Aiden sah, wie Jos Wangen einen Rotton annahmen, den er an ihnen bisher nur in vollkommen anderen Situationen gesehen hatte. Seine Mundwinkel zuckten, während er zu ihr und Vellris hinüberging. Tatsächlich überraschte ihn nicht so sehr, dass die anderen mitbekommen hatten, dass zwischen Jo und ihm etwas lief. Ehrlicherweise hätte es ihn eher verwundert, wenn ihnen nichts aufgefallen wäre, aber für Jo kam die Erkenntnis anscheinend unerwartet.
„Ihr seid beide erwachsen“, stellte Vellris gerade klar, als Aiden neben Jo trat. „Und es geht nur euch beide etwas an, was ihr da... treibt.“ Er fuhr sich über das kurze Ziegenbärtchen. „Ich schätze, was Gray eigentlich sagen wollte, war, dass wir uns Sorgen um dich machen, Frea“, wandte er sich jetzt wieder direkt an Jo. „Wir wissen, dass du immer diese eiserne Regel hattest, was Beziehungen und Jobs anging“, fuhr er fort. „Wir wollen einfach nicht, dass du verletzt wirst.“
„Das wird sie nicht“, mischte Aiden sich ein und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Nichts für ungut, Kumpel.“ Vellris musterte ihn kurz. „Aber Jo ist wie eine kleine Schwester für uns alle. Wir wissen, dass hinter ihrer harten Schale noch ein bisschen mehr steckt.“
„V, lass gut sein“, bat Jo, die offenbar ihre Stimme wiedergefunden hatte. „Ich weiß, dass ihr es nur gut meint, aber ich bin schon ein großes Mädchen.“
Oh, ja. Das war sie.
Aiden biss sich auf die Zunge, denn er wusste, dass ein solcher Kommentar jetzt unangebracht war.
Vellris zuckte nur mit den Schultern. „Auch große Mädchen machen Dummheiten“, entgegnete er leichthin, ehe er die Hand zu einem knappen Gruß hob. „Aber solange ihr euch einig seid, ist ja alles in Ordnung. Ich gehe dann auch mal nach oben. Caya sollte inzwischen ja wach sein.“ Damit machte er sich davon und Aidens Blick zuckte automatisch zur Uhr. Tatsächlich hatte die junge Frau sich in den letzten Tagen Recht gut von ihren sichtbaren Verletzungen erholt und zu ihrer aller Überraschung, hatte sie auch sehr gefasst darauf reagiert, als sie erfahren hatte, dass es sich bei ihren Rettern um Vampire handelte. Sie hatte verstanden, dass sie zu den guten gehörten und ihr helfen wollten und seither besserte sich ihre körperliche Verfassung von Tag zu Tag. Zu ihrem seelischen Zustand konnte Aiden wenig sagen, denn bislang hatte Caya ihnen nicht viel darüber erzählt, was sie erlebt hatte. Peroy schien der einzige zu sein, dem es gelang, ihr hin und wieder ein paar Kleinigkeiten zu entlocken. Doch Aiden wusste auch, dass Caya von schrecklichen Alpträumen geplagt und immer wieder von Panikattacken überwältigt wurde. Peroy wich ihr nach wie vor kaum von der Seite und offenbar gab ihr seine Anwesenheit ein gutes Gefühl, denn er schlief sogar in ihrem Zimmer auf einer provisorisch auf dem Boden drapierten Matratze. Eine Tatsache, die Aiden ehrlich verwunderte, denn er hätte den Mann nie als so fürsorglich eingeschätzt.
Ein langgezogenes Seufzen von Jo riss Aiden aus seinen Gedanken und er sah zu ihr hinüber:
„Alles in Ordnung?“, fragte er.
Kurz zögerte sie, ehe sie die Augen verdrehte. „Ich denke, ich kann niemanden in diesem Haus je wieder in die Augen sehen, aber ansonsten...“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ansonsten geht es mir gut.“
Aidens Mundwinkel wanderten nach oben. „So schlimm ist es nun auch wieder nicht“, entgegnete er. „Wie Vellris schon gesagt hat, sind wir beide erwachsen und tun nichts Verwerfliches.“ Unanständig vielleicht, heiß ganz sicher, aber definitiv nicht verwerflich.
„Ich weiß.“ Jos Blick wanderte über seinen Körper und Aiden spürte sofort das inzwischen so vertraute Kribbeln in seiner Brust.
„Wenn du mich so ansiehst, dann wünschte ich mir, dass du an jenem Abend tatsächlich mein Blut getrunken hättest“, sagte er, ehe er weiter darüber nachdenken konnte. Kaum hatten die Worte seinen Mund verlassen, zuckte Jo so erschrocken zusammen, dass er sie jedoch lieber sofort zurückgenommen hätte.
Jo starrte Aiden sprachlos an, während seine Worte in ihren Verstand vordrangen.
„Du... du... was?“, stammelte sie unfähig einen klaren Satz zustande zu bringen.
Fast rechnete sie damit, dass Aiden das Gesagte mit einem lockeren Spruch abtun würde, doch er sah sie ernst aus seinen türkisen Edelsteinaugen an. „Vielleicht sollte ich das nicht sagen, aber so ist es“, bestätigte er. „Seit du mich gebissen hast, stelle ich mir vor, wie es wäre, die Blutsbindung mit dir einzugehen. Ich weiß, dass das für dich nicht in Frage kommt, aber es ändert nichts an meinen Gefühlen. Wenn du den Raum betrittst, dann will ich dich berühren und das hat nichts mit dem unfassbaren Sex zu tun, den wir haben. Und wenn du nicht in meiner Nähe bist, dann muss ich ununterbrochen an dich denken. Ich will dich in den Arm nehmen, an deiner Seite einschlafen und wieder aufwachen. Ich will, dass du zu mir gehörst und zwar mit allem, was dazu gehört.“ Er fuhr sich durch das hellbraune Haar, als wäre er verlegen, doch in seinen Worten lag eine Gewissheit, die ihr Herz schneller schlagen ließ. „Ich weiß, es geht viel zu schnell und wir kennen uns noch nicht sehr lange, aber ich will keinen einzigen Tag mehr ohne dich verbringen. Und es ist mir scheißegal, dass das gerade absolut kitschig klingt, aber ich denke...“ Er schüttelte den Kopf, als müsse er sich selbst berichtigen. „Nein, ich weiß, dass ich mich in dich verliebt habe, Jo.“
Ihr Mund war staubtrocken und sie musste blinzeln, während sie kaum fassen konnte, was er gerade gesagt hatte. Ihr Kopf wollte ihren Ohren nicht trauen, doch ihr Herz machte vor Freude einen Salto.
Jedes einzelne Wort hätte genauso aus ihrem Mund kommen können, doch niemals hätte sie den Mut gefunden, das laut auszusprechen. Stattdessen war Aiden derjenige, der sich ihr gerade auf eine Weise offenbart hatte, die sie zeitgleich vor Glück beinah platzen und vor Angst davonlaufen ließ.
Himmel, sie hatte keine Ahnung, wann es passiert war, aber ihr war längst klar, dass sie Gefühle für Aiden entwickelt hatte. Und Vellris hatte den Nagel auf den Kopf getroffen, denn sie wusste, dass Aiden ihr so viel bedeutete, dass es sie auf eine Weise verletzen könnte, die ihr das Herz würde brechen können.
„Jo?“ Aiden musterte sie und auf seinem Gesicht erkannte sie dieselbe Unsicherheit, die sie seit Tagen verfolgte.
„Ich habe Angst“, gestand sie leise und holte tief Luft. „Ich habe Angst vor meinen eigenen Gefühlen. Davor, dass das alles zu schnell geht und wir uns in etwas verrennen, was nicht echt ist.“
Aidens Hand umfing ihre Wange. „Ich habe noch nie so für jemanden empfunden, wie ich es für dich tue“, gab er zu. „Ja, du hast Recht, es geht unfassbar schnell, aber ich weiß, dass sich an meinen Gefühlen für dich nichts ändern wird, nur weil wir uns mehr Zeit lassen. Ich will dich jetzt auf dieselbe Weise wie nächste Woche, nächsten Monat oder nächstes Jahr. Aber wenn du willst, dass wir noch warten, dann werde ich das tun. Wenn du erst herausfinden willst, ob du für mich auf dieselbe Weise empfindest, dann ist das für mich in Ordnung.“
Jo spürte die Wärme seiner Handfläche, die sich von ihrer Wange in ihren gesamten Körper ausbreitete. „Ich...“, setzte sie an, ohne zu wissen, wie sie die richtigen Worte finde sollte. „Ich will gar nicht warten“, flüsterte sie. „Ich weiß längst, dass ich mich in dich verliebt habe.“
Sie hatte den Satz kaum beendet, da drückte Aiden seine Lippen bereits auf ihre. Hitze ergriff auf der Stelle von ihr Besitz und es war, als würde ihre Haut in Flammen stehen. Aiden schien es ebenfalls zu spüren, denn er zog sie dicht an sich, während ein kehliges Knurren aus seiner Kehle stieg.
„Aiden“, keuchte sie atemlos, denn sie musste ihm noch etwas sagen. „Aiden, warte.“
Es kostete sie all ihre Selbstbeherrschung, um ihn von sich zu schieben und mit einem Schritt nach hinten, etwas Abstand zwischen sich zu bringen. Die Verwunderung stand ihm in das wunderschöne Gesicht geschrieben.
„Ich muss dir noch etwas gestehen“, begann sie, ehe sie es sich anders überlegen konnte. „Ich habe dich angelogen. In jener Nacht, als ich dich gebissen habe...“ Sie musste all ihren Mut zusammennehmen, um jetzt ehrlich zu ihm zu sein, doch ehe sie weitersprechen konnte, stieß Aiden ein lautes Lachen aus. „Ich wusste es“, rief er und sie blinzelte irritiert.
„Ich wusste es doch“, wiederholte er und grinste breit.
„Du hast es gewusst?“
Er nickte. „Ich habe es dir angesehen. An diesem Abend und seither an jedem einzelnen Tag. Du spürst mich bereits in deinem Blut, habe ich Recht?“
Jo konnte nur nicken. Tatsächlich hatte sie das Gefühl im ersten Moment nicht einordnen können, aber sie konnte Aiden seit dem Biss definitiv spüren. Es war, wie ein Schatten, der das Blut durch ihren Körper begleitete und wenn er nicht in ihrer Nähe war, so hatte sie dennoch eine Ahnung davon, wie es ihm ging. Es war eine Verbundenheit, die ganz sicher nur durch sein Blut hervorgerufen sein konnte, doch als Jo das verstanden hatte, hatte sie nicht den Mut gefunden, es ihm zu sagen. Bis jetzt.
„Du weißt, was das bedeutet?“, fragte Aiden jetzt und sein Grinsen reichte beinah bis zu seinen Ohren.
Jo legte den Kopf fragend schräg und er zog sie wieder an sich.
„Du wirst mich jetzt nicht mehr los“, erklärte er.
„Ist das ein Versprechen?“ Sie lächelte zu ihm auf und er nickte. „Noch viel mehr als das“, murmelte er und senkte den Kopf. Kurz bevor sich ihre Lippen berührten hielt er jedoch inne: „Als du von mir getrunken hast, war das das Heißeste, was ich je erlebt habe.“ Er leckte ihr spielerisch mit der Zungenspitze über die Unterlippe. „Also wenn du in Zukunft, deine kleinen Beißerchen in meine Haut bohren willst, nur zu.“
„Pass auf, was du dir wünschst“, gab sie zurück und ihr Herz raste, bei der Vorstellung, erneut von ihm zu trinken. Doch Aiden lächelte nur.
„Ich male mir seit Tagen aus, wie es sein würde, dich zu beißen“, raunte er an ihrem Mund. „Dein Blut zu kosten, während ich dich ausfülle und du meinen Namen stöhnst.“
Jo musste schlucken, als sie sich das Gesagte sofort bildlich vorstellte.
„Ist das noch ein Versprechen?“, fragte sie atemlos und er lachte.
„Das musst du wohl selbst herausfinden.“