Keine dreißig Minuten später schritt Liana gut gelaunt im Haus ein.
Was für ein schöner Nachmittag es doch gewesen war. Sie sollte wirklich öfters den Stift in die Hand nehmen. Schottland förderte augenscheinlich ihre kreative Seite zu Tage. Unglaublich! Seit beinahe zwei Jahren hatte sie kein einziges Bild mehr gezeichnet, und heute waren gleich zwei zustande gekommen. Sie würde während ihres Aufenthaltes sicher weitere Motive ausfindig machen und zu Papier bringen. Davon war sie felsenfest überzeugt.
In Gedanken noch immer bei den wundervollen Stunden, die sie verlebt hatte, bemerkte sie den Mann nicht, der in diesem Moment den Eingangsbereich durchquerte und stieß prompt mit ihm zusammen.
„Hoppla!“, meinte der und hielt sie fest, damit sie nicht zu Boden stürzte. „Du solltest aufpassen, wohin du läufst, Mädchen.“
„Entschuldigen Sie bitte. Ich war mit meinen Gedanken woanders.“
„Es ist ja nichts passiert. Weder Sie noch ich haben bei dieser kleinen Kollision Schaden genommen. Sie sind sicher Miss Maxwell“, merkte er an und ließ sie so plötzlich los, als habe er sich verbrannt.
Liana - mit ihren 1,78 Meter für eine Frau relativ groß - musterte ihn, der sie dennoch um beinahe einen Kopf überragte. Dabei trafen ihre Blicke aufeinander.
Blaugraue Augen blickten in silbergraue - hielten einander gefangen. Die Zeit schien still zu stehen. Doch ebenso schnell wie dieser Augenblick gekommen war, ging er vorüber, so dass Liana schon glaubte, sich alles nur eingebildet zu haben.
„Sind Sie Mr. Cameron?“
„Aye. (1) Der bin ich. Mein Name ist Ewan Cameron. Ich bin der Eigentümer des Anwesens.“
„Liana Maxwell“, erwiderte sie und reichte ihm die Hand, die er zwar kurz festhielt, dann jedoch unmittelbar wieder losließ.
„Ich weiß, wer Sie sind. Ally, unsere Haushälterin, hat mich über Ihre Anwesenheit in Kenntnis gesetzt. Es tut mir leid, dass ich bei Ihrer Ankunft nicht vor Ort war. Ich bin ein vielbeschäftigter Mann, der tagsüber nur selten anzutreffen ist.“
„Kein Problem, Mr. Cameron.“
„Nennen Sie mich bitte Ewan.“
„Gerne. Allerdings nur, wenn Sie mich gleichfalls mit dem Vornamen anreden.“
„Abgemacht, Liana. Dann aber gleich Du und nicht Sie.“
Wie aus heiterem Himmel gab es da mit einem Mal wenige Sekunden, in denen die Welt zum Stillstand kam, ein Gefühl, welches Liana nicht einzuordnen wusste, alles andere überdeckte. Seltsam. Niemals zuvor hatte sie auf einen Mann in einer derartigen Weise reagiert. Und wenn sie sich nicht täuschte, schien es Ewan Cameron ähnlich zu ergehen. Warum sonst, versuchte er eine Berührung zwischen ihnen zu vermeiden? Ehe sie sich jedoch weiterführende Gedanken über dieses Zwischenspiel machen konnte, kamen zwei Männer die Treppe herunter, die ihr Ewan als Bruder und Cousin vorstellte.
„Erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen“, entgegneten beide nacheinander, wobei sie Liana kräftig die Hand schüttelten.
„Mich freut es gleichermaßen. Da ich bereits mit Ewan zum Du übergangen bin, wäre es wohl passender, wenn ich das auch bei euch tue. Oder gibt es dagegen irgendwelche Einwände?“
„Nein. Überhaupt nicht. Das macht vieles unkomplizierter. Es ist schon eine Weile her, dass wir solch netten und vor allem hübschen Besuch auf Elmore Castle hatten.“
„Wenn du endlich mit dem Gesülze fertig bist, Robert, könnten wir uns auf den Weg ins Esszimmer machen. Du weißt, dass Ally es nicht mag, wenn sie die Speisen zu lange warmhalten muss“, fiel Ewan seinem jüngeren Bruder ins Wort.
„In Ordnung. In Ordnung. Gehen wir. Mit unserer Küchenperle werde ich es mir gewiss nicht verscherzen. Darf ich Ihnen meinen Arm anbieten, Lady, und sie zu Tisch geleiten? Nicht, dass Ihnen auf dem Weg dorthin etwas zustößt.“
Während Liana über Roberts Gehabe mehr als amüsiert war, verdrehte Ewan die Augen. Er wandte sich mit mürrischem Gesichtsausdruck ab.
Nachdem Robert ihr den Stuhl zurechtgerückt hatte, nahm er zu Lianas Rechten Platz. Allan und Ewan saßen an der anderen Seite des Tisches.
Während des Essens entspann sich eine angeregte Konversation mit den Camerons, die sich allerdings beinahe ausschließlich zwischen ihr, Allan und Robert abspielte. Ewan Cameron trug wenig zur Unterhaltung bei. Er starrte die meiste Zeit mit finsterer Miene vor sich hin. Liana hatte nicht den Hauch einer Ahnung, was er mit diesem Verhalten bezweckte. An ihrer Person lag es jedenfalls nicht, sonst hätten die beiden anderen Camerons nicht immer wieder aufs Neue versucht, sie in die Gespräche einzubinden.
Ewan Camerons Art wirkte befremdlich. Ungeachtet dessen war sie sicher, dass er nicht sein wahres Gesicht zeigte. Immer, wenn ihre Blicke aufeinander trafen - was an diesem Abend wenigstens ein Dutzend Mal geschah - glaubte sie, bis in die Tiefen seiner Seele blicken zu können. Welche Geheimnisse der Mann auch hütete, sie würde diesen mit Gewissheit auf die Spur kommen. So schnell warf sie die Flinte nicht ins Korn. Ewan Cameron verbarg etwas. Und sie beabsichtigte, sein Geheimnis ebenso zu lüften wie das von Elmore Castle.
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(1) Bedeutet Ja. Das Wort wird in einigen Dialekten des britischen Englisch verwendet, so auch in Schottland.