Das Gesicht, das zu Blanca aufblickte, war schrecklich missgestaltet. Ein einzelnes dunkelbraunes Auge starrte sie an, während dort, wo das andere sein sollte, nur eine leere schwarze Augenhöhle war. Die Nase war ein Haken, die Wangen von Narben entstellt. Schwarzes verfilztes Haar umrahmte den Kopf. Die trockenen purpurfarbenen Lippen, von den sich die Haut schälte, zogen sich nach oben und entblößten vereinzelte gelbliche Zähne in einer ansonsten schwarzen Mundhöhle.
„Na, mein Kind…?“,
sagte eine brüchige Stimme, die einer alten Frau zu gehören schien,
„So spät noch unterwegs? Solltest du nicht sein… solltest du wirklich nicht sein.“
Sie hob mahnend eine schmutzige Hand.
„Ich… Ja, sie haben… sie haben Recht.“
„Hast du vielleicht ein wenig Kleingeld für mich, mein Kind?“
„Ich… ich schaue mal nach.“
Blanca kramte in ihrer Tasche, zog schließlich ihr Portemonnaie hervor und schaute hinein. Nur noch ein paar Cent-Münzen. Das nichts. Das würde sie sicherlich beleidigen.
„Ich… tut mir leid. Ich hab leider kein Kleingeld mehr.“
Enttäuscht ließ die alte Frau die schmutzige Hand sinken.
„Du!“, schrie sie und ihre Züge verzerrten sich, was äußerst furchtbar anzuschauen war,
„Du… undankbare Göre… du…“
Plötzlich gefror ihr Gesichtsausdruck.
„Verflucht… verflucht…“, schrie sie, dass es nur noch von den Wänden echote,
„Fort mit dir! Hinfort!“
„Ich... es tut mir leid!“, stammelte Blanca.
„Fort“, schrie sie immer laute, „Fort mit dir!“
Hektisch steckte Blanca ihr Portemonnaie wieder in ihre Tasche.
Plötzlich begann die Alte zu singen. Blanca verstand die Worte nicht. Wenn sie tatsächlich zu einer Sprache gehörten, war es keine, die Blanca beherrschte. Die Stimme der alten Frau schwellte auf und ab. Plötzlich wurde das einzelne Auge der Alten weiß. Die Pupille war zurück in die Augenhöhle gewandert. Dann begannen die Glieder der Alten wild und unkontrolliert zu zucken. Blanca wollte gehen, war aber wie erstarrt. Plötzlich ging ein Ruck durch die gebeugte Gestalt der Frau und sie saß kerzengerade. Ihr Singen wurde immer lauter. Plötzlich erhob sie sich, ruckartig und kraftvoll, gleich einer Marionette, an dessen Fäden der Puppenspieler plötzlich und unvermittelt zog. Schmutzige Hände mit langen gelben Fingernägeln griffen suchend nach Blanca, während das leere weiße Auge in der Augenhöhle rotierte. Entsetzt wich Blanca einige Schritte zurück. Dann rannte sie los. Während ihre Schritte laut in der Gasse halten. schrie die Alte ihr wie von Sinnen hinter her.
Fünf Häuser weiter wagte es Blanca stehen zu bleiben. Sie lehnte sich gegen eine Mauerwand. Dann warf sie einen Blick zurück. Die Gasse war leer. Die Alte war ihr nicht gefolgt. Puh, was für ein Schreck! Das war ja mehr als creepy gewesen. Blanka schüttelte den Kopf. Dann ging sie weiter und gelangte an das Ende der Gasse. Als sie nach links abbog, befanden sie sich in der Bahnhofsstraße, die parallel zu Gleisen verlief und auch tatsächlich zum Bahnhof führte. Auf der linken Seite der Straße waren Wohnhäuser und auf der rechen eine Betonmauer, auf der sich unzählige Graffiti befanden. Zuerst nur einzelne Tags – Namenszüge von Sprayern – dann später aber auch beeindruckende Graffiti. Sie kannte die meisten. Es gab aber immer wieder mal neue Bilder, die andere ersetzten. Sie ging ein Stückchen an einigen ihr schon bekannten Graffiti vorbei, als sie plötzlich auf ein neues, sehr beeindruckendes Motiv stieß. Blanca trat zurück, stieg vom Gehweg auf die Straße, um es besser in Augenschein nehmen zu können.
Blanca sah eine kniende Gestalt, der Flügel aus dem Rücken wuchsen. Ein Engel. Er leuchtete hell vor einem dunklen Hintergrund. Der Engel schien geschwächt, schien zu schwanken. Ein Mann in einer silbernen Rüstung stand aufrecht vor ihm, in der einen Hand ein leuchtendes Schwert, in der anderen ein Schild. Er kämpfe mit einer dunklen Gestalt, die die Arme weit ausgebreitet hatte. Die Hände waren mit langen Krallen bewehrt. Die Augen waren rot wie glühende Kohlen. Lange weiße Zähne ragten unter der Oberlippe hervor. Der Sprayer hatte wirklich Talent. Sie betrachte das Grafitto eingehend. Dann stutze sie. Der Engel – er kam ihr bekannt vor. Nein, nicht nur bekannt, sondern vertraut. Er hatte lang blonde Haare und blaue Augen. Soweit nicht ungewöhnlich. So wurden viele Engel dargestellt. Aber die Gesichtszüge. Wenn sie es nicht besser wüsste, hätte sie gesagt, es wäre ihr Gesicht. Aber das konnte nicht sein. Wieso sollten ihre Gesichtszüge eine Bahnhofsmauer zieren? Blanca schüttelte den Kopf. Ihre Sinne spielten ihr wohl einen Streich. Kein Wunder, sie war müde, verdammt müde. Sie trat wieder zurück auf den Gehweg und setzte ihren Weg fort.
Als Blanca am Ende der Straße angelangt, bog sie rechts ab. Vor ihr lag die Unterführung. Ein langer dunkler und rechteckiger Tunnel. Langsam stieg Blanca den langsam abfallenden Weg hinunter der in die Unterführung mündete. Ihre Schritte hallten laut von den beiden Wänden der höher werdenden Mauern wieder, die in die Unterführung mündeten. Vor ihr lag der Eingang, wie ein dunkles Loch. Blanca trat hinein. Eine Handvoll gelblich scheinender Lampen erhellten die Unterführung. Sie hatten Wackelkontakt und warfen den Tunnel für kurze Augenblicke komplett in Finsternis, bevor er wieder ein schummriges gelb annahm. Die gekachelten Wände waren mit Graffiti übersäht. Blanca lief über alte Zeitungen, an Kartons und an Unrat vorbei. Es roch nach Urin. Ihre Schritte echoten laut von den Wänden nieder. Wenige Meter bevor sie den Ausgang erreichte, schob sich Plötzlich eine Gestalt vor die Öffnung. Sie war groß und äußerst dürr. Die langen Arme hingen zu beiden Seiten herunter und zitterten. Seltsam schwankend kam sie näher. Plötzlich hörte sie hinter sich, von der anderen Seite der Unterführung, ein Geräusch. Schleppende Schritte. Blanca schaute über ihre Schulter. In der hinteren Öffnung sah sie eine Gestalt von mittlerer Größe. Von ihrem runden Schädel standen lange spitze Ohren ab.
„Das ist meine!“,
rief die Gestalt mit tiefer, brüchiger Stimme.
„Nein, nein, nein",
schrie die Gestalt vor ihr, seltsam schrill und abgehackt:
"Das… das… das ist meine!“