Jo bemerkte den neugierigen Blick zwar, den ihr der Kerl namens Aiden von der gegenüberliegenden Seite des Tisches zuwarf, ignorierte ihn aber bewusst.
„Ich habe jedenfalls auch nichts gegen ein bisschen Privatsphäre einzuwenden“, erklärte sie. Bei ihren Missionen gab es davon meist nicht besonders viel und auch wenn Vellris, Peroy und Gray inzwischen zu ihrer Familie geworden waren, wusste sie ein bisschen Freiraum durchaus zu schätzen.
„Wir haben sechs Zimmer vorbereitet“, bestätigte Duncan. „Es sei denn, jemand will sich eines teilen…“ Er ließ die Frage unausgesprochen im Raum hängen und sein Blick richtete sich auf Jo. Es war eindeutig, was er hier gerade zu erfahren versuchte und Jo verdrehte die Augen.
Ehe sie allerdings antworten konnte, zwinkerte Gray ihr zu: „Wenn du dich fürchtest, kannst du auch bei mir schlafen.“
Jo setzte ein zuckersüßes Lächeln auf. „Das weiß ich wirklich zu schätzen“, erwiderte sie. „Ich bin schon ein großes Mädchen, aber wenn du Angst vor der Dunkelheit haben solltest, kannst du gern zu mir kommen.“ Sie hauchte ihm einen Luftkuss zu und Gray musst lachen. „Ich werde es mir merken.“
„Dann also keine geteilten Zimmer“, fasst Duncan zusammen und erhob sich.
Die anderen taten es ihm nach.
„Ich würde gern noch etwas mit dir besprechen“, bat Taye und Duncan nickte.
„Dann bleibt der Pagen-Job wohl an mir hängen.“ Bastian machte eine einladende Geste: „Wenn die Herrschaften mir folgen würden.“
Jo verließ als erste den Raum, während die Männer unbedeutende Gespräche begannen und schließlich mit etwas Abstand hinter ihnen herkamen.
„Duncan hat mir erzählt, dass du in festen Händen bist“, wandte Jo sich an Bastian und beäugte ihren Freund neugierig von der Seite. Tatsächlich hatte sie diese Information ziemlich überrascht, denn sie konnte sich nicht erinnern, dass Bastian jemals eine ernsthafte Beziehung geführt hatte. Er gehörte eher zur Fraktion One-Night-Stand und sie konnte das gut verstehen.
„Mh“, machte er jetzt und nickte, wobei ein kurzes Lächeln über sein Gesicht huschte.
Jo schüttelte den Kopf: „So richtig?“, hakte sie ungläubig nach, was ihr einen spöttischen Blick von Bastian einbrachte. Gleich darauf wurde seine Miene ernster, ehe er erwiderte: „Absolut.“
Das Glänzen in seinen grünen Augen war Bestätigung genug und Jo begriff, wie ernst ihm die Sache mit dieser Frau offenbar war. Sie drückte kurz seinen Arm, ehe sie scherzte: „Ich hätte es für wahrscheinlicher gehalten, einem Einhorn zu begegnen, als dass du dich an eine Frau bindest.“
Bastian legte ihr den Arm um die Schulter, zog sie im Gehen an sich und wuschelte ihr mit der Hand durch das Haar. „Sie ist etwas besonderes“, erklärte er dann. „Die Richtige.“
„Die Richtige“, wiederholte sie skeptisch, doch er ging nicht auf ihren ironischen Unterton ein. Stattdessen zwinkerte er ihr nur zu. „Du wirst es merken, wenn du dem Richtigen gegenüberstehst.“ Damit stieg er vor ihr die Stufen hinauf und Jo brauchte einen Moment, ehe sie ihm folgte.
Hinter sich vernahm sie die Stimmen der anderen, die sich über irgendetwas unterhielten. Doch Jo konnte sich nicht darauf konzentrieren.
Der Richtige.
Sie verzog das Gesicht, ehe sie Bastian folgte. Sie hatte nicht das Bedürfnis sich an einen Mann zu binden. Nicht im Moment und auch nicht irgendwann. Jo war einfach nicht der Typ für diese Art von Beziehungen. Niemals würde sie am Herd stehen, einen Mann bekochen und auf die Kinder aufpassen. Das war einfach nicht ihr Ding. Sie lebte für ihren Job, brauchte den Nervenkitzel, das Adrenalin. Dabei blieb kein Platz für eine Beziehung oder gar eine Familie und Kinder. Was sie brauchte, musste unkompliziert sein. Keine Verpflichtungen, keine Versprechen, keine Erwartungen.
Als sie in der pompösen Empfangshalle ankamen und Bastian weiter zu der breiten Treppe ging, die in die obere Etage führte, musste Jo lächeln. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie sie hier mit Bastian gespielt hatte. Sie hatten sich gegenseitig durch das Haus gejagt, immer darauf bedacht, sich zu messen.
Mit dem Finger fuhr Jo über das glänzende Geländer, als ihr Blick auf einer Stufe hängen blieb. Bilder tauchten vor ihrem geistigen Auge auf, Erinnerungen so klar, als wäre es erst gestern gewesen.
Erinnerungen, die sie eigentlich so gut weggeschlossen hatten. Sie taumelte, musste sich an dem Geländer festhalten und hatte doch das Gefühl, ihre Knie würden nachgeben.
Ihr Arm wurde gepackt und sie zuckte zusammen, während sie gleichzeitig dankbar für den plötzlichen Halt war. Angestrengt schob sie die Bilder beiseite, zwang sich zurück in die Realität und sah auf.
Neben ihr stand der Kerl mit den hellbraunen Haaren, den Duncan als Aiden vorgestellt hatte. Forschend sah er sie aus türkisgrünen Augen an, die genau die Farbe eines Edelsteins hatten.
„Alles in Ordnung?“, fragte er mit einer Stimme, die wie eine federleichte Berührung über Jos Haut vibrierte. Sie musste sich zwingen, den Blick von ihm zu lösen. Als sie antworten wollte, verließ kein Wort ihre Lippen und sie musste sich zunächst räuspern, ehe sie ihre Stimme wiederfand. „Ja“, war dann das Einzige, was ihr einfiel, denn ihr Hirn war plötzlich wie leergefegt.
Aidens Miene verriet nicht, was er dachte, und noch bevor sie sich weiter zum Trottel machen konnte, vernahm sie Bastians Stimme: „Jojo?“
Dankbar für die Ablenkung drehte sie sich herum und sah ihn oben an der Treppe stehen. Ihn und auch die anderen Männer. Sie alle blickten sie irritiert an und Jo runzelte die Stirn. Ihr war gar nicht aufgefallen, dass sie alle an ihr vorbeigegangen waren.
„Die sechste Stufe“, sagte Bastian in die anhaltende Stille und es dauerte einen Moment, ehe Jo begriff.
Dann wanderte ihr Blick zu ihren Füßen und sie musste schlucken. Tatsächlich war sie auf der sechsten Treppenstufe stehengeblieben.
Ihre Finger wanderten wie von selbst an ihre Unterlippe. Doch sie ließ die düsteren Erinnerungen nicht zu. Entschlossen straffte sie die Schultern und sah nach oben. „Hier hab ich mir die Narbe geholt“, erklärte sie an niemanden bestimmtes gerichtet und tippte auf ihre Lippe.
Sie erhaschte Bastians besorgte Miene und bemerkte, dass auch Vellris die Stirn gerunzelt hatte.
Deshalb zwang sie sich zu einem unbekümmerten Lächeln und hoffte, dass Bastian den Wink verstehen würde, als sie sagte: „Kindheitserinnerungen. Nichts weiter.“
Damit löste sie sich von Aiden und stieg eilig die restlichen Stufen empor.
Sie hatte Mühe, ihre Erleichterung zu verbergen, als Bastian nicht weiter auf das Thema einging. Stattdessen deutete er auf eine Tür: „Diese und die nächsten beiden, sowie die drei gegenüberliegenden Zimmer gehören euch.“
Peroy trat als erster vor. „Dann nehme ich das“, entschied er. Vellris nickte. „Ich bin nebenan.“
Der schweigsame Kerl namens Tarun verschwand wortlos hinter der nächsten Tür, woraufhin Gray auf die Tür deutete, die Peroys gegenüber lag. „Dann ist das meins.“
„Ich bin gleich nebenan, wenn du Angst haben solltest“, erklärte Jo mit einem Zwinkern und betrat das Zimmer, das sie ausgesucht hatte.
Als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, lehnte sie sich aufatmend dagegen und schloss für einen Moment die Augen.