"Boah, gibs schon zu! Wir haben – nein, du hast dich verlaufen!" Julians Stimme hatte einen teils genervten, teils quengeligen Unterton angenommen. "Wenn wir vorhin einfach den normalen Wanderweg genommen hätten... wie geplant..."
"Jetzt hab dich doch nicht so", entgegnete Kai. "Ich habe dir erklärt, dass das eine Abkürzung ist. Die Karte sagt, dass das eine Abkürzung ist. Der Pfad ist bombensicher."
"Wieso wird es dann langsam so düster, dass ich kaum mehr erkennen kann, wo ich meine Füße hinsetze? Wir haben keine Ahnung, wo wir sind, und sollten längst von diesem Hang runter sein!"
"Tu doch nicht dümmer, als du bist. Das liegt natürlich daran, dass die Berggipfel das Licht abschirmen. Eigentlich ist es noch gar nicht so dunkel, aber im Gebirge wirkt das immer etwas krasser." Nun hatte auch Kais Stimme einen harscheren Ton angenommen. Die ewigen Quengeleien seines Freundes gingen ihm langsam gehörig auf die Nerven. Dabei hatten sie sich so auf diese Wanderung gefreut. Zwei Wochen zu Fuß durch die Alpen, die Nächte in den Scheunen gutmütiger Bauern, auf verlassenen Almen oder einfach im eigenen Zelt. Die absolute Entschleunigung. Doch wie es aussah, gingen ihre Vorstellungen eines Abenteuers deutlich aneinander vorbei.
"Ist ja gut", beschwichtigte Julian. "Jetzt umkehren ist sowieso keine Option. Lass uns wenigstens einen Zahn zulegen. Ich möchte unbedingt wieder festen Grund unter den Füßen haben, wenn es wirklich finster wird."
"Hast du etwa Angst?" Die Stichelei kam Kai über die Lippen ohne nachzudenken. "Vor was? Tieren? Wölfen? Monstern?" Seine Stimme wurde schrill. Das Wort Monster schrie er so laut, dass es an den steilen Hängen nachhallte.
Es war kein Geheimnis, dass Julian bisweilen ein wenig Naivität an den Tag legte und zu Aberglauben neigte. Vermutlich war an dem Vorwurf etwas dran, dass er lediglich zu viele Thriller gesehen hatte, die von dem spurlosen Verschwinden von Leuten handelten. Wo des Nachts grausige Mächte zum Leben erwachten. Da war etwa dieser eine Streifen mit den Wendigos... Doch das alles war kein Grund, jetzt, spät Abends irgendwo im Nichts einen Streit vom Zaun zu brechen. Also entschied er sich, die erhitzte Provokation seines Freundes ins Leere laufen zu lassen und mit einem verbissenen Schweigen zu quittieren.
Eine Weile stapften sie stumm hintereinander über den schmalen Gebirgspfad. Mit der Zeit verschwanden die letzten Strahlen des Tageslichts hinter den Gipfeln und auch Kai spürte ein mulmiges Gefühl in seiner Magengegend aufsteigen. Doch er war zu stolz, seine Unsicherheit zu zeigen.
"So. Der eingezeichnete Weg müsste gleich da vorne sein. Um diesen Felsen herum, dann haben wir es gleich geschafft." Kai bemühte sich, die Worte mit einer Portion Selbstsicherheit auszustatten. "Ich habe es dir doch gesagt. Und dann ist es nur noch ein Katzensprung zur Hütte!" Auf eine Antwort seines Freundes wartete er vergeblich. "Sag mal, bist du etwa immer noch sauer? Ich hab's wirklich nicht so böse gemeint. Tut mir leid."
Julian reagierte noch immer nicht. Genervt blieb Kai stehen und drehte sich mit einer harschen Bewegung um. Er wollte ihm ins Gesicht blicken, doch hinter ihm war niemand.
"Juli?" Musste er ihm jetzt wirklich einen Streich spielen? "Komm schon raus. Ich finde das gerade nicht mehr lustig."
Er hörte nur einen Vogelruf in der Ferne. Wo war er nur hin? Wie lange war er schon fort? Ein ungutes Gefühl drückte Kai die Kehle zu.
"Juli!" Krächzte er. "JULIAN!" Er spürte Panik in sich aufsteigen. "JU–LI–AN !!!"
Die einzige Antwort war sein eigenes Echo, das die nackten Felswände zu ihm zurückwarfen, als wollten sie ihn verhöhnen.