Hinweis:
Diese Erzählung ist eine Fortsetzung der Stichworte
"Schmiede"/"Hohlraum"/"Untersuchen"
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Schwere Schritte näherten sich der Zellentür. Zitternd versuchte Jane, ihr Zähneklappern unter Kontrolle zu bekommen. Sie konnte nicht mehr sagen, wie lange sie schon in diesem Loch kauerte, aber die Kälte war ihr mit der Zeit durch Mark und Bein gekrochen. Das Mondlicht hatte ihr zu Beginn zumindest schemenhaft ermöglicht, ihre eigenen Finger zu erkennen, doch nun war es als winziger Lichtpunkt unter die hohe Decke gewandert. Die Nacht musste sich dem Ende zuneigen. Sie fühlte sich, wie in einem Traum. Doch das Kratzen des Riegels riss sie aus ihrer inneren Lähmung. Ihr Blick richtete sich nach vorn in die Finsternis.
Jane umklammerte den Dolch unter ihrem Hemd noch ein bisschen fester und machte sich innerlich darauf gefasst, gleich von vier starken Armen hochgezogen und mitgeschleift zu werden. Raus aus diesem Loch, dafür hin zu ihrem Richter. Wenn sie Glück hatte und es nur zwei Wachen waren, konnte sie die beiden vielleicht überrumpeln. Hoffentlich. Dem Einen einen schnellen Stich in den Bauchraum oder die Achsel verpassen und zugleich den Anderen mit einem gezielten Tritt gegen das Knie oder in den Schritt zumindest kurzzeitig bewegungsunfähig machen. Vorausgesetzt, sie fand überhaupt ihr Gleichgewicht und ihre klammen Finger würden es schaffen, die Klinge festzuhalten…
Die schwere Holztür öffnete sie sich und der hereinfallende Laternenschein war für Janes an die Dunkelheit gewöhnte Augen kaum zu ertragen. Obwohl sie absolut nichts erkennen konnte, bemerkte sie, dass nur eine Person in die Zelle getreten war. Was sollte das werden? Trauten sie ihr so wenig zu, dass sie es nicht einmal für nötig hielten, zwei Wachen zu schicken?
"Na, wen haben wir denn da!", säuselte der Mann. Jane war die Stimme gänzlich unbekannt, doch der süffisante Unterton, der darin lag, ließ einen Kloß in ihrem Hals aufsteigen.
Sehr langsam bauten sich die Umrisse seiner Beine in ihrem Sichtfeld auf. Er war bis auf eine Armlänge an sie herangetreten, zweifellos blickte er gerade genüsslich auf die zusammengekauerte junge Frau herab. Verschlang seine Beute mit den Augen. Angestrengt richtete Jane ihren Blick auf seine wuchtigen Lederstiefel. Getrocknetes Blut?
Im nächsten Moment wurde Janes Kopf gewaltvoll nach hinten gerissen. Da sie noch immer damit kämpfte, ihre volle Sehfähigkeit zurückzuerlangen, hatte sie den Griff in ihren inzwischen aufgelösten Zopf nicht kommen sehen. Die abrupte Bewegung machte sie für einen Moment benommen und nahm ihr die Luft.
"Mach die Augen auf, Püppchen! Ich will, dass du mir gefälligst dabei in die Augen siehst!" Sein Gesicht befand sich plötzlich direkt vor ihrem, sodass sie seinen fauligen Alkoholatem spüren konnte.
Der Wachmann fixierte noch immer ihren Kopf, doch mit der anderen Hand strich er an ihrer Wange entlang, an ihrem Hals hinab, bis zu ihrem Schlüsselbein. Keinen Mucks. Jane wagte es nicht, auch nur mit der Wimper zu zucken, doch in ihr brodelte es. Das würde er büßen. Die Kälte nahm sie schon nicht mehr wahr.
Unter seinen groben Fingern zerriss ihr Hemd, als wäre es aus Papier. Adrenalin durchflutete ihren Körper und sie konnte ein entsetztes Keuchen nicht unterdrücken. "Ha! So ist es brav! Lass es raus!", höhnte die raue Stimme. "Warte nur ab, was ich alles mit dir anstellen werde!"
Drei. Es kostete Jane alle Überwindung, sich nicht zu rühren. Doch der Mann war ein einziges, grausames Muskelpaket, während sie selbst nach dieser Nacht am Rand des Zusammenbruchs stand. Eine voreilige Bewegung von ihrer Seite und er hätte sie in der Hand. Es wäre ihm ein Leichtes, sie so zu fixieren, dass alle Hoffnung verloren wäre. Das durfte sie auf keinen Fall zulassen.
Zwei. Jane fiel unsanft zurück auf den harten Steinboden, als er sie unvermittelt los ließ. Der Schreck ließ ihren leeren Magen verkrampfen und nahm ihr für einen Moment die Orientierung. Sie schnaufte tief und setzte alles daran, sich wieder zu fassen. Leicht benommen tastete sie nach der Klinge, die ihr bei dem Stoß aus den tauben Fingern gerutscht war. Sie hatte sich in einer Falte ihres Hemdes verfangen. Das war knapp. Glücklicherweise hatte ihr Peiniger gerade keinen Blick für solche Details, war er doch vollends damit beschäftigt, an seinem Gürtel herumzufummeln. Jane blieb bewegungslos am Boden liegen und zwang ihn so dazu, sich zu ihr hinunter zu knien, als er es geschafft hatte, sich seiner Beinkleider zu entledigen. Unsanft riss er ihren bis in die Zehenspitzen angespannten Körper herum.
Eins. Mit all ihrer verbleibenden Kraft warf sich Jane in die Bewegung, ihr Arm schnellte gleich einer Bogensehne nach vorn. Für einen Moment schien die Welt stillzustehen, als sein Blick den ihren fing. In Zeitlupe bewegten sich seine Hände, und das eben noch lüsterne Funkeln in seinen Augen wich blankem Entsetzten, als er den Gegenstand berührte. Verzweifelt umklammerten seine dicken Finger das Heft des schmalen Dolches, der in einem schrägen Winkel nach oben unter seinen Rippen steckte. Ein erster Hustenanfall schüttelte den Körper des Mannes, der langsam nach vorn sackte. Mit letzter Kraft rollte sich Jane zur Seite, um nicht unter der massigen Gestalt begraben zu werden.
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Weiter geht's mit dem Stichwort "Vertrauen"