Träge durchzogen Gedankenstränge ihren Geist. Leicht und sanft trug sie ein Wind über eine grüne Wiese, die voller bunter Blumen zu der Woge der Brise tanzte. Das Lied der Natur berauschte ihre Sinne, während sie die Welt um sich herum als vollkommen friedlich wahrnahm. Ein Reh pirschte sanft an einen Strauch heran, während die Feldhasen hoppelnd zu spielen begannen. Einzelne Holzdächer in der Ferne ließen die Menschen erkennen, die in der Gegend ihren Lebensmittelpunkt gefunden hatten. Anders als sie, die immerwährend reiste und sich der neuen Entdeckungen bewusste wurde. Sie sah hinauf auf die Sonne. Ihr Lächeln erstarb, als der Sonnenschein zwar strahlend die Welt vor sich mit Leben füllte, aber ihr Gegensatz sich an dem Horizont aufbahnte und den Frieden zu zerstören drohte.
Ihr Geist, der zuvor im Himmel nach Gefahren Ausschau hielt, fokussierte sich auf die Finsternis in den Bergen. Die Dunkelheit war nicht gänzlich unbekannt, aber dennoch zeugte sie von einer unbekannten Macht, die sie erzittern ließ. Langsam zog sich das Mädchen zurück in ihren Körper, der inmitten der Ruine ruhte. Der Steinboden scheuerte ihre Knie auf. Der dünne Stoff des Kleides klebte an ihrer sanften Haut, während sie die Angst zu unterdrücken versuchte. Schweiß stand ihr auf der Stirn, der nicht gänzlich von der anstrengenden Nutzung ihrer Fähigkeit stammte. Mit zittrigen Fingern berührte sie den Messergriff, tasteten das Leder. Die funkelnde Spitze wirkte so gefährlich, so tödlich. Doch ein Blick gen Westen machten dieses Werkzeug zu einem lapidaren Gegenstand. Lächerlich und klein. So fühlte sie sich. Trotz ihres Blutes zwischen Mensch und Wesen, das seit Jahrhunderten existierte.
Die Klinge schoss auf ihren Unterarm, die Spitze bohrte sich augenblicklich in die Haut. Rote Flüssigkeit spritzte hervor, das Stechen und Pulsieren ihres Armes unterdrückten ihren Aufschrei. Zwischen zusammengebissenen Zähnen sprach sie laut, klar und deutlich. „Helft mir!“ Ihre sanften Lippen und volle Stimme erreichten diejenigen Götter, die zu ihr hinabgeblickt hatten. Sie sprach im Geiste mit ihnen.
„Helft mir, die Finsternis zu vertreiben! Mein Leben für das dieser Welt!“ Wärme durchfloss ihren Leib, der zittrig in den strahlenden Himmel schaute. Eigentlich erwartete sie Donner und dunkle Wolken, wenigstens ein aufflackern von Magie, doch nichts dergleichen verschwendeten die Götter an ein wertloses Halbblut wie sie.
„Wir geben dir Macht, wie du uns ein Leben!“
Der Tausch war vollbracht. Es war nicht verwunderlich, denn sie forderten immer ein Leben. Auch wenn es reine Verschwendung war. Das wusste sie.
Ihre roten Haare glichen ihrem Blut, das unverändert auf den Steinboden floss. Stille Tränen gaben ihrer Angst einen Ausdruck, den sie hoffentlich nie mehr erliegen musste. Sei es nur der Tod, den sie fürchtete war es dennoch der Verlust, der ihr Herz in zwei brach.
Hina schlug die Augen auf, als die letzten Worte in ihr wiederhallten. Thiana hatte zu ihr gesprochen, ihr Bilder gezeigt. Mit denen sie nichts anzufangen wusste.
Fragen über Fragen schossen der Frau durch ihren Kopf, der nicht mehr schmerzte. Auch ihr übriger Körper fühlte sich an wie neu geboren. Frische Luft füllten ihre Lungen, während sie sich aufrichtete und das offene Fenster betrachtete. Der Ausblick einer unbekannten Großstadt zusammen mit dem idyllischen Farbenspektakel im Himmel glichen leicht den Bildern in ihrem Kopf, die nach und nach verblassten. Tief hing die Sonne am Horizont, während der violette Himmel seine strahlenden Farben der Stadt darbot.
„Wieder wach?“, trällerte ein müder Kommentar neben ihr. Ein in einem Sessel sitzender Mann lächelte sie träge an, während er gelangweilt in einem Magazin blätterte. Interesse zeigte er an der Modezeitschrift nicht, als er es mit einer losen Geste auf den Tisch warf. Hina erkannte ein Wasserglas auf dem Nachttisch und neben sich und ergriff es sogleich. Sie trank es ganz aus und stöhnte, als die Kühle sie ausfüllte.
„Endlich!“, kommentierte sie und richtete sich auf. Während sie die Umgebung nach Gefahren Ausschau hielt, verhieß eigentlich nur der Dämon vor ihr das pure Böse. Doch teilnahmslos blickte er auf sie hinab wie ein König auf einen Sklaven. Und doch durchzog ein leichter Ausdruck von Reue seine Züge.
„Ich muss sagen, du bist wohl die erste, die beim Aufwachen hier so lässig reagiert hat.“ Buck zog die Augenbrauen hoch, doch Hina wich seinem Blick nicht aus. „Wir beide wissen warum,“ gab sie zu Bedenken. Dann Stille.
„Außerdem“, begann sie nach Minuten. „Würdest du mich töten wollen, hättest du das längst getan, Vater!“ Das letzte Wort betonte sie besonders, als ihre Augen einen Apfel auf dem Tisch neben Buck erblickten. Der Magen knurrte. Er nahm das Obst und warf es ihr zu. „Ich denke mal, du hast Fragen.“ Genügend. Sie fing den Apfel mit einer Hand auf und biss genüsslich hinein.
Die faustgroße Mahlzeit würde ihren Hunger nicht stillen, doch Hina gab keinen Laut von sich. Doch auch Buck ließ keinen Zentimeter seiner Beweggründe erkennen.
„Was für Fragen hast du?“, versuchte es der Hohedämon erneut, doch Hina starrte ihn nieder wie eine Statue. Kein Kopf drehte sich, kein Geruch enthüllte Geheimnisse, kein Zucken der Muskeln zeigte etwas. Rote Augen durchstachen die ihren. Bis er stöhnte und die Hände in die Luft warf.
„Also gut, du hast gewonnen.“ Buck stand auf und lief unruhig in Richtung der Fensterfront. Wenn Hina schnell genug war, würde sie ihn sicher hinausstoßen können. Dort angekommen blickte er gedankenverloren hinaus und fing an zu erzählen.
„Ich mach´s kurz: Du weißt, wer ich bin, und wozu ich dich brauche. Und dafür biete ich dir Sicherheit.“ Die Locken bewegten sich, während das Feuer in ihr tobte, das seine Iris ausstieß. Ein stummer Nachhall ihres Kampfes in der Halle entfachte sich erneut. Als würde ihr Innerstes sich zu ihm hingezogen fühlen und sich nach seiner Macht verzehren.
„Du willst Jack töten.“ Diese Tatsache stand im Raum wie der Mond am Himmel. Der Dämon wandte sich ab.
„Nein.“ Hina sah überrascht auf, doch Buck starrte immer noch die großen Häuser und winzigen Menschen an. Ein Versprechen lag auf seinen Lippen, als die ernste Miene ihr begegnete. „Ich will ihn nicht töten.“ Er trat an das Ende des Betts, immer noch lässig die Hände in den Hosentaschen. Als Anzugträger und mit zurückgelegten Haare sah er nicht gut aus. Mehr wie ein reicher Schnösel, der zu viel Geld hatte, um es auszugeben. Der bereits alles hatte und noch mehr haben wollte. Blickte man in diese Fuchsaugen, sah Hina allerdings einen Mann, der gebrochen seine Scherben vom Leben zusammensuchte und eine Vase daraus zu basteln versuchte. Doch mit was, und ob jemals diese Rillen und Risse des Objekts zusammenhalten würden, ob es überhaupt jemals dazu kam, dass er etwas zu Erschaffen versuchte, wusste er selbst nicht einmal. Der Atem wich ihr aus den Lungen, als er weitersprach.
„Ich will denjenigen töten, der mir ein gutes Stück meiner Macht, meiner Sippe, meines Stolzes und meiner selbst gestohlen hat, um es für idiotische Dinge zu benutzen. Einen Teil habe ich zwar wiederbekommen, aber der Rest ist bisher nicht zu mir zurückgekehrt.“ Er blickte sie dabei an. Hina zog sich in sich selbst zurück, während er zugab, ihr Vater zu sein. Einzig die Verbundenheit mit ihrem Schatten zu seiner Kraft ergab für sie einen Sinn. „Ich hatte einen Verbündeten, doch der hat sich leider selbst ins Aus geschossen.“
„Der Krieger?“ Die Frage kam unbeabsichtigt. Bucks Kopf schoss zu ihr und er lächelte matt, während er ihren unabsichtlichen Ausbruch der Gefühle richtig deutete. Ihre Finger krallten sich in die weiche Decke.
„Ja. Amron ist keiner, den man einfach als Verbündeten gewinnen kann. Doch er ist der Schlüssel zu etwas viel Größerem, als es zunächst den Anschein hat. Leider ist mir das selbst zu spät aufgefallen.“ Düster flackerte das Feuer in seinen Augen, als er eine abwesende Haltung einnahm.
„Zu was?“, traute sich die Schwarzhaarige zu fragen. In ihr machte sich die Kälte breit, die sie immer befiel, wenn etwas Schlechtes bevorstand. Doch was sollte sie dies eigentlich interessieren? Sie war ihrem Vater entkommen, der Gefangenschaft überdrüssig. Es dauerte einige Momente, als sie erneut fansetzte. Diesmal aber mit zittriger Lippe. „Bin ich...“, sie schluckte. „…bin ich hier eingesperrt? Bin ich deine Gefangene?“
Buck zuckte zusammen, als hätte man ihn getreten. Schmerz durchzuckte sein Leib, doch er krümmte sich nicht. Hina kannte solche Gefühle an mächtigen Männern nicht, die sich immer alles nehmen konnten, was sie wollten. Die so unerreichbar schienen und immer ein Ass in der Hinterhand hatten. Daher wusste sie nichts mit anzufangen, als der Anzugträger sich auf die Bettkante setzte und sie besorgniserregend ansah. Sie wich nicht zurück, blickte ihn direkt an, als würde sie gleich einen Befehl annehmen. Doch seine Hand ergreifen, auf die er sich auf der weichen Matratze stützte, tat sie auch nicht.
„Du bist meine Tochter. Und du bist mein Vermächtnis. Du wirst niemals unter meiner Obhut leiden, Hina. Niemals.“
Und Hina weinte.