Araz bewegte sich durch die Schatten der Nacht als würde er mit ihnen verschmelzen. Auf eine gewisse Art tat er es auch, aber nur im übertragenen Sinne. Er bewegte sich schnell und leise, obwohl die meisten Straßen Seelenleer blieben. Zu so später Stunde trieben sich kaum noch Leute durch die dunklen Seitengassen dieser Stadt. Ihm war das ganz recht. Zeugen konnte er nicht gebrauchen.
Während er die Straßen entlang zog, ließ er sich das Ganze noch einmal durch den Kopf gehen. Wenn diese Frau wirklich wusste, wo sein Bruder ist… Ihm würden einige Sorgen von den Schultern fallen. Die anderen würden ihn endlich wieder in Frieden lassen. Nicht nur das, er würde sich seinen Respekt zurückverdienen.
Er bog um eine Ecke, überquerte eine Kreuzung, bog erneut ab. Es war nicht mehr weit. Doch so nah an seinem Ziel schwenkte er eine neue Route ein. Anstatt die letzten beiden Straßen entlang zu gehen, suchte er sich einen Weg auf die Dächer hinauf. Er wollte die Lage sehen, bevor sein Ziel ihn entdecken konnte. Hier oben auf den flachen Dächern der Hochbauten war es gleich um einiges kühler als noch auf den Straßen unten. Doch die Kälte machte ihm nichts aus. Diese spürte er schon lange nicht mehr. Auch den tiefen Abgrund zwischen den Häusern zu überqueren war ein leichtes. Für einen Menschen undenkbar, doch für ihn nicht schwieriger, als einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Er warf einen Blick auf die Straße unter ihm. Tatsächlich wartete die Frau dort bereits auf ihn. Ihr weißes Haar strahlte unter dem Licht der Straßenlaterne geradezu. Er beobachtete, wie sie immer wieder von einem Fuß auf den anderen trat, ihr Blick durch die kreuzenden Straßen streifte. Feine Nebelwolken bildeten sich vor ihrem Gesicht, jedes Mal wenn sie ausatmete. Ihre Haut war beinahe ebenso hell wir ihr Haar, die feinen Tropfen des Nieselregens verliehen ihr einen besonderen Glanz. Wären es andere Umstände, hätte er sie vielleicht angesprochen und auf einen Kaffee eingeladen. Je nachdem wie das Gespräch laufen würde, war diese Option nicht ganz ausgeschlossen. Ein schiefes Lächeln umspielte seine Lippen. Dann sprang er.
Seltsamerweise erschrak die Frau nicht, als er wie aus dem Nichts vor ihr aufgetaucht war. Sie schien erstaunlich gefasst dafür, dass sie sich eigentlich fürchten sollte. Eine Weile lang sagte niemand etwas. So aus der Nähe betrachtet wirkte es noch viel mehr, als ginge von ihr ein eigenes Licht aus. Aber das konnte nicht sein. Das weiße Haar, die helle Haut, das Licht der Straßenlaterne und die Dunkelheit der Nacht um sie herum erweckten dieses Trugbild vor seinen Augen. Doch er konnte sich nicht losreißen. Ihre Augen trafen sich und er war wie gebannt. Ihre blassgrünen Augen strahlten, als leuchteten sie von Innen heraus. Kontaktlinsen? Sicherlich, das musste es sein. Oder konnten die Augen der Menschen tatsächlich so hell strahlen? Ihr eindringlicher Blick bohrte sich tief in ihn hinein. Das helle Grün ihrer Augen ließ ihre Iriden aus der Nähe wie zwei Kristalle erscheinen, in deren Mitte die Pupillen tiefe, schwarzen Abgründe bildeten, in denen man sich nur allzu leicht verlieren konnte.
Schluss damit. Er war wegen wichtigerem hier. Es musste nach seinem Bruder fragen. Doch gerade, als er seinen Mund öffnen wollte, bemerkte er die Rauchschwaden, die sich um sie herum bildeten. Hinter ihm. Eine weitere Person, weiblich, etwas älter als die Frau vor der er eben noch gestanden hatte. Unweit von ihr entfernt der Ursprung des plötzlich aufgezogenen Rauchs, der sich augenblicklich durch seinen Körper fraß. Nein! Unmöglich! Eine Falle?! Wie konnten sie es wagen! Die Wut schoss wie Adrenalin durch seinen Körper. Er spürte die Verwandlung kaum, doch er konnte sie in den geweiteten Augen der älteren Frau sehen. Bevor sie sich weiter bewegen konnte, hatte er sie bereits an der Kehle gepackt. Was glaubten sie nur, wen sie hier vor sich hatten?
Bevor seine Pranke ihr Gesicht von ihrem Körper trennte, wurde er grob zu Boden gestoßen. Hustend und röchelnd versuchte er sich so schnell es ging wieder aufzurappeln. Wie konnte es sein, dass ihm die Bewegungen so schwer fielen? Dass ihm Augen, Nase und Rachen brannten, als steckte er in Flammen? Es konnte nur vom Rauch her stammen. Wütend stieß er ein tiefes Knurren aus. Verflucht. Er war also tatsächlich in eine Falle getappt? Wie erbärmlich. Er suchte nach einem Ausweg. In dieser Lage würde er nicht lange durchhalten können, egal wie sehr er die beiden Frauen auch in Stücke reißen wollte.
Doch er kam nicht weit. Die jüngere Frau hatte sein Vorhaben erkannt. Er hörte den Knall und spürte den Schmerz sofort. Ächzend kippte er wieder auf den Boden, als die Kugel ihn ins Schienbein getroffen hatte und der Schmerz durch seinen ganzen Körper jagte. Sie wartete nicht auf seine Reaktion, sondern feuerte direkt ein zweites Mal, direkt in seine Schulter. Verflucht. Die junge Frau baute sich unweit vor ihm auf und hielt die Waffe direkt auf seine Brust gerichtet.
„Was wollt ihr?“, zischte seine vom Husten heißere Stimme zwischen den scharfen Reißzähnen hervor. Seine glühenden Augen fixierten die Ihren, wurden aber von mehrmaligem blinzeln unterbrochen. Blutige Tränen liefen langsam entlang seiner Nase nach unten. „Informationen“, antwortete die Frau kühl. „Wir vermissen einige unserer Leute.“ Für einen Moment hätte er fast gelacht. So war das also. Wie ironisch. Sie hatten ihn mit seinem Bruder geködert, dabei suchten sie selbst nach ihren eigenen Leuten. Er musterte sie mit funkelnden Augen. „Du gehörst zu den Rebellen“, stellte er zischend fest.
„Gibst du uns die Informationen freiwillig, oder müssen wir nachhelfen?“
„Woher glaubt ihr zu wissen, dass ich euch helfen könnte?“, entgegnete der Vampir. „Was lässt euch glauben, ich wäre bereit, meine Familie zu verraten?“
„Du wirst keine andere Wahl haben.“