Die drei Mädchen stiegen nacheinander in den Bus ein. Melina, die größte der drei, ging voran. Sie ging bis ganz nach hinten durch und fand noch einen freien Vierersitz. Aufstöhnend ließ sie sich auf das Sitzpolster fallen.
"Meine Güte, heute haben wir uns ja mal wieder die Beine in den Bauch gestanden. Immer ist der Bus zu spät – immer!"
"Ja, aber echt. Mir tun die Füße jetzt schon ganz weh",
Emily streckte ihre Beine aus, die in langen weißen Stiefeln steckten.
"Was musst du auch immer diese unbequemen Dinger anziehen, Lily."
"In denen sehe ich aber doch voll gut aus. Nicht wahr, Blanca?"
Lily strich über das weiße Leder der Stiefel. Blanca, die jüngste und kleinste der drei, schob sich eine Strähne ihres blonden Haars aus der Stirn.
"Oh ja, die stehen dir wirklich mega, Lily. Aber wenn jemand solche hohe Absätze nötig hätte, dann wäre das wohl ich. Du bist doch gar so klein, Lily."
"Ach, darum geht's mir doch gar nicht."
"Nein? Um was denn dann?", frage Meli.
Lily sah Meli an, dann zuckte sie mit den Schultern. Melina legte die Arme in ihren Nacken und streckte sich, schob ihre Brust raus. Ein leichtes Lächeln bildete sich auf ihren Lippen.
"Also... Blanca“, sagte Meli,
„heute Abend steht dein Cortillion auf dem Programm."
"Cortillion?"
"Na, deine Einführung in die Partygesellschaft. Du bist Debütantin. Heute ist dein erster wirklicher Clubabend. Sorry, aber deine Erfahrungen aus der Kinderdisko zählen nicht."
"Haha", sagte Blanca und verzog das Gesicht.
"Heute Abend geht's rund. Du wirst staunen, Blanka-Schätzchen."
"Och, Meli, nenn' mich nicht immer Schätzchen. Bei dir klingt's immer gleich wie Kätzchen."
"Ach, Kleine..."
"Auch nicht Kleine. So klein bin ich jetzt auch nicht."
"Nein, nein. Mit Kleine mein ich nur – du bist nun mal eben die Jüngste in unserem Bunde."
"Und was ist, wenn wir irgendwann alt, grau und runzlig auf einer Parkband sitzen und stricken ?"
"Dann bist du für uns immer noch die Kleine. Find dich damit ab: Du wirst immer unsere Kleine sein".
"Na toll, das sind ja schöne Aussichten."
"Ach, Blanca, Süße. Wir, dass heißt ich und Lily... Verzeihung... Lily und ich... meinen es doch nur gut mir dir. Und heute Abend wachen wir über dich. Wir passen auf dich auf."
"Ach so? Brauche ich jetzt sogar zwei Babysitter oder Anstandsdamen?"
"Ja, brauchst du, Liebes. Heute Abend – auf jeden Fall! Komm schon, Liliy, sag' doch auch mal was."
"Meli hat Recht. Im 'Sweet Dreams' kann es manchmal ganz schön rau zu gehen."
"In der Tat", sagte Meli,
"Wir werden nicht zulassen, dass der nächstbeste Typ dir an deinem ersten Abend dein Leben ruiniert. Erst ist er nett, dann geht geht er dir an die Wäsche, dann wirst du schwanger, kriegst 'n Kind, brichst die Schule ab, hast keine Ausbildung und bist maga unglücklich. Im Nu ist dein Leben voll vermurkst."
Blanca verzog ihre Lippen zu einem Schmollmund.
"Na das ist ja wunderbar, für wie dumm ihr mich haltet."
"Nicht dumm, Kleine, nur zu nett."
"Zu nett?"
"Ja, zu nett, Blanca. Du glaubst immer an das Gute in allen Menschen. Du bist noch unerfahren. Du hast noch nicht, wie Lily und ich, schlechte Erfahruhngen gemacht. Wenn du zu nett bist, nutzen das andere Menschen aus. Irgendwann – und dass wünsche ich dir wirklich nicht – könnte das mal schlimme Konsequenzen für dich haben."
"Schlimme Konsequenzen?"
"Ja. Heute zum Beispiel – im Dreams. Wir wachen heute über dich, Süße – ob du es willst oder nicht. Nicht wahr, Lily?"
"Jawohl", sagte Lily und mimte eine staatsmännische Geste.
Blanca und Melina lachten.
Kurz darauf bog der Bus ab und verlangsamte er. Als er anhielt, drängten die Menschen zu den Ausgängen. Die drei Freundinnen stiegen aus. Ein Mann, der bis eben eine Zeitung gelesen hatte und die ganze Fahrt hinter ihnen gesessen hatte, schaute den drei Mädchen hinterher. Dann stieg auch er aus. Die Zeitung warf er in den nächsten Mülleimer. Kurz darauf fischte ein älterer, etwas ungepflegter Mann sie wieder heraus. Begierig überflog er den Leitartikel:
"Weiterer mitternächtlicher Angriff auf Passanten. In der Nacht von Dienstag auf Mittwoch und von Donnerstag auf Freitag wurden erneut Menschen von einem unbekannten Angreifer leicht verletzt. Beide Opfer wiesen Bissverletzugen auf. Über die Identität des Angreifers ist immer noch nichts bekannt, weil die Opfer keinerlei verwertbare Aussagen machen konnten. Das eine Opfer wies einen hohen Alkoholspiegel auf und das andere stand unter Drogeneinfluss. Die Polizei hält es für möglich, dass die Bissverletzungen auch von einem Tier, beispielsweise einem größeren Hund stammen könnten. Hinweise bitte an die nächste Polizeidienststelle.
Der alte Mann schüttelte den Kopf.
„Verrückte! Nur noch Verrückte unterwegs“, schimpfte er und verschwand torkelnd in eine Gasse.