„Ich habe definitiv gewonnen“, erklärte Gray. „Oder was meinst du, Jo?“
Jo blinzelte und sah zu ihrem Freund hinüber, der sie erwartungsvoll anblickte. Er hatte soeben ein Kampftraining gegen Vellris absolviert, bei dem Jo als Schiedsrichter hatte fungieren sollen. Dummerweise war kurz darauf auch Aiden in der Trainingshalle aufgetaucht und seither war Jo mehr damit beschäftigt gewesen, mit ihm heimliche Blicke auszutauschen, als den Kampf vor sich zu verfolgen.
„Ähm“, machte sie deshalb, während ihr nicht entging, dass Aiden amüsiert schmunzelte, während er sich hinter ihnen den Hanteln widmete.
„Frea?“ Vellris Blick richtete sich argwöhnisch auf sich, sodass sie sich sofort in die Enge getrieben fühlte.
„Unentschieden, würde ich sagen“, erklärte sie deshalb rasch und stand auf.
„Ach, komm schon“, maulte Gray, doch Vellris kniff nur die Augen zusammen, während er sie noch einen Moment länger musterte.
„Beim nächsten Mal, musst du dich eben besser anstrengen“, erwiderte Jo und klatschte in die Hände. „Komm schon, jetzt bin ich dran.“ Sie musste sich dringend ein bisschen betätigen, denn wenn sie Aiden noch länger dabei zusah, wie er Gewichte stemmte, würde sie vermutlich bald zu sabbern beginnen.
„Du erweist mir die Ehre?“ Gray schlug sich theatralisch die Hand auf die Brust. „Mir? Wirklich?“
Jo verschränkte die Arme vor der Brust. „Was soll das denn bedeuten?“
„Na in letzter Zeit ist doch der einzige, mit dem du trainierst, Aiden“, erwiderte Gray und sofort versteifte sich Jo. Tatsächlich waren Aiden und sie in den letzten Tagen häufiger zusammen in der Trainingshalle verschwunden. Mit Kampfübungen hatte das allerdings wenig zu tun gehabt.
Jo schluckte. Sie konnte sich selbst nicht erklären, wie es dazu gekommen war, aber irgendwie hatten sie auch nach dem Vorfall, bei dem sie ihn gebissen hatte, einfach nicht die Finger voneinander lassen können. Und so hatte sich zwischen ihnen etwas entwickelt, dass man allgemein hin wohl als Freundschaft plus bezeichnen konnte. Zumindest fühlte Jo sich Aiden inzwischen so nah, wie einem Freund und der Sex mit ihm war unglaublich.
„Ich trainiere seit Jahren nur mit euch“, konterte Jo rasch, ehe Gray ihre Verlegenheit auffallen konnte. „Da bin ich dankbar, auch mal etwas Abwechslung zu bekommen.“
Gray schnaubte spöttisch. „Ja, klar“, sagte er und Jo kniff die Augen zu schlitzen zusammen.
„Willst du mir etwas sagen, Gray?“, fragte sie und ihr entging nicht, dass Aiden ihrer Unterhaltung aufmerksam lauschte.
„Nein, Jo. Die eigentliche Frage ist doch, ob es etwas gibt, was du uns sagen willst?“, hielt Gray dagegen und zog eine Augenbraue nach oben.
„Lass es gut sein“, mischte Vellris sich ein, doch Gray ließ nicht locker: „Nein, V. Das lasse ich nicht“, sagte er und trat näher auf Jo zu. „Glaubst du, wir sind dämlich?“
Als Jo nicht sofort antwortete, fuhr er unbeirrt fort. „In den letzten Tagen verschwindet immer erst einer von euch beiden und kurz darauf auch der andere. Glaub mir, Jo. Ich bin zwar alt, aber nicht von gestern. Selbst Peroy hat es bemerkt und er sitzt fast den ganzen Tag an Cayas Bett.“
Jo starrte den blonden Mann einfach nur an, als sie begriff, dass ihre Freunde längst wussten, was sie die ganze Zeit versucht hatte, vor ihnen geheim zu halten.
„Wenn ihr beide etwas am Laufen habt, dann ist das eure Sache“, fuhr Gray einfach fort. „Aber verkauft uns andere nicht für dumm.“
Damit machte er auf dem Absatz kehrt und marschierte zur Tür. „Ich gehe jetzt mal nach Peroy und Caya sehen“, erklärte er dann und ließ Jo mit offenem Mund zurück.
Erst als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, wanderte Jos Blick weiter zu Vellris. Der fuhr sich verlegen durch das helle Haar. „Tja, Frea“, seufzte er. „Ich hätte es vielleicht nicht so formuliert, aber Gray hat Recht.“ Kurz sah er über die Schulter zu Aiden, der sein Training beendet hatte. „Wir wissen längst, dass ihr es miteinander treibt.“ Er tippte sich gegen das Ohr, an dem er den silbernen Ring trug. „Auch wenn ihr glaubt, dass ihr diskret seid, dürft ihr nicht vergessen, dass ihr mit Vampiren unter einem Dach lebt.“
Jo schnappte nach Luft, als sie begriff, was er ihr gerade zu sagen versuchte. Himmel, sie hatten sie gehört?
Resigniert legte Jo den Kopf in den Nacken und seufzte. „Peroy weiß es auch?“
Vellris gab einen zustimmenden Laut von sich. „Weißt du, wir können ihn so deutlich an dir riechen, dass niemand auf die Idee kommt, dass das von bloßem Training stammt.“
Okay, das war genug. Jo würde auf der Stelle im Erdboden versinken und nie wieder daraus hervorkommen. Nie, nie, niemals wieder.