Das Pferd wartete offenbar auf sie. Eine andere Erklärung gab es nicht. Seine Gestalt schimmerte im Licht der letzten Sonnenstrahlen, die sich ihren Weg durch die Kronen der Bäume bahnten.
Nachdem Liana einige Minuten dem geschlängelten Weg gefolgt war, gelangte sie an eine Weggabelung. Dort wäre sie beinahe mit dem Wesen, das keine Anstalten machte, vor ihr Reißaus zu nehmen, kollidiert.
Ehrfürchtig betrachtete sie den Hengst, darum bemüht, ihn nicht durch ruckartige Bewegungen zu erschrecken.
Mit einem leisen Schnauben beäugte er sie.
Das weiße Fell spannte sich über sein Rückgrat und die Flanken. Mit den Hufen trat er auf dem Boden auf, schien jederzeit bereit zum Sprung.
„Kannst du mich verstehen?“
Majestätisch bewegte er den Kopf.
Ja. Sie verstanden einander. - Und das ohne Worte.
Da gab es ein Gefühl von Vertrautheit zwischen ihnen.
Liana streckte die Hand aus, streichelte über das sanft schimmernde Fell, das genauso weich war, wie sie vermutet hatte.
Unvermittelt machte der Hengst einen Satz und eilte davon.
Liana starrte ihm wie gebannt nach, von seiner Kraft und Stärke gleichermaßen gefesselt wie von der Anmut seiner Bewegungen.
Ein Stück entfernt blieb er stehen und wartete auf sie. Das ganze Szenario wiederholte sich mehrere Male.
Irgendwann war kein Pfad mehr zu erkennen.
Undurchdringliches Dickicht umhüllte sie. In der Nähe hörte sie das Plätschern von Wasser. Also musste es irgendwo wohl einen Bach geben.
In einer Senke blieb Liana stehen, um die Umgebung genauer betrachten und sich orientieren zu können.
Eichenbäume versperrten ihr die Sicht. Das Pferd war verschwunden. Wenn sie seine Spur nicht wiederfand, konnte sie immer noch dem Flusslauf folgen, bis sie wieder Terrain betrat, das sie kannte. Von dort aus konnte sie dann nach Elmore Castle weiterlaufen. Das wäre zwar ein längerer Fußmarsch, aber es gab keinen Grund zur Sorge. Sie befand sich nicht in Gefahr, ziellos im Wald umherirren zu müssen.
Ein lautes Geräusch ließ sie herumfahren. Auf Anhieb machte sie aus, worum es sich dabei handelte. Drüben im Unterholz stand ein Wildschwein. Das übelriechende Tier, dem der Sabber aus dem Maul lief, kam langsam auf sie zu. Seine wulstige Schnauze entblößte bedrohliche Zähne.
„Wirst du wohl verschwinden!“, sagte sie zu dem Vieh, das darauf jedoch keinerlei Reaktion zeigte.
Als der Keiler den Kopf senkte und Anlauf nahm, schossen Liana mehrere Gedanken durch den Kopf. Die meisten davon drehten sich um Reue und Bedauern. Es konnte doch nicht sein, dass ihr Leben auf diese Weise endete.
Und obgleich sie wusste, dass sie niemanden sonst für ihre missliche Lage verantwortlich machen konnte als sich selbst, verspürte sie unsinnigerweise Unmut auf Ewan. Doch so schnell wie ihre Wut gekommen war, verrauchte sie. Sie würde in keinem Fall klein beigeben und sich diesem vermaledeiten Tier beugen.
Liana ergriff einen abgebrochenen Ast. Sie stellte sich aufrecht hin, holte aus und machte sich bereit für den Schlag, von dem ihr Leben abhing. Sie würde nur diese eine Chance haben – nur diesen einen Schlag.
Der Wind blies ihr die Haare, die sich inzwischen gelöst hatten, aus dem Gesicht. Ihr Blick richtete sich fest auf den Schädel des Wildschweines.
‚Jetzt…‘
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