Die Knie fühlten sich nicht an wie Kissen, doch Schlaf tat Hina gut. Ihr schwerer Kopf ruhte auf den knochigen Gelenken, während sie Wärme bei sich suchte. Die Arme um die Beine geschlungen fühlte sich die junge Frau an, als würde sie umarmt werden. Liebevoll oder gar herzwärmend war diese Situation nicht, doch irgendwie musste Hina bei Verstand bleiben. Den Sieg wollte sie ihrem Vater nicht gönnen. Einmal war genug, sie wollte nie mehr zu dem Schatten werden. Nicht auf Befehl ihres Vaters, nicht weil sie sich verteidigen musste. Nie wieder!
Gähnend hob sie mit schweren Lidern den Kopf und ließ ihn sofort gegen die Wand purzeln. Ihre Kräfte waren dem Ende nahe, ihr Körper ausgelaugt. Die Zeit vollkommen bedeutungslos geworden und selbst der Hass gegen die Person, die sie hier einsperrte, verrauchte zunehmend. Einzig der eiserne Wille Hinas, sich nicht von ihm unterkriegen zu lassen, zeugte von ihrem Lebenswillen. Doch das Feuer in ihr brannte nicht mehr. Die kleine Flamme in ihrem Herzen wurde immer mickriger. Ein winziger Hauch von Enttäuschung würde ausreichen, dann wäre Dr. Mors am Ziel.
Sofort zuckte Hina zusammen, als ein greller Schrei die Wände zum Erbeben brachte. Nein, kein Schrei, eine Sirene. Der schrille Ton heulte in ihren Ohren und sie musste sie zuhalten, um nicht ohnmächtig zu werden. Ihr Blick zur Tür sagte ihr, dass das typisch drehende Licht von rosa Farbe einen Alarm darstellte. Doch wer hatte diesen ausgelöst? Wer war so dumm gewesen…?
Es gab eigentlich nur eine Person, die je entkommen konnte. Nun, genauer gesagt zwei. Und einer von beiden musste es sein. Diese Hypothese brachte Hina jedoch nicht viel. Sie war immer noch hier gefangen. Neue Hoffnung keimte in ihre auf wie die Sonne einen Morgen begrüßte. Langsam und immer größer wuchs eine Kraft in ihr, ein Gedanke, der ihr zuvor gekommen war, aber immer wieder verworfen wurde. Wenn dieser jemand gekommen war, gab es eine Möglichkeit zu fliehen! Wieso sie jetzt auf einmal sie Kraft fand, sich aufrappelte und zur Zellentür schlich, wusste Hina nicht. Sie hätte auch zuvor flüchten können, doch ihre dumme Verzweiflung hatte sie in ein Nichts aus Sorgen und Nöten gedrängt. Zitternd umschlossen die Finger die Metallstäbe. Hina zog wie eine Verrückte daran, doch nicht geschah. Keinen Zentimeter rührte sich ihr Gefängnis.
„Verdammter!“, rief Hina aus Frust und ballte ihre Fäuste. Mit allem, was sie zu bieten hatte, drosch sie auf die Zellstangen ein, doch nichts geschah.
„Liebchen, lass mich mal!“, hörte sie plötzlich eine Stimme. Hina fuhr zusammen, als sich ihr Körper von allein bewegte, ihre Hände in der Luft einige ihr unbekannte Zeichen formten. Mit Schreck geweiteten Augen verbogen sich die Stäbe, bis ein klaffendes Loch groß genug war, um sich hindurchzuzwängen.
„Und jetzt beweg dich!“, forderte die Männerstimme auf. Das ließ sie sich nicht zweimal sagen. Wieder die Kontrolle über ihre Gliedmaßen stemmte sie sich gegen die Tür, die Gott sei Dank nicht verschlossen war und rannte durch die Gänge. Sie kannte sich hier aus, war schon oft genug hier gewesen. Intuitiv nach rechts und links rennend, klatschen die nackten Füße auf dem kühlen Metall, während ihre heftigen Atemstöße an den Wänden widerhallten. Das stetig drehende pinke Licht an den Decken nervte tierisch, doch durch die Laute war sie einigermaßen anonym ausgebrochen. Hoffte sie jedenfalls. Durch ihre Gefangenschaft war sie nicht gut in Form, doch es würde reichen, um wenigstens Abstand zu gewinnen. Wenn sie noch viel Glück hätte, könnte sie aus dieser Hölle entkommen. Doch sie wagte nicht daran zu denken, bereits sich der Freiheit wegen zu freuen.
„Haltet sie auf!“, rief jemand hinter ihr. Wachen! Mist!
„Hey, unbekannte Stimme! Ich könnte Hilfe gebrauchen!“, rief sie verzweifelt in den Gang hinein, doch dieser antwortete ihr nicht. Wenn ihr Leben nicht schon verrückt genug war, musste sie jetzt noch jemanden Fremden anbeten, damit sie hier raus konnte. Doch erniedrigt fühlte sich Hina nicht, denn von selbst würde sie es niemals hier rausschaffen.
Vor ihrem inneren Auge tauchte eine Karte des Gebäudes auf, mit den einzelnen Etagen. Von ihrem Punkt in den Untergeschossen bildete sich eine rote verzweigte Linie, die sich von allein bewegte. Hina verstand, dieser zu folgen und steuerte das Ziel an. In den oberen Etagen befand sich scheinbar eine Art Aufenthaltsraum für die vielen Wachsoldaten, die hier alles bewachten. Hina sah auf, dann war die Karte verschwunden. „Das wars, jetzt musst du allein klarkommen!“ Wie ein ausschaltendes Radio knackte es einmal in ihrem Ohr, die Sirene heulte wieder lauter und die Stimme war weg.
Als wäre der Wahrhaftige hinter ihr her, obwohl es nur durchtrainierte Menschen waren, die ihr eigentlich niemals ebenbürtig wären, wenn sie nicht so schwach wäre, trieb Hina ihre Ausdauer bis an die Grenzen, sodass die Seiten an ihrem Blickfeld verschwammen. Genau im Blick, wer vor ihr war, rannte sie an überraschend aufschreienden Menschen vorbei, nutzte ihre Orientierung und schaffte es endlich, keuchend an dem Raum anzukommen, der ihr der Unbekannte gezeigt hatte. Und wie richtig vermutet, sie spürte eine machtvolle Aura.
Erschöpft sah Hina um sich und schließlich zurück. Ihre Flucht war sicher schon bemerkt worden, also war es nur eine Frage der Zeit, wann ihre Verfolger sie eingeholt hatten.
Schnell schritt sie durch die bereits offene Tür und sah genau in dem Augenblick, wie ein Abzug eines Gewehrs betätigt wurde. Blut spritzte umher, als der weißhaarige Mann in schwarzem Overall und Schwert in der Hand zu Boden fiel. Der Mann mit der Mordwaffe grinste schelmisch und hielt sich den Hals, an welchem ein blauer Fleck prangte. Der andere hielt seinen Lauf auf den Kopf weiterhin gerichtet, als würde der Eindringling wie ein Zombie wieder zum Leben erwachen. Mit blutüberströmtem Gesicht und schiefer und voller Blut tropfenden Nase drehte er sich zu Hina um.
„Und da wäre Zielobjekt Nummer 2.“