Aiden warf einen prüfenden Blick hinaus in den Flur und stellte zufrieden fest, dass niemand in Sichtweite war. Gerade wollte er sich nach Jo umsehen, da trat sie bereits neben ihn. Ihre wachen Augen verschafften sich ebenso schnell einen Überblick, ehe sie aus dem Separee trat. Sie nickte ihm kurz zu, ehe sie gemeinsam zurück in Richtung der Eingangshalle eilten. Tatsächlich hatten sie ebendiese noch nicht ganz erreicht, als sie das Geräusch zahlreicher schwerer Stiefel vernahmen, die sich näherten. Aiden stieß einen leisen Pfiff aus und erhielt umgehend die Antwort in Form des vereinbarten Signals. „Pfefferminztee“, brummte eine tiefe Stimme und Aiden trat neben Jo in die Eingangshalle.
Dort hatte sich Taye mit einer ordentlichen Verstärkung Zutritt verschafft und offenbar auch schon den ein oder anderen Dämon ausgeschaltet. Zumindest ließen das die vereinzelten, dampfenden Pfützen am Boden vermuten.
„Eine Gruppe ist bereits in diese Richtung ausgeschwärmt“, erklärte Taye knapp und deutete auf den Gang, der auf der gegenüberliegenden Seite von der Halle abführte. „Wir übernehmen diese Seite. Euer Team sichert den Hinterausgang, falls sich jemand davonmachen will.“
Aiden nickte. Tatsächlich hatte Taye sich genaustens vorbereitet und durch einen Plan des Gebäudes wussten sie genau, wo sich der Hinterausgang befand.
„Wir müssen die Gefangenen befreien“, mischte Jo sich ein. „Es sind mindestens zehn.“
Taye nickte. „Ihr übernehmt das.“
Aiden machte einen zustimmenden Laut, als ihm ein Vampir neben Taye eine Waffe zuwarf. Er fing sie ohne Probleme und gleich darauf war auch Jo in Besitz einer Pistole. Taye drückte sich an ihnen vorbei und überreichte Jo noch ein Funkgerät. „Viel Erfolg“, sagte er und dann marschierte er mit seinen Begleitern den Flur hinunter, den Aiden und Jo gerade hinter sich gelassen hatten.
„Was glaubst du, wo sie die Menschen festhalten?“, fragte Jo und Aiden dachte kurz darüber nach.
„In der Nähe des Hinterausgangs“, entschied er dann.
„Darüber haben sie sie hergebracht und dort verladen sie sie auch für den weiteren Transport“, fügte Jo nachdenklich hinzu und Aiden stimmte ihr zu. Genau das war auch seine Überlegung gewesen.
„Dann los.“ Jo machte kehrt und rannte zurück in den Flur. Aiden staunte, wie schnell sie sich trotz der hohen Schuhe bewegen konnte und folgte ihr. Schweigend eilten sie an einigen verschlossenen Türen vorbei, bis sie die erreichten, die in den hinteren Gebäudeteil führte. Jo legte die Hand auf die Klinke, während sie die entsicherte Waffe mit der anderen schussbereit hielt. Aiden positionierte sich hinter ihr und auf ein stummes Signal hin, stieß Jo die Tür auf. Schulter an Schulter sprangen sie in den dunklen Raum, bereit, sofort zu schießen, sollte es erforderlich sein.
Doch der kurze Gang war menschenleer und so schlichen sie nahezu lautlos hinein. Es gab nur eine weitere Tür und diesmal drückte Jo das Ohr an ebendiese. Mit einer Geste bedeutete sie Aiden, dass er es ihr nachtun sollte und so lauschte er ebenfalls.
„Nur zwei“, sagte eine männliche Stimme gerade. „Zu schade. Ich hatte gehofft, dass mehr für uns übrigbleibt.“
„Zwei ist besser als gar nichts“, hielt eine weitere Stimme dagegen. „Zwei neue Spielgefährten für unsere Höhle.“
„Du hast Recht. Endlich einmal wieder Frischfleisch. Ihr werdet euch sicher prächtig mit den anderen verstehen.“
Ein boshaftes Lachen erklang. „Zumindest mit denen, die noch am Leben sind.“
Aiden warf Jo einen alarmierten Blick zu und sie wirkte nicht weniger entsetzt.
„Los, Eugen! Mach die Kofferraumklappe zu und lass uns die zwei Schätze nach Hause bringen“, sagte schließlich die erste Stimme und gleich darauf war das Zuschlagen der Wagentür zu hören.
„Wir müssen ihnen folgen“, wisperte Jo und Aiden nickte. Ganz offensichtlich machten sich die beiden Kerle mit ihrer neusten Beute auf den Weg an einen Ort, an dem es noch mehr Gefangene gab.
Jo angelte ihr Mobiltelefon aus der Tasche, drückte eilig einige Tasten und gleich darauf hielt sie es an ihr Ohr. „Vellris“, sagte sie dann leise. „Gleich kommt ein Wagen durch die Garage am Hinterausgang. Lass ihn fahren und hol uns dann ab!“
Sie legte auf, ehe Vellris die Chance bekam, ihr zu antworten und im nächsten Moment hörte Aiden bereits, wie das Garagentor sich öffnete. Angespannt warteten sie, während der Motor des Fahrzeugs auf der anderen Seite der Tür gestartet wurde und erst als sie sicher waren, dass das Auto fort war, traten sie durch ebendiese.
Aiden zuckte zusammen, als er in der Garage einen eisernen Käfig erblickte, in dem die verbleibenden Menschen in den roten Bademänteln kauerten. Jo schnappte hörbar nach Luft, während sie zwischen dem Käfig und dem Garagentor hin und her blickte.
Aiden ahnte, dass sie gerade mit sich rang, aber ihnen lief die Zeit davon. Deshalb rannte er nach draußen, wo Vellris gerade mit dem dunklen SUV hielt.
„Tarun“, rief Aiden und sein Freund stieg aus dem Wagen. „Kümmere dich um die Gefangenen.“ Mit einem Fingerzeig deutete er in die Garage und Tarun folgte stumm seiner Aufforderung.
„Jo.“ Aiden sah sich nach ihr um und entdeckte sie unentschlossen hinter sich stehend.
„Ich mach das schon“, sagte Tarun mit dunkler Stimme und legte Jo im Vorbeigehen ganz kurz die Hand auf den Arm. Das schien für sie zu genügen, denn sie nickte kurz, ehe sie sich endlich in Bewegung setzte.
Aiden hielt ihr die Tür auf und als sie gemeinsam auf der Rückbank platzgenommen hatten, fuhr Vellris los. „Wir folgen dem Van, der gerade aus der Garage kam?“, fragte er und Jo bestätigte das: „Sie haben zwei Gefangene im Kofferraum und wir haben gehört, dass sie sie an einen Ort bringen wollen, wo es noch mehr geben muss.“
Peroy, der auf dem Beifahrersitz hockte, warf Jo einen kurzen Blick über die Schulter zu. „Im Fußraum sind Klamotten für dich.“
Sie bedankte sich knapp und beugte sich dann nach vorn. „Perfekt“, sagte sie, als sie einen Satz Kleidung und Turnschuhe hervorzog. Rasch entledigte sie sich ihrer hohen Schuhe und schlüpfte dann in die Trainingshose. Gleich darauf drehte sie Aiden den Rücken zu. „Würdest du bitte mal den Reißverschluss aufmachen“, bat sie und Aiden rückte ein Stück näher an sie heran, um ihrem Wunsch nachzukommen. Gerade hatte Aiden auf diese Weise Jos Kehrseite entblößt, da hielt Vellris den Wagen an. Die Tür auf Aidens Seite wurde aufgerissen und Gray sprang ins Innere, ehe Vellris sofort wieder anfuhr.
„Hey“, rief er und seine Augenbrauen wanderten nach oben, als er Jos nackten Rücken erblickte.
„Welche Richtung?“, wollte Vellris wissen, der auf eine Kreuzung zuhielt.
„Ähm, rechts“, kam die knappe Antwort von Gray, der noch immer Jo anstarrte. Aiden räusperte sich und wandte sich an den anderen Mann, wobei er sich bemühte, sich so breit zu machen, dass er Jo hinter sich verbarg. „Du hast den Wagen gesehen?“, fragte er Gray, der ihn nun endlich ansah.
„Ja, wir sollten keine Probleme haben, ihn einzuholen.“
Gray beugte sich jetzt nach vorn, um aus dem Frontfenster zu blicken.
„Da ist er“, bestätigte Vellris und Aiden folgte seinem Fingerzeig. Tatsächlich konnte er in einiger Entfernung einen dunkelgrauen Van ausmachen, der zügig über die nächtliche Straße fegte.
„Sehr gut“, mischte Jo sich ein, die inzwischen ein schwarzes Shirt übergezogen hatte und sich aus dem Kleid schälte. Achtlos warf sie es in den Kofferraum und schlüpfte dann in die Turnschuhe. „Jetzt dürfen sie uns nur nicht bemerken.“
„Das werden sie nicht.“ Vellris zwinkerte ihr im Rückspiegel zu. „Dafür sorge ich schon.“
„Sieht so aus, als wären wir angekommen.“ Vellris Stimme durchbrach die angespannte Stille, die sich in der letzten halben Stunde im Wagen ausgebreitet hatte. Schon vor einigen Minuten hatte er die Scheinwerfer ausgeschaltet, denn der Van war auf einen schmalen Feldweg abgebogen. Jetzt parkte Vellris den SUV am Wegesrand und Jo reckte den Kopf. Tatsächlich konnte sie den Van in der Dunkelheit ausmachen. Er hatte vor einem Gebäude geparkt, dass die besten Tage wohl schon eine Weile hinter sich hatte. Es sah aus, als ob es sich dabei um eine Art Lagerhalle handelte. Der Putz bröckelte an vielen Stellen, das Dach wies Löcher auf und keines der Fenster schien noch über eine intakte Scheibe zu verfügen.
Jo war dankbar über ihre hervorragende Nachtsicht, denn obwohl im Inneren des Gebäudes Licht zu brennen schien, war es drum herum völlig Finster. In der näheren Umgebung schien es auch keine weiteren Häuser oder überhaupt eine Zivilisation zu geben. Dies war also der perfekte Ort für ein Dämonennest.
„Wir teilen uns auf“, sagte Vellris. „Peroy und Jo, ihr übernehmt den Hintereingang. Aiden, du kommst mit mir vorn herum und Gray, du bleibst hier und behältst die Umgebung im Auge.
Keiner stellte Vellris Anweisungen in Frage, während sie leise aus dem Wagen ausstiegen. Jo schnappte sich einen Dolch und belud ihre 9mm mit einem neuen Magazin, während auch die anderen sich an den Waffen aus dem Kofferraum bedienten.
Schließlich machten sie sich auf den Weg zu dem Gebäude.
Jo schlich an Peroys Seite an der Hauswand entlang, dabei duckten sie sich unter den Fenstern hindurch und noch ehe sie die Rückseite erreicht hatten, wehte Jo ein widerlicher Geruch in die Nase. Sie verzog das Gesicht und Peroys Miene verriet ihr, dass auch er wusste, was hier in der Luft lag. Es roch nach Tod und vielmehr noch nach Verwesung. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie hier noch jemanden lebend herausholen würden, war schwindend gering.
Jo fluchte innerlich, konzentrierte sich aber dennoch auf Peroy. Der nickte mit dem Kopf in Richtung der Tür, die sie inzwischen erreicht hatten. Sie hing etwas schief in den Angeln und Jo hörte dahinter eine Stimme, die sie wiedererkannte.
„Ach, kommt schon. Habt ihr sie wirklich alle ausgesaugt?“, wollte der Mann hörbar genervt wissen.
„Wir waren hungrig“, kam die träge Antwort einer Frau. „Und sie waren ohnehin schon ziemlich hinüber.“
„Aber ihr habt ja zum Glück Nachschub mitgebracht.“ Eine weitere männliche Stimme mischte sich ein.
„Vergiss es“, zischte der erste Kerl. „Ihr werdet die beiden nicht gleich wieder leersaugen.“
„Nur ein bisschen dran rumknabbern“, bettelte der andere.
„Nein.“ Ein Schnauben erklang. „Elende Vampire“, murmelte die Stimme dann und Jo sah Peroy fragend an. Der zeigte drei Finger hoch, doch Jo schüttelte den Kopf. Sie hatten zwar gehört, dass sich drei Personen unterhielten, aber unter ihnen musste es noch mindestens einen weiteren geben, schließlich hatte sie die Stimme des Mannes noch nicht gehört, der zuvor in der Garage als Eugen angesprochen worden war. Jo streckte vier Finger in die Luft und Peroy nickte als Zeichen, das er verstanden hatte. Dann zog er seine Waffe und Jo tat es ihm nach.
Ihre Nerven kribbelten, während sich ihre Sinne ganz auf den Zugriff fokussierten. Die Muskeln spannten sich an und das Adrenalin rauschte durch Jos Adern. Ihr Kampfgeist war geweckt und sie ließ sich ganz auf die bevorstehende Aufgabe ein. Peroys Blick kreuzte ihren, ehe er sich vor ihren Augen in Luft auflöste. Zeitgleich stieß Jo die Tür auf und dann ging es los.