Es gibt Zeiten, in denen nichts, andere, in denen einiges, aber keine, in denen alles gesagt werden darf.
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Währenddessen Liana in ihrem Zimmer umherlief, hatte sie Zeit zum Nachdenken. Sie wusste, dass Robert jedes Wort ernst gemeint hatte. Entgegen ihren Erwartungen war das Abendessen nicht unangenehm verlaufen. Bevor der Hausherr auf der Bildfläche erschienen war, hatte Allan ihr erzählt, dass sich das Schloss bereits seit unzähligen Generationen in Familienbesitz befand, sich aber erst unter Ewans Verwaltung von einem kärglichen Besitz zu einem ertragreichen Landbesitz gemausert hatte, der vor allem von Forstwirtschaft lebte.
Von dem Augenblick an, als Ewan eingetreten war, beherrschte er den Raum. Es war nicht das erste Mal, dass sie dieses Gefühl hatte. Seine bloße Anwesenheit wirkte auf alle. Und wiederholt stellte sie fest, dass ihre Neugierde mit jeder Minute wuchs, wenngleich seine Gegenwart nach wie vor ein wenig angsteinflößend war.
Nach ihrer Klettertour durch die Berge sowie der Arbeit an der Leinwand schmerzten ihr Arme und Beine, weswegen sie beschloss, sich für einen Moment hinzusetzen und zu entspannen. Dabei wurden ihr die Augen schwer und fielen zu.
Irgendwann klopfte es, die Tür öffnete sich.
Sie war viel zu müde, um über das Auftauchen der schattenhaften Gestalt erstaunt zu sein.
„Robert, bist du es?“
Ewan stand im Schatten des Türrahmens. Er fragte sich gerade, weshalb er zu ihrem Zimmer gegangen war. Die Antwort darauf war simpel: Er brauchte sie. Ein sonderbarer Gedanke, der jedoch absolut der Wahrheit entsprach. Sie war eine wirklich bewundernswerte Frau. Auf der einen Seite selbstbewusst, auf der anderen hilfebedürftig. Doch das war es nicht, was ihn zur ihr hinzog. Es waren ihr atemberaubendes Lächeln, der Gedanke an ihre warme, glatte Haut, das sinnliche Glitzern in ihren graublauen Augen, wie auch die Erinnerung an den Funken, der übergesprungen war, als sich nach ihrem Eintreffen auf Elmore, ihrer beider Hände berührt hatten.
Sie sprach den Namen seines Bruders aus.
„Nein.“ Er trat ein. „Ich bin es.“
„Ewan“, sagte sie etwas verlegen.
Ewan Cameron beherrschte ihre Gedanken seit Tagen, auch wenn sie das ungern zugab.
„Entschuldige bitte. Ich muss eingenickt sein. Ich hoffe, die Suche nach mir hat dich nicht von wichtigeren Dingen abgehalten.“
Als er auf sie zusteuerte, verriet nichts an ihm, dass er mit sich gerungen hatte. Er unterdrückte sein aufsteigendes Verlangen.
„Du solltest ins Bett gehen.“
Seine Stimme war ruhig. Sie gab durch nichts zu erkennen, wie aufgewühlt er innerlich war.
Sein sanfter, aber dennoch entschiedener Ton duldete keinen Widerspruch. Er kam augenblicklich vollkommen anders herüber als der verdrießliche Kerl, den er heute ein weiteres Mal herausgekehrt hatte. In diesem Moment war der Griesgram verschwunden und der liebenswerte Mann von der ersten Begegnung wieder da. Jedes Gefühl von Argwohn, das sie gehabt haben mochte, war fortgewischt.
Abermals überfiel sie die Müdigkeit. Sie vernahm Ewans beruhigende Stimme und ließ sich von dieser einlullen.
„Liana?“
Blinzelnd öffnete sie die Augen. Ewan kniete vor dem Stuhl.
Wenn er nicht dermaßen abgelenkt und mit seinen eigenen Problemen beschäftigt gewesen wäre, hätte er womöglich erkannt, was das Schicksal mit ihm vorhatte. Schlagartig ergab alles einen Sinn. Er hatte nicht die richtigen Schlüsse gezogen, weil ihr Erscheinen ihn wie der Blitz getroffen hatte.
Sie war nicht wie die anderen Frauen, denen er im Laufe seines Lebens begegnet war. Das wusste er. Doch er, der niemals die Beherrschung verlor, war wie ein Feigling davongerannt.
„Mir geht es gut“, beteuerte sie. „Ich bin lediglich erschöpft. Da zeigen wohl die ungewohnte Arbeit vor der Leinwand und meine sportlichen Aktivitäten vom Vormittag ihre Wirkung. Ich habe so etwas lange nicht mehr getan.“
„Das haben wir bald kuriert.“
Er fasste sie bei den Händen, zog sie vom Stuhl hoch und beschützend an sich. Ihre weichen Brüste berührten seinen Oberkörper, ihre Hüften schmiegten sich kurz an ihn, woraufhin er sich mit aller Macht beherrschen musste, um sein aufsteigendes Begehren zu unterdrücken.
Ewan legte einen Arm um ihre Schultern, als er sie vorsichtig aus dem Zimmer dirigierte.
„Wohin gehen wir?“, fragte sie, nachdem sie sich seiner Führung überlassen hatte.
Er lachte leise. „Nicht in mein Bett, falls du das befürchtet haben solltest.“
Sein Lachen war sanft und neckend. „Obgleich das vielleicht gar keine schlechte Idee wäre.“
Liana sah in verwirrt an.
„Immer mit der Ruhe. Wir gehen nur in ein anderes Zimmer. Du brauchst etwas Starkes und keine Nacht im Bett eines Mannes.“
Er führte sie den Gang entlang, hiernach auf der anderen Seite des Gebäudes eine kleine Treppe hinauf.
„Unsere Begegnungen fanden unter vergleichsweise unglücklichen Umständen statt. Dafür möchte ich mich entschuldigen.“
Er bot Liana einen Stuhl an, nahm eine Flasche aus dem Schrank und füllte ein Glas, welches er ihr reichte.
„Trink. Danach wirst du wunderbar schlafen.“
Sie nippte vorsichtig.
„Hmh, ausgezeichnet. Ist das… Whisky?“
Ewan nickte zustimmend.
Liana trank einen weiteren Schluck und merkte, wie eine angenehme Wärme sie zu durchströmen begann.
„Würdest du mir etwas von dir erzählen? Oder ist das zu viel verlangt?“
„Was möchtest du wissen?“
„Ich weiß, dass du etwas verheimlichst. Ebenso sicher bin ich mir, dass hier auf Elmore Castle Dinge vor sich gehen, die den rational denkenden Menschen vor Fragen stellen. Wäre es sehr vermessen, dich zu bitten, mir davon zu berichten?“
„Nein. Selbstverständlich nicht. Aber die Geschichte beginnt weit vor deiner Zeit. Und so unbegreiflich sie dir auch erscheinen mag, entspricht alles, was du zu hören bekommen wirst, der Wahrheit…
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