Ewan blickte auf die Frau hinab, die in dem übergroßen Möbelstück beinahe vollständig versank. Sie war von zierlicher Statur. Ihr wunderschönes Gesicht mit den hohen Wangenknochen wurde von langem, blondem Haar umflossen. Die Lippen waren voll und rot, die Wangen rosig, was möglicherweise aber auch der Wärme im Zimmer zugeschrieben werden konnte. Welche Farbe ihre Augen wohl haben mochten?
Er war eigentlich mit der Absicht herübergekommen, sie zu wecken. Doch als sein Blick auf die schlafende Gestalt gefallen war, beschloss er, nichts dergleichen zu tun und sie genau dort zu lassen, wo sie sich gerade befand.
Leise, um sie nicht aus dem Schlaf zu reißen, schlich er zum Wandschrank hinüber. Diesem entnahm er eine Wolldecke, die er vorsichtig auseinanderfaltete und über ihr ausbreitete.
Ihr Unterbewusstsein schien das irgendwie zu registrieren, denn sie erfasste - noch immer schlafend - einen Zipfel und zog die Decke bis an das Kinn hoch. Mit einem wohligen Seufzer drehte sie sich auf die Seite, dabei kuschelte sich tiefer in den Sessel hinein.
‚Ihr wird morgen mit Sicherheit alles wehtun‘, resümierte Ewan. In einer derartigen Haltung zu nächtigen, war alles andere als bequem. Das wusste er aus Erfahrung.
Vielleicht sollte er sie in eines der Gästezimmer bringen.
Noch während er über diese Möglichkeit nachdachte, näherten sich ihm zwei Männer. Als die zu sprechen anhoben, legte Ewan den Zeigefinger auf den Mund, schüttelte den Kopf und wies mit der rechten Hand auf die Tür zum Esszimmer.
Allan und Robert Cameron, denn um niemand anderen handelte es sich bei den Neuankömmlingen, verstanden sofort, was von ihnen verlangt wurde, weshalb sie sich umgehend in Bewegung setzten – dicht gefolgt von Ewan.
Nachdem der die Tür hinter sich geschlossen hatte, wurde er augenblicklich mit Fragen bombardiert.
„Wen hast du uns denn da ins Haus geholt?“
Robert Cameron sah seinen älteren Bruder zugleich erstaunt wie fragend an.
„Haben Ally und Jonathan nichts erzählt?“
„Wir sind direkt von oben gekommen und daher über die derzeitigen Geschehnisse absolut nicht im Bilde.“
„Sie ist unser Gast. Ihr Name ist Liana Maxwell. Sie ist Kanadierin und wird für einige Zeit im Cottage wohnen. Mehr kann ich euch momentan auch nicht sagen. Ich wusste bis vor einer Viertelstunde selbst nicht, dass wir in den nächsten Wochen Gesellschaft haben werden. Meine Überraschung war ebenso groß wie die eure.“
„Warum befindet sie sich schlafend im Zimmer nebenan?“, hakte der andere Mann namens Allan nach.
„Ally hatte sie vorübergehend dort einquartiert. Als sie irgendwann nach ihr sah, fand sie das Mädchen in tiefem Schlaf vor. Kurz bevor ihr auf der Bildfläche erschienen seid, stellte ich gerade Überlegungen darüber an, ob es nicht ratsamer wäre, sie für die kommende Nacht in einem der Gästezimmer unterzubringen. Sofern sie ihre augenblickliche Position beibehält, dürfte sie morgen mit einem ordentlichen Muskelkater aufwachen.“
„Das ist nicht zu leugnen. Was gedenkst du zu tun?“ Fragend hob sich eine von Robert Camerons Augenbrauen.
„Ich werde mein Vorhaben in die Tat umsetzen. Ihr könnt unterdessen unseren beiden Hausperlen Gesellschaft leisten. Ich schließe mich später an.“
Mit diesen Worten kehrte Ewan Bruder und Cousin den Rücken zu, um ins Kaminzimmer hinüberzugehen.
Dort angekommen, hob er Liana, die selbst während dieser Aktion nicht erwachte, vorsichtig aus dem Sessel heraus.
‚Sie muss tatsächlich restlos erschöpft sein, wenn sie nicht einmal jetzt aufwacht. Jetlag wahrscheinlich‘, schoss es durch seinen Kopf.
Langsam schritt er die Treppe, die in die erste Etage führte, hinauf. Dort steuerte er zielgerichtet den Green Room an, bei dem es sich um einen als Gästezimmer hergerichteten Raum handelte. Ally vertrat die Auffassung, dass man auf alle Eventualitäten vorbereitet sein sollte. Wie unschwer zu erkennen, hatte sie damit Recht behalten.
Ewan legte Liana, deren Gewicht auf dem Weg herauf kaum zu spüren gewesen war, auf eines der beiden Einzelbetten, die im Zimmer standen. Anschließend streifte er ihr behutsam die Schuhe von den Füßen. Zu guter Letzt ergriff er die Wolldecke des anderen Bettes, um damit ihre grazile Gestalt zu bedecken.
Was hatten sich Jonathan und Ally nur dabei gedacht, das Cottage ohne seine Einwilligung zu vermieten? Sie konnten hier keine Fremden, selbst wenn sie noch so hübsch anzusehen waren, wie die Frau, die vor seinen Augen in tiefem Schlaf lag, gebrauchen. Er hoffte wirklich, dass ihre Anwesenheit keine Probleme mit sich brachte, denn davon hatten sie auf Elmore Castle wahrlich genug…
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