Sofort schrak Hina zusammen, während fast automatisch Thiana die Kontrolle des Körpers übernahm und sie vor einen Zusammenprall mit dem Boden bewahrte. Kniend und durch verschwitzte Strähnen hindurch sah Hina hasserfüllt den Mann an, der gesprochen hatte. Und es wagte, vor ihr aufzutauchen. „Ich glaube daran“, murmelte er erneut und lächelte freundlich seine Tochter an, als würden sie sich zufällig im Park begegnen. Er war wie vor einer Woche immer noch mit einem schwarzen Umhang gekleidet, der schreckliche Hut wie aus den Sechzigerjahre Krimis wirkte genauso fehl am Platz wie dieses Grinsen in seinem aschfahlen Gesicht. Allein der durchdringend wissende Blick durch diese blauen Augen sagte aus, dass er mehr als enttäuscht war. Und dennoch wirkten die fallenden Schultern zufriedener und die offene Haltung mit ausgestreckten Armen viel zu ausgeglichen. „Ich glaube, dass du so langsam aufhören solltest, mich zu ärgern, meine Liebe“, ergänzte Dr. Mors ebenso freundlich wie zuvor.
In Hina wallte Hass und Zorn auf, wie sie ihn nie gekannt hatte. Ein gespanntes Drahtseil wäre nichts im Vergleich zu ihren Muskeln, die unter der zerfetzten Kleidung anschwöllen wie ein Schwamm voller Wasser. Zusammengebissene Zähne unterdrückten ihre aufkommende Hasstirade, während die nicht auszuhaltende Spannung zu Kopfschmerzen führte. Dieser wurde jedoch von dem regelmäßig schlagenden Herzen immer dann unterbrochen, wenn das Organ gegen die Brust schlug. Ein Orkan in ihr entfachte eine Glut, erzeugte ein Sturm voller wilder tosenden Flammen, die alles verbrannte, was mit Vernunft zu tun hatte. Allein Thiana in ihrer kühlen Gelassenheit, Hina gänzlich die Kontrolle zu nehmen, rettete sie vor einer Dummheit. Als würde Wasser auf ein Lagerfeuer gegossen werden, zischte Hina durch ihren Mund aus, kühlte sich dadurch ab, obwohl ihr immer noch viel zu heiß war. Sie richtete sich auf und betrachtete den Mann vor sich, schwieg und wartete auf seinen Zug, um sie Schach Matt zu setzen.
„Weißt du, meine Kleine. Ich habe immer gedacht du würdest eines Tages an meiner Seite stehen. Aber irgendwie weiß ich nicht mehr, wie ich dir die schönen Seiten vom Leben zeigen kann. All die Bemühungen, dich zur Vernunft zu bringen, reichten nicht aus, um dir diese Idee aus den Kopf zu schlagen.“ Diese Idee war lediglich ein normales Leben führen zu können. Nicht mehr, und nicht weniger.
„Folter an einem sechsjährigen Kind oder Kämpfe mit Wesen, die weitaus größer waren als ich waren also erfolglos?“, fragte Thiana mit Hinas Stimme. Es überraschte sie, dass die Göttin zu ihr stand. Und gleichzeitig dankte sie ihr, nicht weinend am Boden vor ihrem Vater zu kriechen. Diese Kraft hatte Hina zuvor nicht gehabt, hatte sie auch jetzt nicht und doch blickte sie voller Verachtung durch ihre Augen in die seinen. Die Grenze zwischen ihm und ihr war niemals greifbar gewesen und doch konnte man seine Taten niemals leugnen. Doch damit war jetzt Schluss.
„Nun, sie scheinen dich weiter gebracht zu haben. Doch niemals so, wie ich es gerne hätte“, entgegnete der alte Mann, dessen graue Haare unter dem Hut zum Vorschein traten, als er seinen Kopf schräg stellte. Blond mitsamt dem Silberglanz gaben ihm einen erfahrenen Ausdruck auf dem Gesicht, den Jack gekonnt einsetzte. „Lass mich dir dennoch eine letzte Lektion geben. Und einen Rat, so von Vater zu Tochter.“
Er kramte in einer Tasche und warf das DINA-4 große Bild in ihre Richtung. Es schlitterte die paar Meter zu ihr und blieb vor ihr liegen. Grade so, dass sie erkennen konnte, was darauf zu sehen war. Sofort kroch Galle ihre Kehle hervor, ein Würgereiz konnte sie nur mit Mühe unterdrücken. Die Augen abwendend schwor sie Rache. Und höllische Qualen.
Thiana dagegen ignorierte diese Gefühle und gab im Geiste Hina Anweisungen, sich zu beruhigen. Es half, sodass sie ihre Gefühle einigermaßen unter Kontrolle bringen konnte.
„Gleichzeitig frage ich mich, wieso du dich mir niemals direkt gestellt hast“, konterte Thiana in ihrem Namen und hoffte, ihn durch ihre scheinbare Kühle im Blick aus dem Gleichgewicht bringen zu können.
„Muss ich kämpfen, um zu siegen?“, fragte er stattdessen viel zu lässig und erhob eine Faust. Darin steckte ein ihr bekanntes Objekt. Angstschweiß breitete sich augenblicklich in Hina aus, den Thiana nicht unter Kontrolle bringen konnte. Sofort keuchte Hina auf, übernahm ohne es zu wollen ihren Körper wieder und trat einen Schritt zurück, kniff die Augen zusammen, als Jack grinsend den roten Knopf betätigte.
Sie erwartete sengende Hitze in ihrem Körper, Schmerz von übermenschlichen Ausmaß, sodass nur der Tod sie erlösen konnte. Sie wartete und schwitzte mehr. Zitternd wich sie dem Unausweichlichen aus, sodass ihre Nanobots im Blut bewegten und sie seinem Willen unterworfen war.
Doch nichts geschah. Ihre Ängste blieben aus. Hina öffnete wieder ihre Augen.
„Erstaunlich.“ Jack gab sich sichtlich überrascht und erhob die Augenbrauen. „Du hast also einen Weg gefunden, meine kleinen Helfer auszuknocken.“
Nun hatte Jack also nichts mehr in der Hand, dass Hina aufhalten konnte. Ihre Kräfte durch Thiana würden ihn zur Strecke bringen und sie würde ihren sehnlichsten Wunsch endlich erfüllen können. Sein Blut durch ihre Finger gleiten zu sehen und seinen Todesschrei ewiglich hinauszögern zu können. Wie sehr labte sie sich an dem hasserfüllten Blick in seinen Augen und der Tatsache, seine Pläne durchkreuzt zu haben. Wie sehnlichst der Wunsch nach Vergeltung war. Und da war Hina auch schon losgestürmt und erhob die Faust gegen ihren Vater.
„Ich kann diese Dunkelheit nicht unterbinden, wenn du dich so sehr nach Rache sehnst!“, warnte Thiana mit einem Schrei, während sich Mors unter dem Angriff duckte. Er wich ein paar Schritte zurück, hielt sich gesenkt. Die Hände in den Taschen des langen Mantels versteckt schritt er im Zick Zack zurück, während Hina mit Fäusten die Leere vor ihr traf. Für einen Menschen wich Dr. Mors viel zu schnell zurück. Oder er hatte einfach nur Kampferfahrung. Egal warum, aber die Tatsache, dass sie einen einfachen Fausthieb nicht zu Stande brachte, oder ihren Vater mit einmal traf, machte Hina rasend. Ihre Macht durch Thianas Kräfte feuert sie an, während allmählich ihre negativen Gefühle sie auffraßen. Ihr unsicheres Sein wirkte sich auf ihre Deckung aus, sodass sie das Knie nicht kommen sah. Jack riss sein Bein hoch, das Schienbein traf Hina direkt in die Magengrube. Schmerz durchschoss ihren Leib, sie hörte Knochen brechen, als der zweite Fußtritt ihre Rippe traf.
Er schleuderte sie damit ein paar Meter weit. Der Leib krachte einmal zu Boden schleuderte sich in die Höhe, drehte sich dabei um 180 Grad. Hina blieb im Dreck liegen, spuckte sofort Blut aus und keuchte müde. Die wunde Seite zu heben würde nichts bringen und dennoch stützte sie sich mit dem Ellenbogen auf. Hustend erhob sie sich wieder, während ihr Leib zitterte.
Aus Dr. Mors Mund ertönte ein dumpfes Lachen. „Jaja, diese Jugend.“ Spott und Hohn würden sie hier begraben. Sie hatte es nicht einmal geschafft, ihm einen Kratzer zuzufügen. Diese Schmach war es, die ihr Willen zerbrach wie Glas in tausenden Scherben. Tränen überströmt sah sie dabei zu, wie Jack einen Schritt auf sie zu kam. Dann noch einen. Als würde die Zeit stillstehen oder er extra langsam lief, um in ihrem Leid zu baden, musste Jack wirklich gefährlich grinsen. Er genoss es sichtlich, ihr solch eine Qual zu bereiten. Hina unterband den Augenkontakt und keuchte auf, als sie sich versuchte aufzurichten.
„Wirklich, Hina. Deine Mutter ist tot. Leiste ihr doch ein wenig Gesellschaft.“ Seine Stimme war so nah, so unglaublich nah, als würde er in ihrem Verstand sprechen. Als wären es ihre eigenen Gedanken. „Mache es nicht schwerer als es ist. Lasse dich fallen und versinke in der Hoffnungslosigkeit deines erbärmlichen Lebens. Es ist wirklich einfach. Gib dich dem hin, was du willst und was du bist: Dein Hass, deine Trauer, deine Wut. Labe dich in ihnen und zeige dein wahres Ich. Deine wahre Hälfte. Lass deine menschlichen Bedürfnisse gehen und weide dich an den Schmerzen anderer.“
Thiana schrie wutentbrannt in ihrem inneren auf, entfachte eine Flamme im Inneren der Schwärze und verband all den Schmerz, den Hina zuvor gespürt hatte, all den Hass, den sie ihrem Vater wegen spührte, und fügte Willen und stahlharte Realität zu einem Ganzen zusammen. Ein Bild vor Hinas Augen verband sich mit den fremden Erinnerungen und wirkte so klar, dass sie auf keuchen musste. Die Göttin griff nach der Klinge und durchschnitt die Luft wie Schnee.
Jack fluchte und hüpfte sofort nach hinten, entwich dem Angriff und sah mit schreckgeweiteten Augen die Waffe an. „Wie ist das möglich?“, schrie er, doch Hina konnte sich an ihrem Sieg nicht laben. Sie war am Rande einer Ohnmacht. Erschöpft blickte Thiana durch ihre Augen, sorgte mit ihrem eisernen Willen dafür, dass sie noch wach blieb.
„Ich werde niemals mich daran laben wie du, elender!“ schrie sie in ihrer hellen Stimme, durchschnitt ein weiteres Mal die Luft, traf ihren Vater an der Schulter. Um ihn herum hatte sich eine schwarze Gischt gebildet. Doch Hina würde sich das sicher nur einbilden. Dennoch waren ihre Lider so schwer.
Als letztes spürte Hina nur noch einen tiefen Schmerz an der linken Schulter, als die Schwärze sie übernahm und sie in die Dunkelheit gezogen wurde.