Luke schreckte auf und rannte panisch zum winzigen Fenster. Hatte er etwa verschlafen? Heute war doch der große Tag! Ein Blick nach draußen ließ ihn aufatmen, denn noch war der Himmel von einem Sternenmeer überzogen. Nur am Horizont verblassten die Lichtpunkte langsam vor einem hellgrauen Streifen. Rastlos machte er sich im Halbdunkel daran, seine wenigen Habseligkeiten zusammen zu suchen. Eigentlich hatte er sie schon am Abend bereit gelegt, doch seine Hände brauchten eine Beschäftigung, um die verbliebenen Stunden zu überbrücken. Bald war es so weit.
Ein Klopfen riss ihn aus seinen Gedanken. "Ja?"
Es war seine kleine Schwester, die mit einem forschen Tritt die Tür aufstieß.
"Luke!" Sie lief auf ihn zu, ihr Gesicht glänzte verdächtig im Kerzenschein.
"Hast du etwa geweint? Du sollst doch nicht traurig sein. Ich komme wieder, das verspreche ich dir! Und dann bringe ich dir etwas Hübsches mit." Die Worte, die sie besänftigen sollten, kamen ihm ohne nachzudenken über die Lippen. Zu oft hatte er sie in den vergangenen Tagen schon gesprochen.
"Aber… nimm mich doch mit!", flehte das Mädchen, während ihr ein erneuter Schwall Tränen über die Wangen lief.
"Du weißt, dass das nicht geht. Außerdem, wer soll denn dann bitte auf Mutter und Vater aufpassen und ihnen auf dem Hof helfen? Die beiden zählen auf dich!" Zärtlich nahm Luke seine Schwester in den Arm und strich mit der Hand beruhigend über ihren Rücken. "Ehe du dich versiehst, werde ich sowieso wieder da sein." Ein halb unterdrücktes Schluchzen war die Antwort.
"Luke", hörte er die Stimme seiner Mutter von unten rufen. "Schau, dass du dich fertig machst, oder willst du etwa zu spät kommen? Und Lilly! Sei ein großes Mädchen und lass deinen Bruder in Ruhe aufbrechen!"
Die Kinder lösten sich aus der Umarmung. Lilly blickte Luke mit großen Augen an und schniefte noch einmal lautstark. Dann nahm er sie bei der Hand, um mit ihr gemeinsam die Treppe hinunterzugehen. Die Fingernägel des Mädchens schnitten in seine Handflächen, so sehr umklammerte ihre Hand die seine. Im Flur wartete schon die Mutter. Auch sie schloss ihren Sohn noch einmal fest in die Arme, aber nur kurz, dann scheuchte sie ihn zur Tür. Es kostete ihre gesamte Selbstbeherrschung, ihren großen Jungen einfach so gehen zu lassen. Sie war sichtlich bemüht, die Abschiedsszene kurz zu halten.
Nun stieg auch in Luke ein beklemmendes Gefühl auf. Es war tatsächlich so weit. Der Abschied von Zuhause. Wer konnte schon wissen, wann er wieder über diese Schwelle gehen würde? Ob er überhaupt zurückkommen würde? Energisch schluckte er den Kloß in seinem Hals hinunter. Jetzt musste er sich zusammenreißen und stark sein – auch vor seiner Familie. Immerhin war es sein Wunsch gewesen...
Draußen stand gedankenverloren der Vater, seine Pfeife im Mundwinkel. Als er Luke durch die Tür treten sah, löste er sich von dem Wagen, an den er sich gelehnt hatte. Er öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, doch kein Laut verließ seine Lippen. So legte er nur eine schwere Hand auf Lukes Schulter und strich ihm mit der anderen zärtlich durch die Haare. Für gewöhnlich zeigte der wortkarge Mann keine Gefühle, doch der Abschied von seinem Sohn lastete deutlich auf ihm.
Auch Luke wusste nicht, was er in diesem Moment sagen sollte. Also flüsterte er nur ein leises "Danke!", bevor er sich von der Berührung löste und sich abwandte. Er atmete noch einmal tief durch, schmeckte die vertraute Luft seiner Kindheit und drehte sich schließlich um. Zögerlich ging er auf das Hoftor zu, immer einen Fuß vor den anderen setzend. Bevor er der Kurve der Straße folgte, wagte er noch einen letzten Blick zurück. Das Bild seiner Eltern und seiner kleinen Schwester, die dort vor der Haustür standen und ihm nachschauten, brannte sich tief in sein Gedächtnis und ließ nun auch seine Augen feucht werden. Doch Luke gab sich einen Ruck und riss sich los. "Stell dich nicht so an!", sagte er laut zu sich selbst. "Du bist nun erwachsen und ein Mann hat nicht zu heulen!"
Der Weg zum Hafen dauerte nicht lange und schon bald erblickte Luke im Morgengrauen die ersten Schiffsmasten. Da war auch die freudige Aufregung der letzten Tage wieder und ließ ihn den Abschiedsschmerz vergessen. Luke beschleunigte seinen Schritt, ja rannte beinahe auf den imposanten Dreimaster zu. Immer war es sein Traum gewesen, zur See zu fahren. Stundenlang konnte er dort am Hafen sitzen und dem Treiben zuschauen. So war es eine wunderbare Überraschung gewesen, als sein Vater ihm einen Platz als Schiffsjunge auf dem Handelsschiff besorgt hatte, auf dem ein alter Freund von ihm als Maat arbeitete. Und heute sollte es endlich so weit sein. Die Schwarze Blüte würde ablegen, und er, Luke, würde mit an Bord sein.
"Hey, Bursche", schallte ein Ruf über den Quai. "Wird Zeit, dass du auftauchst! Komm, dort drüben kannst du dich nützlich machen! Faulenzer kann ich hier nicht gebrauchen!"
Flink rannte Luke in Richtung der angezeigten Vorratskisten und griff beherzt zu. Er konnte es kaum abwarten, seinen Fuß auf die Planken dieses gewaltigen Schiffs zu setzen, sodass er das Gewicht der Waren, die er schleppen musste, kaum spürte. Noch konnte er es nicht ganz begreifen, dass sein Traum in diesem Moment tatsächlich in Erfüllung ging.