In dem Augenblick, als sie zuschlagen wollte, wurde Liana von einer unsichtbaren Kraft zur Seite gestoßen. Sie spürte, wie sie zunächst mühelos hochgehoben und anschließend zu Boden geworfen wurde. Ihr provisorischer Knüppel landete laut krachend an einem der Bäume. Erde klebte an ihrem Gesicht. Ihre Hände gruben sich in vermoderndes Laub und Moos.
Liana probierte aufzustehen, was ihr jedoch nicht gelang, da etwas Schweres sie festhielt.
Der Keiler konnte es nicht sein, denn sie fühlte keinerlei Fell. Außerdem roch es nicht nach ihm.
Sie versuchte zu schreien. Dieser Schrei wurde von einer großen Hand, die sich über ihren Mund schob, erstickt. Es war eindeutig die Hand eines Menschen, sowohl Finger, Daumen als auch Handfläche waren vorhanden.
„Halte still!“, befahl eine tiefe Stimme, die ihr irgendwie bekannt vorkam.
Nach wenigen Sekunden bekamen sie Besuch in Form des grunzenden Wildschweins.
Während das Tier zum zweiten Angriff ansetzte, wurde ihr Gesicht erneut gegen den Boden gedrückt. Und trotz der Wucht des Stoßes war sie sich des Umstandes bewusst, dass der Körper, der sie bedeckte, den Großteil der Attacke abfing.
Nachdem sich der Keiler zurückgezogen hatte - vermutlich um neue Kräfte zu sammeln - ließ der Mann Lianas Mund los. Er ergriff den Ast, den sie zuvor fallen gelassen hatte, rollte sich herum und war in Sekundenschnelle auf den Beinen.
Obwohl ihr Gesicht noch immer das feuchte Erdreich berührte, vernahm sie neben dem dumpfen Krachen den tierischen Laut, der ihr verriet, dass der Knüppel sein Ziel gefunden hatte.
Da sie das Gewicht des Mannes nicht mehr länger festhielt, drehte sie sich auf die Seite und stütze sich auf einem Ellbogen ab. Nur wenige Meter entfernt, kämpfte sich ihr Retter auf die Füße – bereit zum Kampf.
Wegen des dichten Geästs der Bäume konnte Liana die Gestalten des Menschen und des Tieres kaum auseinanderhalten, geschweige denn, dass sie das Gesicht des Mannes erkannte.
„Wer sind Sie?“, fragte sie, erhielt jedoch keine Antwort.
Wie sollte er auch etwas erwidern, war doch der Keiler gerade dabei, eine weitere Aktion zu starten.
‚Wir müssen erst einmal überleben‘, wies sie sich gedanklich zurecht. ‚Einander vorstellen, können wir einander immer noch.‘
Etwas schwerfällig erhob sich Liana und beobachtete das Schauspiel aus sicherer Entfernung.
Der Fremde wich nach links aus. Dabei schwang er den Ast, der das Vieh am Ohr traf. Neben den Geräuschen, die das Wildschwein von sich gab, hörte Liana das Reißen von Stoff sowie ein gedämpftes Ächzen ihres Beschützers.
Sie trat nach vorn, den Blick auf die zwischen ihnen liegende - sich windende - Bestie gerichtet.
„Haben Sie sich schlimm verletzt?“
„Bleib, wo du bist!“, rief er mit unmenschlich klingender Stimme, während der Keiler darum kämpfte, wieder auf die Beine zu kommen.
Er sprang auf ihn zu und versetzte ihm mit dem Fuß einen Tritt gegen den Kopf.
Dies nahm das Biest nicht so einfach hin. Es mobilisierte seine letzten Kraftreserven und versuchte, seine Hauer in das Bein des Mannes zu bohren. Diese verfingen sich tatsächlich in dessen Schuhwerk, woraufhin er sein Gleichgewicht verlor und zu Boden stürzte. Allerdings gelang es ihm, seine jetzige Stellung zu seinem Vorteil zu nutzen. Er stützte sich mit den Armen ab und versetzte dem Keiler harte Tritte gegen Kopf und Kiefer.
Das Tier wich daraufhin zurück. Da es sich dabei nicht befreien konnte, schleifte es den Mann hinter sich her.
Wieder und wieder trat der zu, bis das Gegrunze zunächst in ein ersticktes Keuchen überging und kurz darauf vollständig erstarb.
Es roch nach frischem Blut - vermischt mit dem Gestank des Tieres.
Liana wich zurück, weil ihr von dem Szenario übel wurde. Dabei stolperte sie über eine Baumwurzel und fiel auf den morastigen Untergrund, wo sie mit wild klopfendem Herzen liegen blieb - die Augen gen Himmel gerichtet - bis kein Laut mehr zu hören war.
„Danke“, hauchte sie.
Wenn der Unbekannte nicht eingegriffen hätte, wäre sie gewiss zu Tode gekommen. Ob es sich bei ihm um einen Förster handelte?
Diesen Gedanken verwarf sie sofort wieder, denn er hatte weder einen Hund noch eine Waffe bei sich. Sonderbar.
Nachdem sie sich ein wenig von dem Schrecken erholt hatte, rollte sie sich auf die Seite. Doch sie sah niemanden.
Unerwartet spürte sie, wie sich eine Hand um ihren rechten Knöchel schloss.
Liana - darum bemüht, sich aufzurichten - konnte sich nicht zur Seite bewegen, solange ihr Bein festgehalten wurde.
Ihr Helfer, der sich augenscheinlich in einen Angreifer verwandelt hatte, kniete neben ihr. Er begann damit, das linke Hosenbein ihrer Jeans nach oben zu schieben und daran herumzuzerren. Entsetzt über eine derartige Vorgehensweise, begann sich Liana zu wehren. Sie trat um sich. Doch ehe es ihr gelang, ihm einen gezielten Tritt zu verpassen, hatte er ihr anderes Bein mit seiner zweiten Hand umfasst.
Was sollte das alles? Hatte ihr der Fremde nur das Leben gerettet, um dann über sie herfallen zu können?
Sie versuchte, ihn mit den Fäusten zu bearbeiten und schluchzte auf.
„Bitte nicht!“
„Ganz ruhig. Halt endlich still! Ich habe nicht die Absicht, dir weh zu tun.“
Liana spürte einen Ruck an ihrem Bein. Unwillkürlich erschauerte sie, als er ihr den Schuh vom Fuß streifte. Hiernach riss er an der Wade ein Stück ihrer Jeans ab und ließ sie los.
„Entschuldigung“, murmelte er.
Liana bekam mit, wie er sich aufrichtete, entfernte und ohne ein weiteres Wort davonging.
Ehe sie sich wieder in einer aufrechten Position befand, war der Mann in den Schatten des Waldes verschwunden - sein Gesicht unmöglich zu erkennen.
Das Einzige, was sie identifizieren konnte, waren die Überreste eines zerfetzten Ärmels sowie ein Arm, der mit dem Stofffetzen ihrer Jeans umwickelt war.
Ein Verband. Er hatte etwas zum Verbinden gebraucht!
Die Verletzung schien ernsterer Natur zu sein. Sie konnte in dem wenigen Licht, das zur Verfügung stand, einen großen Blutfleck erkennen, der den Stoff färbte.
„Sie sind verletzt!“
Als es ihr endlich gelungen war, auf die Beine zu kommen, verlagerte sie ihr Gewicht auf das linke Bein.
„Sie brauchen Hilfe!“
Der Mann ignorierte sie komplett. Schnell und zielstrebig entfernte er sich. Sie würde ihm nicht folgen können. Nicht solange ihr ein Schuh fehlte.
„Warten Sie doch!“, rief sie ihm hinterher.
Da erklangen in der Nähe zwei Stimmen.
„Liana? Wo bist du?“
„Ich bin hier drüben!“, rief sie den sich nähernden Personen, die sich als Robert und Allan Cameron entpuppten, zu.
„Dem Himmel sei Dank!“
Robert ebnete sich den Weg zu ihr. Anschließend legte ihr einen Arm um die Schulter, damit sie sich abstützen konnte.
„Wie bist du hierhergekommen?“
„Gütiger Himmel!“, entfuhr es Allan im gleichen Augenblick, als er die blutigen Überreste des Wildschweines erblickte. „Was ist geschehen?“
Liana hob den Blick und sah die beiden Männer an.
„Ich habe die Bekanntschaft mit dem geheimnisvollen, weißen Hengst gemacht, der in diesen Wäldern sein Zuhause hat. Ich folgte ihm. Irgendwann war er dann wie vom Erdboden verschluckt. An seiner Stelle tauchte der Keiler auf. Ein Mann hat mich vor dem Tode gerettet. Aber er verschwand, ohne dass ich mehr als fünf Worte mit ihm wechseln konnte…“
Robert und Allan blickten einander wissend an.
„Wir sollten jetzt zurückgehen. Kannst du laufen?“, fragte Allan.
„Wenn ich meinen zweiten Schuh finde, wird es gewiss gehen. Ah, da ist er ja“, sagte sie und schlüpfte hinein. „Ich bin bereit, meine Herren. Also los…“
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