Das Kästchen beinhaltete ein vergilbtes Stück Papier. Liana entfaltete dieses und las laut vor:
Vier Camerons dereinst mit einem Fluch beladen werden sein.
Doch ist nur einer von ihnen ganz allein.
In einer dunklen Zeit geboren,
wird sein Leben am Tag der Wintersonnenwende ein Ende finden,
und er wird dazu verdammt sein,
viele Jahrhunderte lang sein Dasein als Geist zuzubringen.
In einer fernen Zukunft soll dem Mann Erlösung zuteilwerden,
aber nur, wenn es ihm gelingen sollte,
das Herz des Feindes für sich zu erwärmen.
An der Stätte seines Todes wird sich sein Schicksal erfüllen.
Hier wird ihn eine höhere Macht ins Leben zurückbringen.
Auch die drei anderen Männer geboren in späterer Zeit,
ein ähnliches Schicksal, wie das ihres Ahnen ereilt.
Verdammt sind auch sie zu ewigem Leben,
nur tiefe Liebe kann ihnen den Weg zurück ins Leben ebnen.
„Mit den letzten Sätzen seid offensichtlich ihr drei gemeint. Und es hat den Anschein, als könne nur die wahre Liebe euch eure menschliche Gestalt zurückgeben. Nicht anders lassen sich diese Worte interpretieren. Dessen ungeachtet erschließt sich mir nicht, was es mit dem ersten Teil des Rätsels auf sich haben könnte. Habt ihr irgendwo noch Verwandtschaft?“
„Nicht, dass ich wüsste“, beantwortete Ewan ihre Frage.
„Ihr drei müsst euch also verlieben. Mehr noch, ihr müsst eurer wahren Liebe begegnen. Das dürfte sich schwierig gestalten, zumal ihr nur in der Dunkelheit eure menschliche Gestalt innehabt.“
„Es ist ein Ding der Unmöglichkeit. Ich habe in den vergangenen 560 Jahren wirklich alles Mögliche versucht, um des Rätsels Lösung zu finden. Zweifelsohne gab es in meinem Leben Frauen. Nicht so viele wie du vielleicht glauben magst… und nicht eine, die meine wahre Liebe hätte werden können.“
„Warum nicht?“
‚Weil sie nicht wie du waren‘, wollte er sagen. Schob diesen Gedanken jedoch sogleich zur Seite.
„Sie waren lediglich Mädchen, die einem Mann das Bett in einer kalten Nacht zu wärmen wussten – nicht mehr. Nun, da du unser Geheimnis kennst… Was gedenkst du zu tun?“
„Ehrlich gesagt, weiß ich das nicht genau. Du gehörst also zu den Verfluchten. Und du kannst nicht sterben.“
„Nein. Ich denke nicht. Sonst wäre ich in den vergangenen sechs Jahrhunderten gealtert, aber das ist nicht der Fall.“
„Unsterblichkeit ist mit Sicherheit kein Segen, oder?“
Sie blickte zu ihm auf.
„Nein. Unter den gegebenen Umständen noch weniger. Was glaubst du, wie es ist, ein Leben ohne jegliche Emotionen zu führen? Jeden Tag aufzuwachen und zu wissen, dass auch dieser Tag grau, kalt und ohne Farbe sein wird. Kenntnis davon zu haben, dass du keine Freude, kein Leid empfinden kannst, selbst wenn du zusehen musst, wie deine Familie, deine Freunde sterben, du an ihren Gräbern stehst und dabei weder Trauer noch Schmerz empfindest - keine einzige Träne aus deinen Augen rinnt. Hinzu kommt die Tatsache, dass wir drei irgendwann gezwungen waren, uns vor der Welt abzuschirmen, da sich unser Aussehen niemals veränderte, weil wir nicht alterten.“
Sein Blick war traurig, als er die Arme sinken ließ.
„Ich glaube, wir sollten uns setzen. Dann kannst du mir mehr erzählen.“
Es war unschwer zu erkennen, wie schwer sich Ewan damit tat, weiter zu sprechen, so dass sich die Qual, die jedem seiner Worte entströmte, auf Liana übertrug.
„Stell dir den schönsten Sonnenaufgang vor, seine schillernden Farben und das Glühen, das er auf der Haut hinterlässt; dieses Gefühl von Glück und Zufriedenheit. So war auch mein Leben. Doch das ist lange her. Seit der Fluch ausgesprochen wurde, ist alles trist. Ich nehme zwar alles um mich herum wahr, aber ich fühle absolut nichts dabei.“
„Du behauptest, du würdest nichts fühlen. Das nehme ich dir nicht ab. Ich sehe doch, dass du gerade in diesem Augenblick mit Gefühlsregungen zu kämpfen hast. Du bist erleichtert darüber, dich jemandem anvertraut zu haben. Auch das sind Gefühle.“
Ewan ergriff Lianas Hände. „Genau das ist der Punkt. Deine Anwesenheit hat etwas verändert. Du hast mein komplettes Leben auf den Kopf gestellt, denn seit ich dir begegnet bin, fühle ich wieder.“
„Warum ich?“
„Ich weiß es nicht.“
„Jedenfalls spüre ich eine unerklärbare Regung in mir aufsteigen, wenn du in der Nähe bist. Das ist auch der Grund, warum ich es zu vermeiden versuche, dich in irgendeiner Form zu berühren. Ich bin dann einfach nicht mehr ich selbst. Das erschreckt mich. Ich würde dir gern noch vieles sagen, aber es geht nicht.“
„Du musst dich nicht entschuldigen, Ewan. Ich weiß, was du fühlst. Mir geht es ähnlich. Zwischen uns beiden existiert offenbar eine besondere Verbindung. Wir werden wohl beide erst lernen müssen, damit umzugehen.“
Sie lächelte ihn zaghaft an. Er erwiderte dieses Lächeln.
„Da hast du wohl recht. Allerdings habe ich niemals zuvor auf diese Weise empfunden – und das macht mir Angst.“
Während er die Worte von sich gab, wurde Lianas gesamter Körper von einer Gänsehaut überzogen. Sein warmer Atem strich über ihren Hals, sanft zeichneten die Finger seiner rechten Hand die Linien von ihrem Ohr bis hin zum Kinn nach.
Gott im Himmel! Dieses Lächeln. Lianas Herz raste.
Vermutlich hätten ihre Knie nachgegeben, wenn sie nicht bereits gesessen hätte. Als er dann noch mit seinen Fingern über ihre Lippen fuhr, verharrte sie wie gebannt. Wenn er sie jetzt küssen würde, wäre es mit ihrer Selbstbeherrschung vorbei. Und genau das tat er.
Sein Mund senkte sich auf ihren – hart und schnell. Als sie die Lippen öffnete, drang er mit seiner Zunge ein. Er küsste sie hungrig und ohne jegliche Zurückhaltung, so als hätte er seit Jahren keine Frau mehr geküsst - was ja auch den Tatsachen entsprach. Rohes, unverhohlenes Verlangen ließ ihn erbeben, indes er all das von ihr nahm, was er bekommen konnte.
Liana sehnte sich danach, ihm mehr zu geben, fuhr ihm mit den Händen durch das Haar, streifte seine Zunge mit ihrer. Ihr Körper bog sich ihm entgegen.
Ewan stöhnte auf, derweil sich der Kuss vertiefte. Genau das war es, was sie wollte. Sein Geschmack, seine Wärme, seine Stärke umgaben sie.
„Liana“, murmelte er an ihren Lippen, küsste ihr Kinn, ihren Hals, darüber hinaus die Stelle, an der ihr Puls schlug.
„Ewan“, erwiderte sie mit belegter Stimme.
Seine Hand glitt tiefer. Er umfasste ihre Brust, während er zart an ihrem Ohrläppchen knabberte.
Eine Welle der Lust durchfuhr sie. Ihre Fingernägel gruben sich in die Haut in seinem Nacken.
Das war der Augenblick, in dem Ewan bewusstwurde, was er im Begriff war zu tun.
„Wir müssen aufhören.“
Er erstarrte, blinzelte verwundert und lockerte den Griff seiner Hand, die noch immer auf ihrem Busen ruhte. Anschließend ließ er sie los.
„Es ist weder die richtige Zeit noch bin ich der geeignete Mann dafür. Du hast etwas Besseres verdient. Glaube mir.“
Mit diesen Worten verließ er den Raum. Zurück blieb eine völlig aufgelöste Liana…
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