder zu Gesicht bekommen habe. Das unglaubliche und zugleich wundervollste war: Diese Welt schien komplett aus Geschichten zu bestehen! Und wenn einmal eine Fee oder ein anderer der seltsamen Bewohner dieses phantastischen Landes von der anderen Seite durch den Spalt blickte, so winkten sie uns immer fröhlich zu und es schien fast, als wollten sie uns einladen, hinüberzukommen. Wenn ich nur hindurchgepasst hätte... Die Feen hätten freilich problemlos durch den Riss schlüpfen können, doch das taten sie nie. Vielleicht war es besser so. Hier bei uns... ach, nein. Jedenfalls war dies das phantastischste Wunder, das ich je erleben durfte."
"Opa! Gab es den Riss wirklich? Was passierte dann? Wieso gibt es ihn nicht mehr? War die alte Bibliothek dort, wo jetzt die neue ist? Bitte erzähle weiter!"
"Ja natürlich gab es den wirklich! Aber was dann passierte... ist eine andere Geschichte. Nur so viel: Es liegt nicht in der Natur der Menschheit, etwas wundervolles einfach da sein zu lassen. Und nun hinein mit euch, ich rieche da die besten Pfannkuchen der Welt! Oma wartet bestimmt schon auf uns."