Contentwarnung: Essstörung, Depressionen
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Ich stehe vor dem Spiegel. Eigentlich sollte ich alle Spiegel aus meinem Haus verbannen, denn der Anblick macht mich wie immer traurig. Die platten, straßenköterblonden Haare. Die blasse, unreine Haut, die mich noch immer aussehen lässt, wie ein pubertierendes Kind. Die kleinen, spitzen Brüste. Das Speckröllchen um meinen Bauch. Die Cellulite an den Beinen. Ich bin einfach hässlich. Mein Blick wandert zu dem Foto auf meinem Schreibtisch. Der makellose Körper, die seidigen Haare. Tränen benetzen meine Wangen. Wie immer graust mir vor einem neuen Tag, an dem ich mich nicht darum drücken kann, das Haus zu verlassen. Reiß dich zusammen.
Keuchend wische ich mir den Schweiß von der Stirn. Meine Hände zittern und schwarze Punkte tanzen vor meinen Augen. Vor einem guten Monat habe ich mich zusammengenommen und den Anmeldebogen im Fitnessstudio ausgefüllt. Jeden Tag schleppe ich mich dorthin. Ignoriere die Blicke der anderen, der sportlichen Leute, die wie Pistolenschüsse meine mühsam errichtete Schutzmauer durchdringen. Ich muss etwas ändern. Reiß dich zusammen. Reiß dich zusammen. Mein Mantra. Es hält mich am Leben, bringt mich immer wieder dazu, aufzustehen. Zögerlich stelle ich mich einmal mehr auf die Waage. 65 Kilo. Wie kann das sein? Wieso nehme ich nicht ab? Reiß dich zusammen.
Ich strauchle und falle auf die Knie. Seit ich die Nahrungsaufnahme auf ein Minimum reduziert habe, nimmt meine Kraft immer mehr ab. Aber ich kann nicht damit aufhören. Endlich sinkt die Anzeige der Waage. Jedes Mal, wenn ich mich darauf stelle, ein Erfolgserlebnis. Das Hungergefühl wird zu einem stetigen Begleiter, es sucht mich in meiner Einsamkeit auf und ich nehme die Gesellschaft dankend an. Mein Blick fällt auf die "Cosmopolitan" auf meinem Kopfkissen. Diese wunderschönen Köper. Sie schaffen es doch auch. Endlich mache ich Fortschritte, kann mich dem Ideal fügen. Ich stütze mich an der Bettkante ab. Reiß dich zusammen.
Ich stehe vor dem Spiegel, muss mich dabei an der Wand abstützen. Eigentlich sollte ich alle Spiegel aus meinem Haus verbannen, denn der Anblick macht mich unglücklich. Einmal mehr betrachte ich mein trauriges Antlitz. Die spitzen Knochen, die meine Haut überall ausbeulen. Die eingefallenen Augen, die in tiefen Höhlen sitzen. Die noch dünner gewordenen Haare, in deren Mitte sich einige kahle Stellen ausgebreitet haben. Reiß dich zusammen. Aber wofür? Ich bin einfach hässlich. Ich spüre, wie sich der vertraute Geschmack bitterer Magensäure in meinem Mund ausbreitet. Tränen rinnen mein Gesicht hinab. Ich mache einen Schritt und strauchle. Es wird schwarz.
Ein regelmäßiges Piepsen dringt in mein Bewusstsein. Ich versuche, meine Augen zu öffnen, doch es ist viel zu hell. Ich kann mich nicht bewegen. Mit einiger Anstrengung schaffe ich es, meinen Kopf zur Seite zu drehen. Schemenhaft bauen sich Schläuche und Geräte in meinem Blickfeld auf. Aufgeregte Stimmen dringen an mein Ohr. Hände greifen nach meiner. Doch ich kann nicht reagieren. Nebel legt sich über mein Bewusstsein.
Ein neues Opfer der Modeindustrie.
Verblendet von den unzähligen schlanken, makellosen Gestalten,
welche die Öffentlichkeit bestimmen.
Mitgerissen von einem Wahn, der nicht der ihre ist.
Schlanker. Sportlicher. Schöner. Begehrter.
Alleingelassen. Hilflos. Verzweifelt. Verdammt.