Mit einem leisen Stöhnen drehte Patricia sich auf die Seite und vergrub ihr Gesicht im weichen Federkissen. Ihre Schläfen pochten schmerzhaft und ihr Puls ging viel zu schnell für jemanden, der gerade erst aus dem Schlaf gerissen worden war. Schon wieder dieser Albtraum! War sie nicht gerade erst eingeschlafen? Patricia hob den Kopf, um in der Dunkelheit die leuchtenden Ziffern ihres Weckers auszumachen, zugleich fürchtete sie sich aber vor der Uhrzeit, die er anzeigen könnte. Sie fühlte sich wie zerschlagen und keinesfalls bereit für einen neuen Arbeitstag. Doch wo war er? In der Richtung, in der er eigentlich auf ihrem Nachttisch stehen sollte, konnte sie absolut nichts erkennen. Gab es etwa einen Stromausfall? Patricia fröstelte. Das Fenster hätte sie gestern Abend doch schließen sollen.
Mühsam rappelte sich die junge Frau auf und wickelte sich in ihrer Bettdecke ein, um den Sicherungskasten zu suchen. Dennoch zuckte sie zusammen, als ihre nackten Füße den kalten Fußboden berührten. Vorsichtig tastete sie sich in der Finsternis aus dem Schlafzimmer hinaus in Richtung der Wohnungstür, wo sich die Sicherungen befanden. Doch als sie um die Ecke bog, hielt sie erstaunt inne.
Mitten im Gang schwebte etwa auf Brusthöhe ein winziges, aber grelles Licht. Patricia rieb sich verschlafen die Augen. Nahm der Stress nun schon so überhand, dass sie sogar halluzinierte? Doch als sie ihre Augen wieder öffnete, war der Lichtpunkt noch immer da. Patricia stand stocksteif und meinte sogar, dass sich der Lichtpunkt bewegte. Noch einmal schloss sie bedächtig die Lider. Plötzlich war ein leises, hohes Kichern zu vernehmen. Mit einem Mal war Patricia hellwach und riss die Augen weit auf. Was zum..? Wenn das ein Traum war, dann der verrückteste, den sie je gehabt hatte!
"Hey ho! Halli hallo!" Da kam doch tatsächlich ein Stimmchen aus dem Lichtpunkt.
Patricia musste mehrfach schlucken, ehe sie die Worte fand. "Ha– Hallo? Was geht hier vor sich? W– Wer spricht da?"
"Wer? Oder was? Du stellst viele Fragen. Ein Irrlicht bin ich, doch man nennt mich Ayla." Die Stimme klang sehr melodisch, doch war sie so leise, dass Patricia den Atem anhalten musste, um die Worte zu verstehen.
"Ein Irrlicht? Also langsam spinne ich komplett...", murmelte sie vor sich hin.
"Du spinnst? Bist du etwa eine Spinne? Aber nein, du bist ein Mensch! Wie kannst du so spinnen?", piepste die Stimme.
Wow. Okay. Alles klar. Na wenn sie schon so eine rege Phantasie hatte, konnte sie auch mitspielen. Was hatte sie zu verlieren? Noch einmal musste sich Patricia räuspern, um ihre eigene Stimme zu festigen.
"Ein Irrlicht also. Aber was tust du hier? Woher kommst du?"
"So so so sooooo viele Fragen. Ihr Menschen habt immer so viele Fragen", entrüstete sich das Irrlicht. "Was ich hier tue, willst du wissen? Du hast mich doch gerufen! Sooo lange hast du mich gerufen."
"Ich? Dich gerufen? Sorry, aber du musst mich verwechseln..."
"Du! Ja, genau, du! All die Nächte, in denen du dich in den Schlaf weintest? Wo du Nachts wach lagst und in dein Kissen schriest? Du flehtest nach jemandem, der dich erlöst, der dich aus diesem dunklen Loch voll Treibsand herausholt, das ihr Menschen so euphemistisch euren Alltag nennt."
Bildete sich Patricia das ein, oder ging tatsächlich eine wohlige Wärme von diesem winzigen Lichtpunkt aus? Jedenfalls war sie von dieser ungewöhnlichen Unterhaltung zur nächtlichen Stunde bereits völlig in den Bann gezogen.
"Ähm... was zur Hölle? Hast du mich etwa beobachtet? In meiner Wohnung?"
"Aber natürlich. Bei uns gibt es viele Fenster in eure Welt", gab das Irrlicht ungeniert zur Antwort.
"Wow. Das ist ganz schön creepy. Beobachtet von einem Irrlicht. Moment – sagtest du 'bei uns'? Was meinst du damit?"
Wieder kicherte der Lichtpunkt fröhlich. "Das kann und werde ich dir nicht erklären. Du würdest es mir eh nicht glauben. Ihr Menschen seid immer so... borniert."
Patricia wunderte sich, woher es dieses Wort wohl aufgeschnappt hatte. Aber sie ignorierte Stichelei und so sprach das Irrlicht weiter. "Überhaupt bin ich nicht gekommen, um mit dir die ganze Nacht zu diskutieren. Dir alles zu erklären würde Jahre dauern! Und bald geht hier die Sonne auf, bis dahin muss ich wieder fort sein. Magst du nun mitkommen?" Die Wärme, die von dem Lichtpunkt ausging, war inzwischen beinahe greifbar und erfüllte sie mit einer tiefen Ruhe.
"Wie... mitkommen? Wovon sprichst du?"
"Das habe ich doch schon gesagt! Ich habe dein Flehen gehört und bin nun gekommen, um dich aus deiner Traurigkeit und Verzweiflung zu befreien." Es war bemerkenswert, wie so ein hohes Stimmchen so ungeduldig werden konnte.
"Du willst mich befreien? Ich muss zugeben, an meinem Leben liegt mir nicht mehr allzu viel. Es gibt absolut nichts, das mich hier hält. Aber wie soll das gehen?" Sie war erstaunt, wie leicht ihr die Worte von den Lippen kamen. War es wirklich sie selbst, die da sprach?
Das Irrlicht surrte zufrieden. Woher Patricia erkannte, dass es zufrieden war, konnte sie sich selbst nicht erklären, es war mehr so eine innere Ahnung. Verunsichert beobachtete sie, wie der Lichtpunkt anfing, in der Luft einen Kreis zu ziehen, dann noch einen, und dann – schoss er mit einer immensen Geschwindigkeit gegen die Tür. Entsetzt machte Patricia einen Satz nach vorn, nur, um im nächsten Moment wieder zurückzuweichen, als ihre ganze Wohnungstür zu glühen begann. Eigentlich war es mehr ein Leuchten, das immer heller wurde, bis sie nicht mehr hinsehen konnte und ihre Augen mit den Händen abschirmen musste.
"Komm mit mir und ich werde dir die Wunder meiner Welt zeigen. Die Wahl liegt bei dir. Bleibe hier und kehre zurück in deine Welt. Aber denke nicht, dass ich noch einmal zurückkomme. Deine Entscheidung ist völlig frei. Aber sie ist auch endgültig", piepste die bekannte Stimme aus dem Lichtschein heraus.
Patricia blinzelte verstört in das grelle Licht. Dann drehte sie sich um, ihr Blick wanderte den Gang ihrer kleinen Wohnung entlang, der nun wie von einem Flutlicht ausgeleuchtet war. Sie konnte ihre ganzen Sachen doch nicht einfach so zurück lassen. Und was war mit ihrem Meeting morgen Vormittag? Für einige Minuten stand sie hilflos da, hin und her gerissen zwischen dem geheimnisvollen Licht und ihrem Leben, so düster es auch war. Doch was hatte sie zu verlieren? Ihre Neugier siegte. Patricia gab sich einen Ruck und folgte dem Irrlicht in das wundersame Portal.