Noch lange suchte Hina nach dem Krieger, doch ihn fand sie selbst nicht, nachdem sie sich verlaufen hatte. Einen konkreten Lageplan des gesamten Gebäudes hatte sie nicht. Ebenso wenig wusste sie, wohin dieser plötzliche Rachegott eigentlich hinwollte. Allerdings war es einfach, ihm zu folgen, wenn Hina die zweigeteilten oder zerstückelten Leichen am Rande der Gänge betrachtete. Ihr machte dieser Anblick nicht zu schaffen, doch irgendwie wusste sie insgeheim, dass keiner der dort liegenden Toten je eine Chance gehabt hätte, gegen den Krieger anzukommen. Oder je die Chance zur Flucht hatte. Ohne jegliche Schuld hievte Hina ein noch volles Gewehr mit Ersatzmagazinen auf den Rücken und in die Taschen, ein Messer an den Oberschenkel und mitsamt dem Schwert an ihrer Seite kam sich Hina vor wie eine Ein-Frau-Armee. Wenigstens war sie jetzt im Kampf gerüstet, wenn ihr einer bevorstand.
So sondierte Hina die Lage, war an sich auch froh, keine wirklichen Kämpfe aktuell bestreiten zu müssen, um ihre Kräfte zu sparen und sich über alles weitere Gedanken zu machen. Zum Beispiel, wie sie reagieren sollte, wenn der Mann sie selbst auch als Feindin betrachtete? Außerdem verfluchte sie erneut ihren Vater, der wohl ein Faible für verwirrende Gänge und verwinkelte Flure hegte. Egal wo Hina abbog, sie fand entweder einen Leichenberg oder gespenstisch stille Flure vor sich. Alle ihre Sinne ausstreckend fand schließlich die junge Frau, wonach sie suchte und folgte ihrem Gefühl einen Stock höher.
Im Treppenhaus angekommen türmten sich die Toten an dem Geländer, den Ecken und selbst den Stufen, sodass es mehr einem Bergsteigen gleichkam, so sehr musste Hina über diese klettern. Es überraschte sie wenig, wie viele Soldaten ihr Vater eingestellt hatte. Doch mehr und mehr wurde ihr auch bewusst, was ihr Vater tatsächlich trieb. Verformte Nasen und Hände zeigten eine teilweise erfolgte Verwandlung der Gestaltenwandler, die wohl insgesamt mehr waren als nur bloße Menschen. Kratzspuren an den Wänden wiesen sie vermutlich als weitere Fenriswölfe aus. Es waren Versuche ihres Vaters gewesen, wohl welche, die ihm geglückt waren. Hina wusste aus ihrer früheren Zeit, als ihre Kräfte noch im Wachstum waren, dass es auch missglückte Objekte gegeben hatte, die schnell den Tod fanden. Durch ihre Hände.
Schnell huschte sie über die Toten hinweg, sorgte dafür, sich nicht allzu sehr mit dem aufkommenden Hass leiten zu lassen. Schweißnass waren ihre Hände so oder so schon, so ekelhaft der Anblick vor ihr auch war. Keuchend unterdrückte Hina das Verfluchen, denn bloße Worte würden ihren Vater nicht unter die Erde bringen. Ihr bot man eine Chance, endlich etwas richtiges zu tun, also sollte sie sich darauf konzentrieren, hier weg zu kommen, als der Tatsache, ihrem Vater jede einzelne Tat im Geiste vorhalten zu wollen. Er würde sie ohnehin nicht hören, es sei denn, er hatte sogar das Gedankenlesen gemeistert. Wundern würde Hina das nicht.
Oben erwartete Hina eine offene Tür zu einem kreisrunden Raum, den sie selbst noch nie gesehen hatte. Die Flügeltüren hingen nur noch an den Angeln. Langsam und mit Vorsicht bahnte sie sich ihren Weg durch den rot beleuchteten Ort, der ihr bekannt vorkam. Gläser mit Flüssigkeiten, Maschinen an den Wänden, die irgendwelche Messungen durchführten und Tische voller Papiere, Computer der mondernsten Technik und allerlei Dinge, die ein Labor von einem Verrückten sonst noch aufwies. Hina war im Zentrum des Gebäudes gelangt. Doch von ihrem Vater fehlte jede Spur. Hoch säumten die Wände, zeigten durch die gläserne Decke das Tageslicht, das von der Meeresoberfläche seltsam friedlich gebrochen wurde. Alle Gerätschaften in dem Labor wirkten sauber, klinisch und selbst das Desinfektionsmittel in der Luft wirkte wie ein Besuch in einem Altenheim. So ruhig und ausgeglichen sah man am Boden die Spiegelung der sanften Welle und das fast vom Sonnenuntergang immer schwächer werdende Licht trübte den Raum. Hina musste aufpassen, sich davon nicht beirren zu lassen. Kalter Schweiß brach in ihr aus, als sie erst jetzt erkannte, dass die Sirene ausgeschaltet war.
Um zu dem Zentrum des Labors zu gelangen, kletterte Hina über eine Treppe. Sie hatte gar nicht gewusst, an was ihr Vater eigentlich forschte. Nur, was dieses Objekt am Ende für ein verdammtes Schicksal haben würde und das wünschte sie keinem. Mit dem Gewehr im Anschlag kniete sich Hina hin, ihre Augen huschten über jegliche Versteckmöglichkeit der vorhandenen Schränke und Maschinen. Ihre angespitzten Ohren erhaschten kein Laut, ihre weiteren Sinne kein Wirken von Magie. Wo war der Krieger abgeblieben? Trotzdem konnte sie nicht umhin, das abgesenkte Zentrum zu bestaunen, das mit jedem weiteren Schritt erkenntlicher konnte. Immer wieder drehte sich Hina um, sicherte ihre Rückseite und stapfte schließlich ohne Vorsicht hinein. Wie erwartend war ihr Vater verrückt, doch dermaßen intelligent. Diese Kombination machten aus dem Unscheinbarem einen vollkommen gefährlichen Gegner. Als sie sich sicher war, keinen in ihrer Nähe zu haben, nahm sie sich die Zeit und starrte in den Behälter.
Wie in einem SciFi-Film stand ein großer Zylinder im Raum, angeschlossen an hunderte Maschinen, verbunden mit ihnen durch dicke Schläuche. Manche der Geräte blinkten auf, sprühten Flüssigkeiten in die bereits grüne Glibbermasse, in welchem eine Person schwamm. Schwimmen konnte man es nicht nenne, eher schwebte die Person. Mit einer Atemmaske im Gesicht erkannte man deren Strukturen nur schwach, die Augen geschlossen, die feuerroten Haare in der Masse schwimmend. Eine Frau, wie Hina an den Proportionen erkennen konnte. Sie war nackt, aber schien sich nicht daran zu stören. Als Hina näherkam, erkannte sie eine Markierung an ihrem Hals, als wäre dies eingebrannt worden: C-56-A7. Ein Versuchsobjekt. Einmal um den Zylinder gelaufen sah Hina keine typisch unmenschliche Erscheinung. Weder scharfe Klauen, noch unnötige Haarbüschel auf der Haut, noch zusätzliche Extremitäten außer zwei Arme und Beine. Wieso entwickelte Dr. Mors ein Wesen, das typisch menschlich war? Nein, irgendetwas war an ihr, das Hina nicht deuten konnte. Doch keine magischen Spuren an ihrer Haut ließen das Mädchen aufschrecken. Nun, sie wollte diesen Schlaf nicht stören, schließlich war sie hierhergekommen, um weiter nach einer Fluchtmöglichkeit oder dem Krieger zu suchen.
Kaum hob Hina die Waffe in den Anschlag, als ein eiskalter Hauch über ihren Nacken strich, augenblicklich eine Gänsehaut sich ausbreitete und selbst ihre Sinne ihr Maximum erreichten, als sie ein stechendes und keckes Lachen hörte.
„Willkommen, meine Schöne.“ In einem Lautsprecher über ihr erklang eine ihr nicht vertraute Stimme. Das Mündungsrohr zielte in die Dunkelheit, der Abzug wurde gedrückt. Hina ging in Deckung, schoss zweimal in die Richtung, aus der die Stimme kam. Klackernd fielen die Teile des Lautsprechers zu Boden, während ihre Augen nach einer Gestalt suchten. Hina fuhr alle Gedanken und Gefühle hinunter, die ihr in den Sinn kamen und konzentrierte sich auf ihren plötzlichen Gegner.
„Nicht doch!“, murmelte sie wieder. Erschrocken fuhr Hina hoch, sah eine weitere Box mit Lautsprecherfunktion. Energisch wurde auch diese zunichte gemacht, doch die Stimme hörte nicht auf zu sprechen. Immer wieder wurden Worte gebrabbelt, wie ein junges Kind, das nicht weiß, was es eigentlich sagen wollte.
„Ich bin nicht in diesen Dingern! So etwas habe ich nicht nötig“, kam es dann ein wenig empört herüber. Hina bemerkte schnell, dass sie Stimme recht hatte. Es war nicht die, die ihr aus der Zelle geholfen hatte und auch nicht die, die sie an den Krieger erinnerte. Konzentriert brauchte sie auch nicht den Raum absuchen, denn die Stimme war in ihrem Kopf.
Und als sie sich umdrehte und zu der Frau blickte, starrten goldbraune Augen sie an.