Hina wusste nicht Recht, was sie nun tun sollte. Die Aussicht auf die Stadt war atemberaubend, das Essen vorzüglich und das Bad erst. Das Bad war größer als ihre Zelle bei ihrem Vater. Die großen Leuchten, die teuren Möbel und dieser Kleider, die in einem begehbaren Kleiderschrank auf sie warteten, würde sie ihr gesamten Leben nur einmal tragen können. Entweder aufgrund ihrer Ungeschicktheit, solch schöne Gewänder beim Essen nicht zu verschmutzen oder weil es eben so viele waren, dass Hina nicht wusste, wie man diese Stücke kombinieren konnte. Deshalb zog sie es vor, neben einer normalen Jeans einen Pullover anzuziehen, anstatt sich Gedanken vor dem Spiegel zu machen.
Während der Dusche, die ihr mehr Platz bot als sie brauchte, dachte sie ausgiebig über Bucks Worte nach. Dennoch, keiner der Gedankenblitze führte zu einem sinnvollen Ergebnis. Er hatte ihr Zeit gegeben. Und es war nun fast eine Woche her, seit sie ihren angeblichen Vater gesehen hatte. Des nachts suchte in ihr der Schatten nach diesem Bekannten, doch zog sich sogleich zurück, wenn Hina die Augen öffnete. Diese Angst des zweiten Ichs kannte sie nicht und wusste noch weniger, wie sie damit umgehen sollte.
Also saß sie da, duschte nur und schaute hinaus, nutze das Fernsehprogramm, um auf dem neusten Stand zu bleiben und suchte in dem Hochhaus nach Beschäftigungen, die die Zeit totschlagen konnten. Buck hatte sein Versprechen gehalten. Sie konnte in jeden Raum, jede Küche, jedes Arbeitszimmer, ja selbst in die Labore, wenn sie denn wollte. Doch sie mied diese Orte. Ein Bediensteter, der angezogen war wie ein Butler, holte ihr alles, nach was sie verlangte. Einmal nutze sie dies zum Spaß und fragte nach einem blauen Hummer im Wassertank, als neues Haustier. Keinen Tag später starrten zwei Stilaugen die junge Frau an, während das Kluckern des Wassers sie schier wahnsinnig gemacht hatte. Wie viel Geld hatte dieser Buck eigentlich? Und womit verdiente er es?
Auch in der Stadt war Hina mehrmals gewesen. Neben der Einkaufsstraße zu wohnen schien nützlich, doch Menschenmassen mied Hina. Genauso wenig wusste sie, was sie einkaufen sollte, wenn sie den Butler nur nach dem Gewünschten hätte fragen müssen. Vor ihrer Tür stand immer jemand anders, und Namen wollte sie sich nicht merken. Das würde für sie einer Erkenntnis gleichkommen, dass sie sich hier heimisch fühlte.
Am siebten Tag schließlich entschied sich die Schwarzhaarige, aktiv zu werden und in einer Seitengasse in einer Computerbar online nach Neuigkeiten zu schauen. Auch wenn Hina keine Manipulationen Bucks erwartete, schien die Möglichkeit, dass er sie nach Strich und Faden einfach verarschte, immer noch gegeben. Sie wollte gründlich sein, und Hina war gründlich. Natürlich hätte sie nach Technik fragen können, doch alles von Buck schien ihr suspekt. Wie auch der Kerl selbst. Sie sah den manipulativen und frech grinsenden, als auch machtvollen, Hohedämon. Genauso aber blickten die fuchsroten Augen sie an, als wäre er ein gebrochener Mann. Ein Wrack voller Gefühle. Als er schließlich gegangen war und Hina mit diesem Gefühlschaos alleine gelassen hatte, wusste sie wirklich nicht, diesen Hohedämon richtig einzuschätzen.
Im Internet angekommen schaffte sie es, geschickt ins DarkWeb einzutauchen und die Sicherheitskameras des Ladens aufzusuchen, in welcher ihre Mutter eigentlich arbeiten würde. Die Videos vor einer Woche waren noch gespeichert, als sie die Szene stumm ablaufen ließ.
In Schwarz-Weiß-80er Jahre Qualität erkannte sie dunkle Gestalten, die den Laden stürmten. Der Raum war nicht größer als ihre Suite, dennoch standen nur ihre Mutter und die angeblichen Räuber an der Theke. Sie erhob die Hände, diese kleine chinesische Frau, zeigte mit dem Kinn auf die Kasse, die sie langsam öffnete. Doch ein Lauf einer Waffe deutete an, dass die Chinesin um die Theke laufen und mitkommen sollte. Gegen drei große Männer hatte sie nicht den Hauch einer Chance. Das Bild wackelte, als das Ereignis von vorn abgespult wurde.
Die offene Kasse in den letzten zwei Sekunden der Sequenz brannten sich in ihr Hirn, während sie die Tasse fester umschloss. Dieser verdammte Jack. Das Bild, dass er ihr bei ihrem letzten Treffen vor die Füße geschmissen hatte, war ihre Mutter gewesen. Den Zustand der Leiche konnte sie nicht definieren, doch es hatte lange gedauert, bis ihre Mutter Frieden gefunden hatte. Jeder Tropfen Blut war zu viel gewesen, jede Wunde an ihrem Körper reine Zeitverschwendung. Was sollte eine arme alte Frau, die gerade so viel verdiente, dass es zum Leben reichte, denn wissen? Sie hatte Hina ausgetragen, war sich ihrer Schwangerschaft allerdings als Totgeburt in Erinnerung geblieben. Hina brauchte nicht zu fragen, weshalb er es getan hatte. Die Finger verkrampfen sich, als ihr die Antwort klau und deutlich vor den Augen stand. Ihr Vater wollte ihre Gehorsamkeit, ihre Stärke. Er hatte Angst, aber vor wem? Und für was brauchte er ausgerechnet sie?
Ihr feines Gehör signalisierte ihr ein Knacken, als sie hinunterstarrte und ein kleines gebrochenes Prozellanteil in ihrem Schoß wiederfand. Sie hatte ihre Wut an einem Gegenstand ausgelassen, der viel zu zerbrechlich war.
Na, genug geschmollt?
Erschrocken fuhr sie hoch, während die kalte Flüssigkeit sich sofort in der Wolle festsog. Das Lachen in ihren Gedanken weitete sich aus und sie erkannte, dass Buck sie wieder ärgerte.
„Was willst du?“, knurrte Hina wütend, versuchte zu retten, was zu retten war und stand auf. Sie ließ ihre restlichen Scheine, die sie noch besessen hatte, auf dem Platz liegen und ging aus dem Laden. Keine der Besucher würdigten sie eines Blickes, während Hina in die viel besuchte Meile stapfte und den Kopf gesenkt hielt.
„Erst eine Woche sich nicht blicken lassen und dann auf einmal spionierst du mir nach?“ Das Zischen ihres Geflüsters machte nicht im mindesten die Wut wett, die sie in ihrem Inneren empfand. Die Antwort kam zwei Straßen weiter.
Na na, nicht so launisch. Ich hätte gedacht, wir trinken mal einen Kaffee zusammen. Was hältst du davon?
Hina lachte auf. „In deinem teuren Bunker etwa?“
Nein, in der Bäckerei, an der du gerade vorbeiläufst.
Hina blieb erschrocken stehen und blickte sich verwirrt um.
Weiter nach links, meine Liebe.
Sie folgte der Anweisung und erstarrte, als die fuchsroten Augen voller Belustigung zu ihr blickten. Buck saß vollkommen entspannt in einem Sessel, die Füße lässig übereinandergeschlagen. Statt dem ansonst so teuren Anzug trug der Dämon nun eine Jeans mit langem Oberteil, aufgrund der Kälte einen Schal um den Hals.
„Frierst du wirklich?“ Der Sarkasmus in ihrer Stimme fraß sich durch ihren Verstand. Wenigstens den Humor hatte sie nicht verloren. Sie betrat den Laden und merkte sogleich, dass es sich um einen dieser Ketten handelte, die trockenes Brot für teures Geld verscherbelten. Nachdem sie sich zu Buck gesetzt hatte, lag die Untertasse mit dem heißen Kaffee schwer in ihrer Hand.
Sicherlich nicht. Ich bin ein Dämon. Wenn, dann bin ich viel zu heiß. Das Zuzwinkern mit dem verführerischen Lächeln wirkte ebenso sinnlich wie amüsant. Er hatte den Kopf auf seine Hand gestützt und saß da wie ein wartender König vor seinem Untertanen.
„Keinen Durst?“, heuchelte Hina und nahm einen Schluck. „Sonst hast du doch immer den Mund so voll.“ Ihr war es egal, dass sich die Gäste zu ihr umdrehten, als sie lauter sprach. „Doch wohl nicht der heiße Feger, wie? Spionierst du immer armen Frauen hinterher und lauerst ihnen in Cafés auf? “
Oh, wenn du wüsstest. Er lächelte matt, dann drehte er den Kopf ein wenig. Allerdings würde ich leiser sprechen, es sei denn du führst oft Selbstgespräche in der Öffentlichkeit.
Der Klos in ihrem Hals wurde dicker, während die Röte ihr in die Wangen stieg. Sie drehte sich und sah zu, wie die Köpfe wieder zusammengesteckt wurden.
„Bist du etwa unsichtbar?“ Hina tastete automatisch an sein Knie und fühlte den Stoff seiner Hose.
Nein, meine Erscheinung ist physisch und psychisch hier, aber ich nutze meine Freizeit ungern, um mich in der Menschenwelt aufzuhalten. Ich bin diesen Wesen überdrüssig. Lediglich Anhänger meiner Art oder Gezeichnete können mich sehen.
„Nicht nur unausstehlich, sondern auch überheblich. Ein richtiges Goldstück bist du.“ Ihre Stimme hielt sie nun gedämpft. Ein weiterer Schluck aus der Tasse, dann hielt Hina erneut inne. Sein Grinsen verriet ihn.
„Anhänger? Gibt´s noch mehr von dir?“
Davon wollte ich jetzt nicht anfangen, aber ja. Außerdem, wie ich bereits sagte, du bist ein Teil von mir. Und damit wären es zwei Dämonen in diesem Laden. Von deiner Menschlichkeit mal abgesehen.
Die Gänsehaut kroch über Hinas Wirbelsäule, als würde er ihr sofort das Licht auspusten wollen. Ihre Muskeln verkrampften sich bei den Worten.
„Was willst du?“, hauchte sie.
Ist das den nicht offensichtlich? Das Feuer in dem Rot flackerte brennend heiß, während die Eiseskälte sie lähmte. Ich habe es doch schon gesagt, Hina-Liebes. Ich brauche dich.