Schwer atmend kniete sich Hina hin und betrachtete den Eingang, den sie mit einem Fernglas besser sehen konnte. Durch die Vergrößerung erkannte sie durch die Fenster und der verglasten Tür, dass niemand außer der Wirt selbst in dem heruntergekommenen Hotel war. Schweiß rann ihr über den Rücken und sammelte sich ebenfalls auf der Stirn, doch Hina wischte diese Flüssigkeit nicht weg. Nichts durfte ihre Konzentration jetzt stören. Nicht, wenn sie so nah an ihrem Ziel war.
Die junge Frau befand sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite zwischen einzelnen Häusern, welche eine kleine Sonnengeschützte Gasse bildeten. Wenngleich die Schwüle ihren kleinen zierlichen Körper schadete, weil sie die heißen Temperaturen und stechenden Sonnenstrahlen einfach nicht gewohnt war, sehnte sich Hina nach Wasser und Kühle. Auch wenn sie zwischen den Häusern weniger Sonne abbekam, würde die hohe Feuchtigkeit ihr noch den Rest geben. Doch davon wollte sie sich nicht ablenken lassen. Die Fäuste ballten sich, als Hina ein Kribbeln am Arm spürte.
Es war mehr eine Intuition, als sie die nasse Haut am Arm kurz betrachtete und sich danach wieder auf das Gebäude konzentrierte.
Ihr Vater beobachtete sie. Ihren Herzschlag, ihre werte, ihre Körpertemperatur. Auch wenn er nicht durch ihre Augen sehen konnte, was sie gerade betrachtete, konnte sich Hina ebenfalls vorstellen, dass allein durch ihre Daten des Körpers er sich gut einbilden konnte, was mit ihr aktuell passierte.
Seitdem sie den Auftrag gezwungenermaßen angenommen hatte, hatte sie ihre Quellen angezapft. Inoffizielle Informationen waren innerhalb weniger Zeit zu ihr gelangt, sodass sie wusste, wo sich der Flüchtling befand. Ein Anruf bei der Polizei eines eingeschüchterten Wirtes, welcher behauptete, ein Cosplayer und ein weiter dünner Mann seien in sein Hotel eingebrochen und würde ihn bedrohen. Die Beamten nahmen ihn nicht für voll, doch der Beschreibung der Personen und dem Umstand nach, dass dieser der einzige Anruf zusammen mit dem örtlichen Bezug der Einrichtung von Comet war, war für Hina klar gewesen, dass das ein Zeichen sein musste. Dann hatte sie es geschafft, den nächsten Flug nach Texas zu buchen und wartete nun vor dem Hotel, das mehr einer Bruchbude gleichkam, auf ihre Zielperson.
Doch einige Dinge verwirrten sie. Wie konnte es sein, dass der Mann im Hörer von zwei Personen gesprochen hat? Ihr Vater hatte doch von einer Zielperson gesprochen. Und wieso musste grade sie diesen Auftrag ausführen? Dazu gab es doch speziellere Jäger, die ihren Auftrag schneller und diskreter abarbeiten konnten. Wollte Mors etwa, dass sie sich bewiesen musste? Hatte er größeres mit ihr vor? Oder wollte er sie nur wieder bloßstellen?
„Nein“, sagte sich Hina. Damit verbandte sie alle Gedanken, die sie verunsichern konnten und band ihre Haare zu einem Zopf zusammen. Nebenbei trank sie den letzten Schluck aus der Wasserflasche und fixierte weiterhin den Eingang.
Wäre das Hauchen des Winds nicht zu ihrem Ohr gelangt, hätte sie das leise Knirschen des Kieses gar nicht bemerkt. Sofort spannte sich ihre Muskeln an und sie lauschte weiter. Ihr Puls wurde unruhiger, das Herz klopfte in ihrer Brust. Ohne, dass in ihrem Blickfeld etwas passierte oder sich bewegte, hörte sie ein weiteres Knirschen. Dann ein Knacken. Es dauerte eine Weile, bis Hina diese Geräusche zuordnen konnte, doch nun war sie sich sicher. Und sie grinste leichte in sich hinein.
Leise schritt Hina voran, bis sie an die Wand des Hotels ankam. Bevor sie sich dem ihr unbekannten nähern wollte, wollte sie ihn erst ausspionieren. Es gelang ihr, leise und bedacht vorzugehen, ihre Atmung ruhig zu halten und auch das Wummern in der Brust zu reduzieren. Schnell nahm sie einen Dolch aus dem Halfter an ihrer Seite und lauschte in die Gasse. Was sie zu sehen bekam, ließ ihren Atmen stocken.
Weiße Haare, die wie schmelzender Schnee in der Sonne aussahen, ragten bis zu der Schulter wirr herunter. Die Farbe brannte in ihren Augen, doch wegsehen konnte sie nicht. Zwischen den Strähnen lugte die sonnengebräunte Haut hervor, nachdem sie die Muskulatur am Rücken erkannte. Der Mann war von großer Statur und kräftig gebaut. Er wog sicherlich das dreifache von ihr selbst. Aus Reflex drückte sie sich näher an die Wand, als würde der Unbekannte sie nicht entdecken können. Hina unterdrückte jedwehige Reaktion, denn das würde sie nur verraten. Mehr als das Blut am ganzen Körper und der Haut überraschte sie auch das Schwert an der Seite. Es wirkte so altertümlich, so vollkommen normal im Gegensatz zu ihren Vorstellungen ihrer Zielperson. Als wäre dies vor ihr ein vollkommen normaler Mann, wenn seine Statur, seine Kleidung und seine Flucht aus dem wohl ihr bekanntesten Hochsicherheitsgefängnis nicht wären.
Wie hatte dieser Mann es geschafft, ihrer Hölle zu entfliehen? Hina konnte nicht anders, als diese Frage frei im Raum schweben zu lassen. Doch eine Antwort würde sie erst dann bekommen, wenn sie ihn wieder hinter Schloss und Riegel verbannt hatte. Wie auch ihre Gefühle schloss sie jegliche menschliche Reaktion in einen innerlichen Tresor. Plötzlich wurde alles still, ruhig. Als würde die Zeit stillstehen. Hina sah unentwegt dem Mann auf dem Rücken, der es nicht wagte, sich umzudrehen.
Und dann rannte er einfach los.
Hina unterdrückte einen Fluch wie auch ein Keuchen. Leise wie der Tod schlich sie zwischen den Schatten umher und folgte dem rennenden Mann. Ziellos führte er beide durch die einsamen Gänge und Gassen der verwaisten Stadt. Der Himmel verfärbte sich durch die untergehende Sonne langsam Violett, bis orangene Fäden das Gelb durchzogen und das Schwarz und Dunkelblau die Oberhand hatten. Die erwartete Kühle blieb aus, doch Hina würde allein deshalb nicht aufhören zu schwitzen, weil sie die Rolle der Jagd getauscht hatten. Nicht sie war die Jägerin, er machte sie zur Gejagten.
Irgendwann verlor sich seine Spur außerhalb der Stadt, bis sie stockend hinter einer Mauer stehen blieb und durch das Gespür und ihrem Fernglas versuchte, den Flüchtenden zu finden. Doch nichts als Schwüle, Dunkelheit und trockenen Luft erfasste sie.
Allerdings nahm sie einen anderen Geruch wahr, als sich ein Körper an ihren presste und sie schweren Kleidung an ihrem nassgeschwitzten Oberteil spürte. Ein warmer Atem strich über den mit Gänsehaut behafteten Körper. Ein leises Raunen fegte ihre Sorgen und Zweifel weg und machten Platz für Angst und Neugier, für Panik und Abscheu. Und für ein Gefühl, das etwas Vertrautes beherbergte. Als würde sie den Unbekannten irgendwoher kennen. Und doch wusste sie, ohne wirklich hinzusehen, dass ihre Zielperson sie hinters Licht geführt hatte.
„Seid Ihr die Wiedergutmachung meiner Gefangenschaft oder lediglich eine Zwischenspeise für den herrlichen Abend?“