„Bist du soweit?“ Gray klopfte gegen die Badezimmertür, als Jo gerade ihr Haar hochsteckte. „Gleich“, antwortete sie und schob die letzten Nadeln an ihrem Hinterkopf fest. Zufrieden warf sie einen Blick in den Spiegel. Taye hatte für Gray einen Anzug und für sie ein hübsches Cocktailkleid besorgt. Dessen graublaue Farbe schmeichelte ihren Augen und passte hervorragend zu ihrem Hautton. Die mit Spitze besetzten Ärmel wirkten ebenso elegant, wie das anliegende Oberteil, das ihr Dekolletee auf eine Weise betonte, wie es Jo nicht gewohnt war. Dennoch gefiel ihr der Anblick, den sie bot. Evelyn Frost war bereit an diesem Abend alle umzuhauen.
Jo griff nach dem roten Lippenstift, den sie eben aufgetragen hatte und verließ dann das Badezimmer. Auf dem großen Bett, in dem sie Stunden zuvor herrlich gut geschlafen hatte, lag eine kleine Handtasche, in die sie den Lippenstift warf.
„Oh, hallo, schöne Frau.“ Gray, der am Türrahmen zum Wohnzimmer lehnte, stieß ein anerkennendes Pfeifen aus. „Was habe ich nur für eine umwerfende Gemahlin.“
Jo musterte ihn kurz von oben bis unten. Der dunkelblaue Anzug passte ihm perfekt und die blonden Locken verliehen ihm etwas Jungenhaftes, das ihn überaus attraktiv machte. „Du kannst dich auch sehen lassen“, gab sie das Kompliment zurück und schlüpfte in die hohen Pumps, ehe sie an Gray vorbei in das Wohnzimmer trat. Auf dem niedrigen Couchtisch lag eine Schatulle, die Jo nun öffnete und eine filigrane Kette mit edlem Schmuckstein herausnahm. Sie wusste, dass hinter ebendiesem Stein eine winzige Wanze angebracht war, die es Taye ermöglichte, alles mitzuhören, was in ihrer Gegenwart gesprochen wurde.
Jo legte sich die Kette um den Hals und ließ sich anschließend von Gray in den schwarzen Mantel helfen. Dann nahm sie seinen dargebotenen Arm. „Sollen wir?“
Sie nickte. „Lass sie uns umhauen.“
Seite an Seite verließen sie das luxuriöse Hotel und stiegen in den dunklen Wagen, der davor auf sie wartete. Vellris saß am Steuer und als sein Blick Jos im Rückspiegel traf, nickte er ihr kaum merklich zu. Schweigend fuhr er dann los und ordnete sich in den abendlichen Verkehr ein.
„Bist du aufgeregt?“, wollte Gray leise von ihr wissen, doch Jo schüttelte den Kopf. „Voller Vorfreude“, erwiderte sie und lächelte.
Gray schien zu verstehen, denn er tätschelte ihr kurz die Hand, ehe sie in einvernehmliches Schweigen verfielen.
Erst als der Wagen schließlich vor einem hohen Gebäude hielt, durchbrach Gray die Stille. „Wir sind da“, erklärte er und Vellris stieg aus. Jo wartete, bis er um das Fahrzeug herumgetreten war und ihr die Tür aufhielt, ehe sie seine Hand ergriff und sich beim Aussteigen helfen ließ.
Sie machte zwei Schritte auf das Gebäude zu, vor dem zwei Kerle standen, die aussahen, als habe man Hulk versucht in einen Anzug zu stecken. Ihre grimmigen Mienen musterten jeden von Jos Bewegungen und sie konnte nicht verhindern, dass sie erschauderte. Rasch zog sie den Mantel etwas fester um ihre Schultern, während sie sich nach Gray umschaute.
Aiden beobachtete von der gegenüberliegenden Straßenseite, wie Vellris Jo aus dem Wagen half und musste schlucken. Sein Atem stockte einen kurzen Moment, als sein Blick auf ihr hochgestecktes Haar und den schlanken Nacken fiel. Der schwarze Mantel verbarg zwar das Kleid, was sie ohne Zweifel darunter trug, aber Aiden konnte ihre schlanken Waden und die hohen Schuhe gut erkennen. Gerade machte sie zwei Schritte auf das Gebäude zu, als Vellris um den Wagen ging, um Gray die andere Tür zu öffnen. Aiden sah, dass Jo die Jacke enger um sich zog, als würde sie frieren und dann geschah etwas, das so nicht geplant war. Aiden konnte nicht erkennen, ob die Kette, in der die Wanze versteckt war, nicht richtig verschlossen gewesen war oder ob eines der feinen Glieder riss, aber im nächsten Moment fiel das Schmuckstück von Jo völlig unbemerkt zu Boden.
Aiden erstarrte.
Wenn sie diese Kette nicht trug, dann würde Taye nicht mit anhören können, was währende der Party vor sich ging. Es war ein Risiko und könnte den gesamten Plan gefährden.
Aidens Blick zuckte hinüber zu Vellris, der gerade an der zweiten Hintertür angekommen war und Anstalten machte, sie zu öffnen.
Verflucht, er hatte keine Zeit mehr.
Ohne länger darüber nachzudenken, gab er seine Deckung auf und winkte, während er über die Straße eilte. „Liebling“, rief er laut und fing sich damit sofort die argwöhnischen Blicke der Türsteher ein. „Liebling“, wiederholte er dennoch und winkte dabei in Jos Richtung.
Vellris starrte ihn perplex an, war aber so geistesgegenwärtig, Grays Tür nicht zu öffnen.
Aiden, der jetzt die Straße überquert hatte, nickte ihm knapp zu: „Angus, danke, dass Sie meine Frau hergefahren haben“, sagte er und wandte sich an Jo, die ihm ein zögerliches Lächeln schenkte. „Es tut mir leid, dass wir nicht gemeinsam herfahren konnten“, erklärte er entschuldigend. „Ich verspreche dir, für den Rest dieses Wochenendes bleibt mein Telefon ausgeschaltet und meine Aufmerksamkeit gehört ganz dir.“ Er trat direkt vor sie und strich ihr in einer liebevollen Geste über die Wange. Glücklicherweise ließ sie sich ihre Verwirrung nicht weiter anmerken und stieg sofort auf sein Spiel ein.
„Schön“, erwiderte sie und zog die Schultern zurück. „Ich nehme das als ein Versprechen und werde dich daran erinnern, solltest du es vergessen.“
Aiden lächelte und beugte sich zu ihr hinunter, um ihr einen Kuss auf die Wange zu hauchen.
Jo hatte keine Ahnung, was hier vor sich ging, aber sie wusste, dass sie ihre Deckung auf keinen Fall würde aufgeben dürfen.
Als Aiden sich jetzt zu ihr hinunterbeugte und ihr einen Kuss auf die Wange gab, überkam sie ein so angenehmer Schauer, dass es ihr leicht fiel, sich darauf einzulassen. Sie schmiegte sich an ihn, als seien sie tatsächlich das Liebespaar, was sie gerade spielten.
„Du hast deine Kette verloren“, wisperte Aiden an ihrem Ohr, ehe er sich aus der Umarmung löste.
Sofort tastete Jo nach ihrem Hals und tatsächlich war der Anhänger verschwunden.
„Sieh nur“, sagte Aiden etwas lauter. „Ist das nicht deine Kette?“ Er bückte sich, um das Schmuckstück hinter ihr aufzuheben und sie sah ihn mit großen Augen an. „Oh, der Verschluss muss sich gelöst haben“, entfuhr es ihr.
„Darf ich?“ Aiden trat hinter sie und legte ihr die Kette wieder an ihren vorgesehenen Platz.
„Danke“, wisperte sie, als er ihr gleich darauf einen liebevollen Kuss auf das Haar drückte.
„Angus“, wandte Aiden sich dann an Vellris. „Haben sie die Einladung mitgebracht?“
Vellris, der das Schauspiel mit scheinbar neutraler Miene beobachtet hatte, nickte. Er beugte sich ins Wageninnere und Jo wusste, dass er sich die Einladung von Gray aushändigen ließ. Dann reichte er den Umschlag an Aiden weiter: „Einen schönen Abend, Sir“, sagte er, ehe er zurück hinter das Lenkrad stieg.
„Den werden wir haben, nicht wahr?“ Aiden bot Jo seinen Arm und sie ließ sich von ihm zu den Türstehern führen. „Mr. und Mrs. Frost“, stellte Aiden sie vor und nach einem kurzen Blick auf die Einladung wurden sie eingelassen.
An Aidens Seite betrat Jo das Gebäude und als sie mit einigen anderen Partygästen in einen geräumigen Fahrstuhl fuhren, realisierte sie, dass ihr Plan nun ordentlich umgeworfen worden war.