An einer Kreuzung bog Blanca nach rechts ab. Sie war in der Nähe des alten Gewerbegebietes. Vorischtig ging sie auf dem gepflasterten Gehweg, der seine besten Zeiten schon lange hinter sich hatte. Hier und dort fehlten ganze Steine und Blanca musste höllisch aufpassen, nicht in eins der Löcher zu treten. Blanca fluchte. Wenn sie nicht aufpasste, würde sie sich beide Beine brechen. Rechts des Weges verlief eine alte Ziegelmauer hinter der sich eine alte Fabrik verbarg, diese war aber schon seit Jahren geschlossen. Als sie am offenen stehenden Tor der Fabrik vorbeikam erhaschte Blanca einen-Blick auf das Fabrikgelände. Nach einem Hof mit kleineren Gebäuden kam ein großes Ziegelgebäude mit mehreren hohen Schornsteinen. Blanca sah einen Lichtschein auf dem Hof. Ein Feuer. Mehrere Gestalten hatten sich um die Gestalten versammelt. Zwei Gestalten lösten sich gerade von der Gruppe und kam schwankend in ihre Richtung. Blanca hastete weiter und hatte wieder die Mauer zwischen sich und der Fabrik. Als sie einige Minuten ging, glaubte sie ein Geräusch hinter sich zu hören. Schritte? Im Gehen blickte sie über ihre Schulter zurück. Aber da war niemand. Nur ein leerer Gehweg.
Blanca ging weiter. Nach einer Weile endete die Mauer und das Fabrikgelände und es schlossen sich einige verlassene, abbruchreife Häuser an. Die Fensterscheiben der Häuser waren eingeschlagen oder mit Brettern vernagelt. Wie die Facetten-Augen eines riesigen Insekts starrten Hunderte dunkler Öffnungen auf sie herab. Hinter einer dieser Scheiben bewegte sich etwas. Ein bleiches Gesicht drückte sich gegen einer der noch intakten Scheiben und blickte von oben, vom zweiten Stock, auf sie herab. Doch das sah Blanca nicht, denn ihr Blick war starr geradeaus und leicht nach unten auf den Gehweg vor sich gerichtet. Sie ging eine Minuten. Ein seltsames Gefühl beschlich sie. Das Gefühl, beobachtet zu werden. Ab und zu wandte sie ihren Blick über die Schulter. Aber alles war sie sah, war der einsame Gehweg im Licht der gelben Lampen.
Nach einer gute Weile erreichte sie den Stadtpark. Das Tor war offen, wie immer, gleich ob Tag oder Nacht. Sie folgte den gewundenen Weg aus feinen grauen Steinchen, der alle zehn Meter von einer Laterne ausgeleuchtet wurde. Links und rechts des Wegs befanden sich große Bäume und wohl auch ziemlich alte Bäume, die schon ein paar Hundert Jahre alt waren und dichtes Buschwerk. Blanca ging eine ganze Weile, als sie plötzlich hinter sich ein Geräusch hörte. Im Busch hinter Blanca raschelte es. Sie blickte über ihre Schulter. Die dunkelgrünen Blätter wackelten. Ein leises Trappeln. Im Licht einer Laterne sah sie eine kleine gedrungene Gestalt auf vier Beinen. Das Fell leuchtete rötlich. Ein langer buschiger Schwanz wippte beim Gehen. Ein Fuchs. Blanca lächelte. Dann blieb sie steif wie eine Statue stehen. Der Fuchs reckte die Schnauze in die Luft, als schnuppere er. Dann wandte er ihr den Kopf zu. „Na du“, flüsterte Blanka, „bist du aber ein Schöner. Oder eine Schöne? Nun ja, du weißt schon, was ich meine.“ Blancas Blick und der des Tieres begegneten sich. Bernsteinfarbene Augen blickten sie forschend an. Der Fuchs hielt den Blick noch einen Augenblick, dann wandte er abrupt den Kopf ab, trippelte leise über den Weg und verschwand in den Büschen. Die Blätter raschelten kurz, dann war es wieder still.
Blanca lief noch eine gute Weile, bis sie schließlich zum Tor des Parks gelangte. Sie schritt durch die geöffneten Flügel. Ab hier begannen Wohnhäuser. Reihe an Reihe folgten gleichförmige Häuser aus dunkelroten Ziegeln. Auch der Gehweg wurde besser, es gab keine Löcher mehr. In regelmäßigen Abständen waren neben dem Gehweg Bäume gepflanzt. Die dunkle Rinde schälte sich von den Stämmen und enthüllte darunter eine ockerfarbene Schicht. Platanen. Plötzlich lag etwas vor ihr, mitten auf dem Gehweg. Ein umgestürztes Fahrrad. Sie konnte nicht vorbeigehen, also stieg sie hinüber. Einige Meter lag lag erneut etwas vor ihren Füßen. Ein Elektroroller. Und schon wenige Meter lag weiter ein weiter Roller auf der Seite. Kurz drauf folgte noch ein Fahrrad. Sie hörte Stimmen. Sie kamen von vorne. Es klang wie ein Brüllen. In etwa zwanzig Meter Entfernung sah sie drei hochgewachsene Gestalten auf dem Gehweg. Sie bewegten sich langsam, denn Blanca holte Minute für Minute auf.
Vor sich sah sie drei junge Männer, vielleicht ein bis zwei Jahre älter als sie selbst, wie sie an ihren Stimmen und ihrer Körpergröße zu erkennen glaubte. Und natürlich waren sie größer als Blanca, etwas anderthalb Köpfe. Die beiden liefen breitbeinig. Ab und zu schwankten sie. Der eine sprang in die Luft. Ein lautes schepperndes Geräusch drang zu ihr, als würde Metall zu Boden fallen. Ein lautes Lachen ertönte. Dann war sie nur noch fünf Meter entfernt. Sie stieg über ein weiteres Fahrrad drüber. Die drei schwankten und hielten Flaschen in den Händen. Einer nahm einen kräftigen Schluck und ließ die Falschen dann mit einem lauten Knall am nächsten Baum zerschellen. Splitter und Flüssigkeit rieselten auf das Pflaster. Blanca beschloss einen Bogen um die drei zu machen. Auf der anderen Straßenseite gab es keinen Gehweg. Sie stieg vom Bordstein auf die Straße, die um diese Uhrzeit völlig leer war. Sie lief Richtung Mittelstreifen. Dann – als sie auf gleicher Höhe mit dem beiden Jugendlichen war – beschleunigte sie ihre Schritte. Als sie ein paar Schritt an ihnen vor bei war, hörte sie.
„Hey, hey, schau mal da.“
„Was?“
„Ein Mädchen.“
„Tatsächlich.“
„Hey! Hey, Kleine… wohin denn so eilig?“
Blanca drehte sich nicht um. Sie beschleunigte ihren Schritt.
„Hey du... ich rede mit dir!“, lallte die Stimme.
Blanca lief weiter, blickte geradeaus.
„Die Kleine, ist sich wohl zu fein...“, sagte eine andere Stimme.
Blanca lief nochmal schneller.
„Für dich bestimmt, haha, aber… nicht für mich.“
„Von wegen. Hey, du… bleib stehen… bleib doch mal stehen!“
Blanca ging schneller und leicht schräg. Sie näherte sich von der Straßenmitte wieder dem Bordstein. Nach kurzer Zeit erreichte sie Bordsteinkante und stieg wieder auf dem Gehweg. Die beiden Typen riefen noch eine Weile hinter ihr her, hatten aber, wie sie mit einem Blick über ihre Schulter feststellen konnte, keinerlei Anstalten gemacht aufzuholen und ihr direkt zu folgen. Blanca atmete auf und verlangsamte ihren Schritt.
Vor ihr mündete der Gehweg in eine Fußgängerzone. Sie war in der Altstadt angekommen. Alles wirkte wie ausgestorben. Kein Mensch zu sehen, dort wo sich am helllichten Tage Massen durch die Straßen schoben, zum Einkaufen und zum flanieren. Der gelbe Schein der altertümlichen Straßenlaternen beleuchtete das Kopfsteinpflaster und die alten Häuser, die links und rechts davon standen. In den Schaufenstern mancher Geschäfte brannte gedimmtes Licht. Bei anderen waren die Stahlrollos runter gezogen. Hin und wieder zweigten kleine Gassen von der Fußgängerzone ab. Nach dem Blanca einige Zeit gegangen war, bog sie ins dieser Gässchen ab. Die ganze war schmal und sicherlich uralt. Es konnten gerade mal drei Leute nebeneinander gehen. Die Beleuchtung war hier wesentlich schlechter, die Abstände der Laternen wesentlich größer als in der Fußgängerzone.
Ein paar Meter vor sich sah Blanca eine dunkeln Schatten. Eine Gestalt saß auf einem Treppenabsatz. Kopf und Rücken waren gegen die Wand gelehnt. Blanca schritt näher. Ihre Schritte hallten laut vom Kopfsteinpflaster an die Wänden der Gasse. Die Gestalt saß stumm und steif da. Eine dunkle Kapuze bedeckte den Kopf und große Teile des Gesichts. Als Blanca bis auf ein paar Schritte an die Gestalt herangekommen war, regte sie sich plötzlich. Unverständliche Geräusche kam aus ihrem Mund, eine Mischung aus Gurgeln und Brummen. Dann wandte sich der Kopf Blanca zu. Eine bandagierte Hand schob die Kapuze etwas nach hinten. Blanca blickte in das Gesicht und schlug sich die Hand vor den Mund um nicht vor Entsetzen laut aufzuschreien.