Die Kopfschmerzen waren es, die Hina aus der Ohnmacht brachten. Das dumpfe Stechen und Pochen an ihren Schläfen sorgte dafür, dass sie nicht wusste, wo sie war, wo sie jemals gewesen war und eigentlich noch hinwollte. Ihre Ideen, Wünsche und Vorstellungen, Aufgaben und selbst ihr Ich fügte sich erst nach und nach zusammen, als sich ihre Luft mit Lungen füllten und der Sauerstoff nach und nach an ihrem Gehirn ankam. Die eiskalten Temperaturen war sie gewohnt, deshalb dauerte es eine Weile, bis Hina sie bemerkte. Ihre jahrelange Gefangenschaft bei ihrem Vater hatte sie gelehrt, die äußerliche Kälte nicht an sich heranzulassen. Ihre Ohren lauschten in der Dunkelheit, sie wagte nicht, sich einen Zentimeter zu bewegen. Doch sie konnte nicht umhin, ihre steifen Gelenke durch leichtes Heben und Senken ihrer Glieder mehr Leben einzuhauchen.
Genau jetzt bemerkte sie ein Rascheln, das nur durch metallische Ketten erzeugt werden konnte. Glücklicherweise wusste sie auch, wer in Ketten gelegt war. Nämlich sie. Ihre Schmerzen an Schulter und Knöchel wurden also von diesem schweren Eisen verursacht. Genau konnte Hina es nicht bestimmen, denn ihre Kräfte waren am Ende, als wäre sie einen Marathon gelaufen. Atemlos rüttelte sie an dem Metall, bis sie hoffnungslos feststellte, wie wenig es brachte. Durch raupenähnliche Bewegungen erkannte Hina innerhalb weniger Sekunden, wie die Ketten sie wohl umwickelten. Und auch, dass dies keine reine Dunkelheit war, die sie umschloss.
Sie robbte ein paar Meter weit, bis sie schließlich ein Ziehen an ihrem Unterleib erkannte. Also waren ihre Füße an einer Kette befestigt und dieses Ende wohl am Boden oder an der Wand verankert. Doch genau konnte Hina es nicht bestimmen, denn das Keuchen ihrer Kehle ließ nur erkennen, wie groß die Halle war, die sie umgab. Entweder nicht wirklich möbliert oder eine Art Gefängnis, in das sie geraten war. War ihr Vater denn wirklich so kreativ, sie in Ketten zu legen, wenngleich er sie viel eher hätte leiden lassen können?
Die letzten Momente ihres Kampfes ließen nicht lange auf sich warten.
„Thiana?“, flüsterte Hina in die Stille. Das Wort kam tonlos wieder zu ihr zurück. Wäre die doofe Augenmaske nicht, würde sie wenigstens etwas erkennen können. Doch ihre Muskeln im Gesicht, so sehr sie sich auch anstrengte, verhalfen sie nicht zu sehen. Diese Maske saß so fest wie die Ketten, die ihre Arme am Rücken festhielten und ihre Beine am Laufen hinderten. Selbst Aufrichten war schwierig, denn Hina fand nach mehrmaligen Herumrobben keine Wand, an der sie sich abstützen konnte. Überraschenderweise fand sie heraus, dass diese Verankerung, die ihre Ketten verbanden, nicht am Boden war, denn sie schwangen seltsam bei jeder Bewegung ihres Körpers mit.
Die Ketten hängen von oben herab?, dachte sie sich. Wie kann das sein?
Was war das nur für ein seltsamer Ort? Egal wie sehr sie sich anstrengte, sie verstand nicht, weshalb sie hier war oder was überhaupt in dem Zeitraum passiert war, als sie im Land der Träume gewesen war.
Wobei das ein ziemlich düsterer Traum war, bemerkte sie trocken, während Hina sich mühevoll aufzusetzen versuchte. Ein bisher ihr unbekannter Zuschauer hätte ihre Anstrengungen sicher auf Kamera genüsslich mit angesehen und ihre Bemühungen, frei zu kommen, als dumm oder naiv abgestempelt. Doch sie war ihrem Vater entkommen, also würde sie vor diesem Kerkermeister sicher nicht klein bei geben.
Als würden ihre Gedanken einen Schalter umgelegt haben, blitzten plötzlich von allen Seiten Lichter auf sie ein. Durch ihre Augenmaske erkannte sie diese nur durch umrissen, bis jemand oder etwas den Stoff gewaltsam aus ihrem Gesicht riss. Hina hatte danach direkt in einer der Lampen hineingesehen, die auch Neonscheinwerfer hätten sein können, so grell beleuchteten sie den Raum. In den Sekunden, in denen sich die Augen nach und nach an die Helligkeit gewöhnten, erkannte die Schwarzhaarige metallische Wände, einen langweiligen Boden und das Klackern von Ketten, die durch die Hektik in Schwung geraten waren. Als ein erneutes Klicken zu hören war, verstand Hina sofort, dass das Ziehen an ihrem Köper sicher nicht von ungefähr kam. Erschrocken wich der Blick von dem Raum zu den schwingen Ketten, die nach und nach aufgerollt wurden. Sie wurde in die Höhe gezogen, ohne, dass sie sich wehren konnte. Hina schrie nicht, aber wehrte sich mit allen Kräften. Erfolglos.
Ein spontanes Klatschen erklang, das mehr Ironie ausstrahlte als die Tatsache, dass sich Hina direkt nach ihrem Freiheitskampf wieder in Gefangenschaft befand. Dann erfolgte ein Hüsteln. Unterdrückte jemand etwa ein Lachen? Das Mädchen hörte auf sich gegen größere Kräfte zu wehren, bis auch das Aufrollen der Ketten endlich sein Ende fand. Kopfüber hing sie nun, schwang Hin und Her und sah zu, wie ein Umriss in den Schatten langsam Gestalt annahm. Sie knurrte wütend, bellte fast und fühlte sich wie ein Hund, während das Blut ihr in den Ohren rauschte, das Pochen immer unerträglicher wurde und schließlich auch ihr Blickfeld ihr den Schwindel voraussagten.
„Ich bin wirklich sprachlos“, erklang ein sarkastischerer Kommentar. Die dunkle Gestalt trat in das Rampenlicht, umringt von den Lichter, die Hina immer noch blendeten. Die weißen Punkte vor ihren Augen machten es nicht besser, ihn zu erkennen. Doch diesen Ton erkannte sie.
„Du hast mir aus der Zelle geholfen“, bemerkte sie im Flüsterton, da sonst ihr Kopf zu sprengen drohte.
„Ja, kann man so sagen.“ Der Mann, nicht größer als sie selbst, klatschte wieder. Die Vermutung der Größe widerrief Hina sofort. In ihrem Zustand wäre sie froh, nicht wieder ohnmächtig zu werden. „Und irgendwie bereue ich es nicht, dich hier angekettet zu haben.“ Das sprach für sich, und zwar deutlich.
Fuchsrote Augen stachen durch das blassen Gesicht, die braunen Haare waren zurückgegelt, bis die Strähnen fettig in dem Licht glänzten. Der schwarze Anzug mitsamt schwarz lackierter Fingernägel umrahmte Hinas Gedanken, den Mafiaboss höchstpersönlich vor sich zu haben. Nur das Alter passte nicht ganz.
„Bin ich bei der Mafia oder wieso hänge ich hier rum wie ein Stück Trockenfleisch?“ Die Frage kam ohne nachzudenken. Ihr Gegenüber kam näher, blinzelte vergnügt und lächelte triumphierend. Doch seine Augen sprachen eine andere Sprache und Hina wappnete sich, eine gefangen zu bekommen.
„Nun, zum Fraß vorwerfen könnte ich dich, aber dazu bist du leider zu wertvoll für mich“, gurrte er und kam näher, bis sich ihre Nasenspitze und seine fast berührten. Hinas Kopfschmerzen übernahmen ihren Verstand, sodass Logik von Übelkeit überdeckt wurde. „Häng mich ab, sonst kotze ich dich gleich an“, machte Hina deutlich und musste einmal aufstoßen, bevor sie zu Ende sprach. Doch der Fremde wich nicht zurück. Im Gegenteil, er kam sogar näher.
„Ich werde nur unter einer Bedingung deiner Bitte folgen, meine Liebe“, die Warnung kam bei ihr an. „Ich brauche dich, und du wirst mich brauchen. Es wäre also ein gegenseitiges Vorteil.“ Moment, er brauchte sie? Bei was bitte?
„Wenn du meinst, ich solle meinen kühnen Retter huldigen, dann bist du schief gewickelt, mein Freund. Ich will hier runter!“ Je mehr sich Hina wehrte, desto mehr kam ihr der Speisebrei wieder hoch. Sie unterdrückte mit eisernem Willen diese Schmach und funkelte den ordentlich gekleideten Mann nun finster an. Er grinste ihr zu wie ein alter Schulfreund, der ein Geheimnis von ihr erraten hatte, ohne, dass sie es preisgeben wollte.
„Frech wie ein Kätzchen“, stichelte er und Hina reagierte ohne nachzudenken. Sie fauchte wütend und sorgte dafür, dass sich ihr angebundener Leib in seine Richtung schwang. Er trat einen Schritt zurück und sie verfehlte ihn nur um Haaresbreite. Verdammt!
„Nun gut, ich lasse sich mal hier hängen. Wenn du es endlich mal schaffst, dich von den Ketten loszueisen, dann kannst du gerne nebenan auf einen Kaffee vorbeikommen. Mit Karamellsirup schmeckt er besonders lecker“, lächelte er, lief Richtung Ausgang und drehte sich kurz vorher noch einmal um. „Die Tür steht dir jederzeit offen.“
„Soll dich der Teufel holen!“, schrie Hina ihn an, ihren Frust rauslassend. Ihre Ohren vernahmen noch ein trockenes Lachen, bevor sich die Halle wieder in Dunkelheit tauchte. Immerhin konnte ihre Verzweiflung sie nicht mehr bedrängen, wenn sie ihre Kräfte für nutzlose Kommentare opferte.
Verdammt. Das war das einzige Wort, dass ihr über die Lippen kam, ehe sie erwartete, wieder heruntergelassen zu werden. Doch nichts geschah außer ein leises Ploppen, ehe die Stimme des Mannes durch einen Lautsprecher drang: „Meine Süße, ich sehe dir gerne beim Hängen zu. Aber so leicht mache ich es dir auch wieder nicht. Die Ketten sind speziell angefertigt für Wesen wie uns, also nicht nur bloße Metallverbindungen. In der Zwischenzeit mache ich es mir mal hier bequem und genieße die Show.“
Hina knurrte entnervt und drückte sich gegen das Metall. Erfolglos. Nur mehr Hin und Her-Schwingen, bis sie schließlich selbst das Fluchen einstellte und nachzudenken versuchte.