Hast du sie wimmeln gesehen, kleine Mücke?
Die Ameisen in ihren Hügeln der Wissenschaft, eifrig Futter zerlegend, eifrig die Jungtiere pflegend und eifrig auf Gefahren reagierend? Eine faszinierende Organisation, so ein Ameisenbau, basieren auf einer Kommunikation aus Gerüchen und Düften, ganz ohne direkten Kontakt. Wie ein Zettelwirrwarr. Wie Stille Post.
Jetzt ist der Hügel in heller Aufruhr. Alles rennt durcheinander, es wurde Alarm geschlagen, die Ameisen rüsten sich zum Krieg, um ihre Heimat zu verteidigen und zu schützen.
Sie ahnen nicht, dass sie gegen diesen Feind nichts unternehmen können, ein Kind, das aus bloßem Vergnügen mit dem Stock im Haufen stochert. Unbedacht zerstört es Höhlen und Gänge, Futterlager und Bruthöhlen und richtet irreparablen Schaden an, der die Zukunft des Haufens begräbt.
Trotzdem kämpfen die Ameisen. Natürlich kämpfen sie.
Vielleicht schafft es ja eine, einen brennenden Biss zu setzen.
~*~
Ein unbestimmbares Gefühl riss Riikka aus dem Schlaf. Wie das Kribbeln eines Mückenstichs, auf den sie nicht den Finger legen konnte. Sie fuhr sich durch das schulterlange Haar – das konnte mal wieder eine Bürste gebrauchen! – und sah sich um.
Unter dem behelfsmäßigen Dach lagen alle Seite an Seite. Der friedliche erste Eindruck täuschte. Enrico, Hazel und Rita schwitzten im Schlaf und warfen sich unruhig hin und her, jeder im Kampf mit einem anderen Dämon. Wundfieber, Gift und Entzugserscheinungen, zusammen mit Fran Chapman, die an den Rollstuhl gefesselt war, waren damit vier Leute ihrer Gruppe bewegungsunfähig.
Es blieben Riikka, Jochen Uhlman, Sun Lin und Gordon. Und es hatte keine drei Tage gebraucht, um sie in diese entsetzliche Lage zu bringen.
Mit einem Ruck setzte sich Riikka kerzengerade auf. Außer den drei Kranken lagen hier nur noch drei andere Personen! Es müssten vier sein.
Sie konzentrierte sich, um im Dunkeln etwas zu erkennen. Der eine Schlafende war Fran, wohin sollte sie auch sonst gehen? Neben ihr lag Sun Lin. Die kräftige Gestalt dahinter konnte nur der unsportliche Jochen sein.
„Wacht auf!“, rief Riikka alarmiert. „Wo ist Gordon?“
~*~
Seth hatte sechs Schulstühle so zusammengeschoben, dass sich jeweils drei mit den Sitzflächen zueinander gegenüber standen. Dann hatte er sich darauf ausgestreckt und die Augen geschlossen.
„Willst du dich denn gar nicht umgucken?“, fragte Jayden perplex. Er hatte das Zimmer noch nicht einmal betreten, sondern sich nur das Schloss der Tür angesehen.
„Das ist eine Highschool!“, sagt Seth und machte eine wegwerfende Bewegung. „Kennste eine, kennste alle. Diese ganze Schulscheiße ist doch immer gleich.“
Jayden schüttelte den Kopf und murmelte „Harvard würde das sicher anders sehen.“
Seth hatte ihn nicht gehört – oder überhört – streckte sich und drehte sich dann von Jayden weg. „Und jetzt sei still, ich will pennen.“
Jayden seufzte. „Ich gehe mich etwas umsehen. Bleib hier, ja?“
„Seh ich aus, als will ich irgendwo hin?“, fragte Seth mies gelaunt.
Jayden konnte nur hoffen, dass der Andere bald eingeschlafen war. Er schloss die Tür und begann, die langen Flure abzulaufen. Dabei zog er versuchsweise an jeder Spindtür.
Die Atmosphäre im Gebäude war unheimlich. In der Stille hallten seine Schritte laut von den Wänden wider. Die Schule erinnerte ihn sehr an seine eigene Highschool, umso mehr irritierte es ihn, dass es hier so tot und verlassen war. Eine stille Schule hatte etwas unnatürliches, wie ein Ort aus einem parallelen Universum.
Dazu kam, dass es im Flur stark nach vergammeltem Essen roch. In irgendwelchen der vielen verschlossenen Spinde zu beiden Seiten musste ein vergessenes Pausenbrot dahinvegetieren. Jayden fragte sich, wie lange es dort schon lag. Die Schule konnte erst einige Stunden verlassen worden sein. Hatte der Hausmeister hier etwa nicht seinen Job gemacht?
Er erwischte eine Spindtür, die sich öffnen ließ. Neugierig sah er hinein. Schulhefte und Schulbücher, eine Schere, eine Nagelfeile und Nagellack der Farbe – Jayden hob das Fläschchen auf – ‚Ballet Slippers‘. Er verzog das Gesicht. Wer wollte denn Nagellack in der Farbe verschwitzter Stoffschuhe?
Jayden zögerte kurz, dann nahm er sich die Schere. Die konnte man gebrauchen, um Verbände zurechtzuschneiden. Und notfalls auch, um sich zu verteidigen, obwohl er mit einer kleinen Bastelschere nicht weit kommen würde.
Er ging weiter, vorbei an einem Glaskasten, in dem eine Menge Zettel hingen. Die üblichen Flyer für Sportveranstaltungen, Abrisszettel für Nachhilfe und Gitarrenunterricht und sogar Listen mit den Ergebnissen der Wahl für die Theater-AG, die Cheerleader, Baseball und die Rollenverteilung in ‚Ein Sommernachtstraum‘. Als wäre man plötzlich in die Vergangenheit zurückversetzt.
Er passierte einen Mülleimer, um den Papierfetzen verstreut lagen, als ihm etwas ins Auge fiel. In der abschließbaren Schiebetür einer Glasvitrine mit Pokalen glitzerte ein metallisches Objekt, in dem Jayden schnell einen großen Schlüsselbund erkannte.
Er machte drei schnelle Schritte und zog den Schlüssel heraus. Etwas ungläubig sah er darauf.
Der Hausmeister der Schule hatte definitiv zu viel Lohn erhalten – er hatte den Bund mit allen Schlüsseln hier stecken gelassen, wo er Jayden wie ein Geschenk des Himmels in die Hände fiel.
Mit einem Grinsen steckte er den Schlüssel ein. „Jackpot.“
~*~
Ein Schrei wie von einer Frau. Bruce erreichte Höhen, die sich selbst Kitsune nicht zugetraut hätte. Das Gesicht verzogen legte sie die Ohren an, um das Kreischen irgendwie auszusperren, doch es half nichts. Sie presste die Hände auf die Fuchsohren und wich taumelnd zurück.
Auf der Zunge schmeckte sie Schweiß und Blut. Ein Würgekrampf zwang sie in die Knie.
Der Schrei brach ab. Mit tränenden Augen sah Kitsune auf.
Bruce wankte auf sie zu, die Hand in seinen Schritt gepresst. „Was … hast du … du Hure!“
Kitsune sprang auf und floh zur Rückwand des Kellerraums. Bruce schnitt ihr den Weg zur Treppe ab. Sein Blick war mörderisch, als er eine Hand nach ihr ausstreckte.
Ihr Blick fiel auf eine Tür, die sie zuvor nicht bemerkt hatte. Nur kurz huschte der Gedanke durch ihren Kopf, dass sie in dem Raum dahinter in der Falle sitzen würde. Dann riss sie die Tür auf und huschte hindurch, um die Stahltür hinter sich ins Schloss fallen zu lassen.
Sie atmete erleichtert auf, als sie einen Schlüssel im Schloss fühlte. Sie drehte ihn um, direkt darauf hörte sie, wie Bruce fluchend am Türgriff rüttelte.
Dann hämmerte er gegen die Tür, dass der Stahl vibrierte. „Ich bring dich um … ich kriege dich … ich bring dich um!“
Kitsune wich zurück, bis sie etwas Kaltes im Rücken fühlte. Eine Wand.
Zitternd ließ sie sich daran nach unten rutschen und schlang die Arme um die Knie. Sie wollte kotzen, doch ihr Körper hatte nicht genug Energie dazu.
~*~
Seth erwachte davon, dass ihm der Geruch nach warmem Essen in die Nase stieg.
Er blinzelte. Träge wälzte er sich auf die Seite und stellte fest, dass er immer noch im Klassenzimmer war, auf seinem behelfsmäßigen Bett aus Stühlen. Sein Rücken teilte ihm mit, dass das Bett nicht sehr bequem gewesen war.
Wo kam der Essensduft her? Seth war sich ziemlich sicher, dass es sich nur um eine olfaktorische Halluzination handeln konnte. Wer sollte in einem verlassenen Schulgebäude kochen?
Trotzdem stand er auf und sah sich um. Das Zimmer war verlassen, Jayden war weg. Ob er die Schnauze voll gehabt und Seth zurückgelassen hatte?
Stöhnend schlug er die Hand vor die Stirn, als seine fragmentarischen Erinnerungen zurückkamen. Er hatte sich wie der letzte Vollidiot benommen!
Die Wirkung der Pillen hatte endgültig nachgelassen und Seth war wieder klar. Sein Blick ging zuerst auf seine Hände, die immer noch bandagiert waren. Wie hatte er den Schmerz vorher nicht wahrnehmen können? Er war zwar nicht besonders stark, aber trotzdem unangenehm.
Ein wenig wackelig auf den Beinen ging er auf den Flur, während sein Hirn die Ereignisse des letzten Tages rekapitulierte. Sein Rausch, die seltsamen Störungen, das plötzliche Inferno …
Enila. Er musste Enila finden. Wenn die Welt plötzlich Kopf stand, war sie vielleicht in Gefahr!
Der Flur war dunkel, weil es draußen in Strömen regnete. Doch durch die halboffene Tür des nächsten Zimmers fiel ein schmaler Streifen Licht. Seth näherte sich der Quelle vorsichtig. Auch der Essensduft wurde stärker.
Überrascht fand er Jayden in dem Nebenraum vor. Der junge Mann hockte auf dem Boden und erwärmte eine Dose Bohnen über einem Bunsenbrenner.
Seth starrte die Szene eine Weile lang an.
„Na? Hunger?“, fragte Jayden mit einem breiten Grinsen.
„Wo … hast du das Essen her?“, fragte Seth. Sein Magen knurrte zwar, aber er würde nichts essen, dessen Ursprung er nicht kannte.
„Schulkantine. Und Chemieraum.“ Jayden wies zuerst auf die Dose, dann auf den Brenner.
Seth kam näher und setzte sich Jayden gegenüber. Der Andere hatte auch Teller und Besteck aufgetrieben und jeweils ein Set neben den Brenner gestellt.
„Ich hab auch noch Kaffee, Teebeutel, Zigaretten, Schokoriegel, Erdnüsse und Chips, Kantinenfraß und diverse Gewürze“, prahlte Jayden glücklich. „Und Milch, aber die riecht bereits schlecht.“
„Und wie willst du das alles schleppen?“, fragte Seth.
Jayden deutete über die Schulter. Seth lehnte sich zur Seite und entdeckte zwei Rucksäcke, die hinter Jayden an der Wand lehnten. Einer war dunkelblau und der andere grau mit Dinosauriern drauf.
„Es sind nicht gerade Wanderrucksäcke, aber besser als nichts“, sagte Jayden schulterzuckend. „Vielleicht finden wir auch in der Sporthalle noch bessere.“
„Hast du etwa die ganze Schule geplündert?“, fragte Seth entgeistert.
„Und noch dazu gründlich genug, um sogar ein gebrauchtes Kondom zu entdecken!“ Jayden verzog das Gesicht. „Die Jugend heutzutage …“
„Sollen sie doch“, brummte Seth.
~*~
Irgendwann verstummte Bruce‘ Hämmern und sein Schnaufen. Die Stille danach war fast noch schlimmer.
Kitsune lauschte. Doch es blieb alles still. Nach einer unendlichen Weile, in der sie die Dunkelheit und Stille nicht mehr ertrug, stand sie auf.
Es war so finster, dass nicht einmal ihre empfindlichen Augen die Größe des Raums abschätzen konnten. Blind tastete sie sich zurück zur Tür, bis sie den Griff fand. Langsam drehte sie am Schlüssel. Er knirschte im Schloss, in der Stille gut zu hören. Sie stoppte.
Wartete Bruce noch da draußen auf sie?
Lautlos drehte sie weiter. Dann traf der Schlüssel im Schloss auf irgendeinen winzigen Widerstand. Er klemmte. Kitsune umfasste ihn mit beiden Händen und erhöhte vorsichtig den Druck. Noch ein bisschen … noch ein kleines bisschen …
Der Schlüssel kam frei und drehte sich mit einem lauten Klicken bis zum Anschlag.
Kitsune erstarrte. Die Tür war offen, sie hatte keinen Schutz mehr. Mit angehaltenem Atem lauschte sie auf Geräusche von draußen, doch nichts erklang.
Sie schluckte, fasste Mut und stieß die Tür auf. Dann sprang sie zurück.
Fahles Licht sickerte in den Raum, der sich als leere Abstellkammer entpuppte. Niemand stürzte sich auf sie. Die einzige Spur Bruce‘ war eine dünne Linie aus Bluttropfen, die zur Treppe führte.
Kitsune amtete erleichtert auf. Er war weg!
~*~
„Und? Hast du deinen Freund gefunden?“
Ruben sah überrascht auf, als er an der Essensausgabe so unvermutet angesprochen wurde. Erstaunt erkannte er in dem Koch, der ihm aus einem großen Topf einschenkte, den Amerikaner Ethan.
„Leider nicht“, antwortete er geknickt.
„Er wurde bestimmt nur weiter weg angespült“, sagte Ethan und gab Ruben noch einen halben Löffel obendrauf. Und das, wo alle eigentlich nur eine einzige, zugegeben sehr große Schöpfkelle bekamen.
Ruben lächelte dankbar, umfasste die übervolle Schale mit beiden Händen und ging langsam und vorsichtig den Strand entlang, bis er ein freies Plätzchen nicht allzuweit entfernt gefunden hatte.
Noch immer stand eine lange Schlange vor der Essensausgabe. Stewardessen achteten darauf, dass niemand vom Strand zur Schlange auf den Dünen ging, damit niemand sich unerlaubt eine zweite Portion holen konnte, bis nicht alle etwas gegessen hatten, die jetzt noch im Lager Arbeiten erledigten.
Ruben fühlte sich wie auf einem Wandertag, wenn der Gruppenführer die mageren Brote austeilte. Wenigstens mussten sie nicht warten, bis alle Eintopf hatten, und am Ende noch beten – sie konnten einfach essen.
Seufzend tunkte Ruben den Löffel in die Suppe und probierte. Es war kein leckerer Eintopf. Irgendeine Notration aus den Rettungsbooten, die mit Wasser aufgekocht wurde. Trotzdem machte sich Ruben hungrig darüber her. Er hatte seine Schale etwa zur Hälfte geleert, als er merkte, dass eine junge Frau mit einem Baby in der Nähe ihn pikiert anstarrte.
Ruben stoppte den Löffel auf halbem Weg zum Mund und ließ ihn wieder sinken. Er hatte geschmatzt und gegessen wie ein Tier. Hitze stieg ihm ins Gesicht. Mit einem gemurmelten „Sorry“ wandte er den Blick ab.
„Sie haben wohl hart gearbeitet“, sagte die Frau auf Englisch und lachte, um die Situation zu entkrampfen.
„Nur ein wenig Laufen“, gab Ruben ehrlich zu. Er rätselte, was für einen Akzent die Frau hatte. War das … finnisch? Bei ihrem hellblonden Haar und blassem Teint kam ihm das wahrscheinlich vor. „Ich habe jemanden gesucht.“
„Oh. Ein Freund?“, fragte die Frau betroffen.
Ruben nickte und starrte in den Eintopf. Er gab sich einen Ruck und stand auf. Da der Herr ihn vor dem Schiffsunglück beschützt hatte, fühlte er sich verpflichtet, etwas davon zurückzugeben. Also hielt er der Frau die Schüssel hin. „Äh … willst du? Du brauchst es bestimmt nötiger als ich. Wo du ja für Zwei essen musst.“
Die Frau zögerte so lange, dass Ruben schon hoffte, dass sie ablehnen würde. Dann lächelte sie aber dankbar und nahm die Schüssel entgegen. „Du hast recht, ich bin am Verhungern! Ich hab auf dem Schiff kaum etwas gegessen, ich war seekrank.“
„Seekrank? Und da gehst du schwanger auf ein Schiff?“, platzte es aus Ruben heraus, ehe er erschrocken bemerkte, was er da gesagt hatte. „Oh, Verzeihung, ich …“
„Schon gut. Du hast ja recht.“ Sie lachte. „Ich hatte nur … keine Wahl.“ Sie blinzelte zu ihm hoch. „Setz dich doch. Ich bin Raisa.“
Ruben ergriff ihre ausgestreckte Hand und versuchte, nicht allzu sehnsüchtig auf den Eintopf zu schielen. „Ruben.“
~*~
Mit eiligen Schritten überquerte sie den Innenhof des Geländes. Der Keller war ihr egal, Kitsune wollte nur noch zurück zu Doktor Wakane. Sie musste ihn fragen, wie sie das Tor öffnete. Jedenfalls redete sie sich das ein. Eigentlich wollte sie einfach nur seine tröstliche Stimme hören.
Schon bevor sie das kleine Häuschen erreichte, roch sie, dass etwas nicht stimmte.
Kitsune hielt an und witterte. Blut. Da war eine Unmenge Blut in der Luft.
Sie rannte los und stürmte in das Häuschen. Als ihr Blick ins Innere fiel, musste sie sich an den Türrahmen klammern, ihre Krallen schlugen tiefe Kratzer in den Rahmen.
Doktor Wakane lag auf dem Boden, die Kehle aufgeschlitzt. Tot. Sein Blut beschmierte die Rückwand, denn jemand hatte damit geschrieben, in großen, unregelmäßigen Buchstaben:
‚Ich kriege dich.‘
~*~
Der Asphalt glühte unter der unbarmherzigen, spanischen Sonne. Sandverwehungen verwandelten Autos in Dünen und die Autobahn in eine Wüste. Doch auf der Straße kamen sie immerhin noch schneller voran als im unwegsamen Gebüsch an der Seite, also nahmen sie es in Kauf, sich der prallen Sonne auszusetzen.
Das Geschrei des Babys, das Fernando mitgenommen hatte, sägte sich in Iris‘ Gehörgang. Das verdammte Kind schrie und schrie und schrie, aber Juan hatte entschieden, dass es bleiben würde, also fügte sich Iris.
Es war verrückt, mit einem Mal gemeinsam mit den Gangstern durch die Straßen zu ziehen. Wobei sie sich langsam fragte, ob Juans Gruppe wirklich als Bande gelten konnte. Sie waren zu wenige für eine richtige Bande, die mit Schusswaffen oder Menschen handelte. Gleichzeitig waren sie zu gebildet, was sie inzwischen durchblicken ließen. Und dazu kam Juans Mission, Carmen Manzanares zu finden. Die angeblich für alles verantwortlich war, was in letzter Zeit geschehen war.
„Es gab bereits seit Jahren Studien dazu, wie man eine Wolke gezielt abregnen lassen kann“, hatte Juan Iris erzählt. „Eigentlich wollte man damit Gewitter aus bewohnbaren Bereichen fernhalten, gutes Wetter für wichtige Feiertage sichern oder trockenen Regionen eine wohlverdiente Portion Regen spendieren. Aber wie alles, was die Wissenschaft hervorbringt, kann ihr Werkzeug in den falschen Händen zur Waffe werden.“
„Dann will Carmen … was? Eine Sintflut anzetteln?“
„Ich weiß nicht, was sie will. Ich weiß nur, dass sie sich für diese Technik interessiert hatte, bevor sie floh.“
Inzwischen wäre Iris ganz dankbar für eine Regenwolke. Sie fühlte beinahe, wie ihre Haut verbrannte. Die Sonne war viel zu heiß, noch dazu gab es keinen Schatten mehr. Der seltsame Sandsturm hatte die Bäume entlang der Straße entwurzelt und Autos wie Spielzeuge zerquetscht.
Jeder von ihnen sah immer wieder zurück. Falls ein weiterer Sturm nahte, mussten sie das unbedingt wissen, bevor es zu spät war, um sich in Sicherheit zu bringen.
Immer wieder stießen sie auf Leichen. Die meisten saßen in ihren Autos, wo sie vom Sturm überrascht worden waren. Andere hatten offenbar einen Fluchtversuch gewagt. Und gelegentlich fanden sie jemanden, der sich auf einer Blutspur aus dem Wrack gezogen hatte, um auf der Straße schließlich zu verbluten.
Lebende trafen sie keine mehr. Iris wollte lieber nicht daran denken, dass sie zu den Toten gehören würde, hätte sie nicht rechtzeitig gesehen, was sich zusammenbraute.
Niemand sprach den Sturm an. Iris konnte nur raten, dass die Spanier so etwas ebenfalls noch nie erlebt hatten. Oder sie überlegten, welche Gefahr ihnen Carmen als nächstes auf den Hals hetzen würde.
„Hey!“, rief Juan plötzlich. Der Anführer der Gruppe war ein ganzes Stück vor ihnen gelaufen, nun drehte er sich um und winkte mit beiden Armen. „Da vorne ist eine Hütte!“
Iris hob den Kopf. Fernando, Felipe, Hector und Mateo beschleunigten ihre Schritte. Die Aussicht auf kühlen Schatten brachte sie dazu, ihre letzten Kräfte zu mobilisieren.
Die Hütte stellte sich als altes Farmhaus heraus, das inmitten verwilderter Felder lag. Türen und Fenster gab es nicht mehr, im Inneren war es ebenso schwül und stickig wie draußen, doch immerhin hatten sie Schutz vor der Sonne gefunden. Die Gruppe suchte sich Sitzplätze auf dem morschen Holzboden. Das Baby schrie. Draußen zirpten die Grillen.
„Fernando … bring das zum Schweigen, bevor mein Kopf platzt, in Ordnung?“, fauchte Hector und funkelte den Säugling an.
„Ich glaube, sie hat Hunger“, murmelte Fernando und schaukelte das Kind hilflos in den Armen. „Hat jemand von euch Milch?“
„Na klar. Und Windeln hab ich auch dabei“, sagte Iris. „Und einen Wickeltisch. Warum hast du das Kind noch gleich mitgenommen?“
„Hätten wir es einfach dort sterben lassen sollen?“, fragte Fernando.
„Irgendjemand hätte es schon gefunden.“ Iris zuckte mit den Achseln.
„Wer denn?“, mischte sich Juan an. „Hier sind alle tot.“
„Rettungskräfte vielleicht?“ Iris rollte mit den Augen. „Es wird ja wohl jemand kommen und …“
„Es kommt niemand“, sagte Juan. „Die Polizei ist überfordert. Das Militär ist ebenfalls im Einsatz, aber es passiert einfach zu viel. Eine Stadt oder zwei könnten sie noch evakuieren – aber alle gleichzeitig?“
Alle starrten ihn an.
„Ich sagte doch schon – wir haben es mit menschengemachten Katastrophen zu tun. Das hier ist geplant, um möglichst viele Opfer zu fordern.“ Der Anführer der Gangster seufzte. „Wir müssen Carmen finden. Ich hatte gehofft, uns bliebe mehr Zeit. Aber zuerst brauchen wir eine Taktik. Und …“ Er sah zu dem Baby. „Und Vorräte. Danach gehen wir zu Chiara Moretti.“
~*~
Fynn ging mit schnellen Schritten, sodass Keelan kaum hinterherkam. Er fluchte unablässig vor sich hin. „Verschimmelte Hotelzimmer! Wir kann man so was nicht bemerken, Himmel noch eins? Und jetzt? ‚Seht doch zu, wie ihr klarkommt!‘ Das ist ja wohl die Höhe.“
Sie verließen gerade das dritte Hotel, in dem sie um Unterschlupf gebeten hatten. Auf ihrer Suche nach einer neuen Unterkunft waren sie bisher nur auf betroffene Sekretäre getroffen, die ihnen erklärten, die Zimmer wären bereits doppelt und dreifach belegt. Nun folgten sie dem Hinweis auf eine Notunterkunft bei einer nahen Schule. Fynn hatte sich im letzten Hotel zähneknirschend den Weg erklären lassen.
„Offenbar gab es hier ein paar Probleme.“ Keelan holte mit schnellen Schritten auf und versuchte, Fynn zu besänftigen. „So viele Menschen brauchen eine Unterkunft – das ist ja kein Normalzustand.“
„Vermutlich hast du recht“, murrte Fynn. „Aber die am Flughafen hätten sich ja mal besser kümmern können. Jetzt sind wir irgendwo gestrandet und nicht mehr deren Problem.“ Er wurde langsamer, denn der Weg führte durch eine schmale Gasse bergauf. Eine Weile keuchten sie wortlos hinauf.
„Aber gut, für dich muss das alles noch schlimmer sein“, sagte Fynn schließlich. „Du warst eigentlich auf dem Weg nach Hause, oder?“
Keelan nickte. „Aber wenn jetzt keine Flüge mehr gehen …“
Fynn sah zum Himmel. „Etwas seltsam ist es ja schon. Alle Flughäfen sind zu. Keine Bahnen fahren. Als wäre die Welt plötzlich tot.“
„Ich wette, auf den Autobahnen sieht es anders aus“, meinte Keelan.
„Vermutlich. Immerhin verliere ich dadurch vielleicht doch nicht meinen Job. Niemand kommt heute irgendwohin, auch nicht zur Schule.“
„Siehst du?“, fragte Keelan mit einem Lächeln. „Ein kleiner Lichtblick.“
„Und das hier auch.“ Fynn blieb stehen. Sie hatten die Schule erreicht, die auf einem kleinen Hügel im Stadtgebiet lag. Das Tor war verschlossen.
„Wir müssen zur Turnhalle“, wiederholte Fynn die Anweisungen, die ihnen der junge Mann am Empfang des Hotels gegeben hatte. „Die ist links …“
Sie traten an das Tor. Fynn rüttelte daran, doch es ließ sich nicht bewegen.
„Hey!“, brüllte er lautstark und rüttelte heftiger. „Ist da jemand?“
Tatsächlich erschienen sechs Personen auf dem Hof. Als diese näherkamen, erkannte Keelan Markus, Lucas, Maximilian, Richard, Malte und Nils.
„Was macht ihr denn hier?“, fragte sie verwundert.
„Hier sollte eigentlich eine Unterkunft sein“, sagte Lucas. „Ihr habt auch davon gehört, richtig?“
„Aber warum ist das Tor zu?“, fragte Fynn seinen kleineren Bruder vorwurfsvoll.
„Die Sporthalle ist auch zu“, murmelte Malte, der hinter den Anderen hergeschlurft kam. „Drinnen ist niemand. Wir konnten auch keine Betten entdecken.“
„Verdammte SCHEISSE!“ Fynn trat gegen das Tor, dessen Metallstangen vibrierten.
Ratlos sahen sie einander an. Nils begann, geschickt über das Tor zu klettern.
„Ich hätte vielleicht noch eine Idee“, sagte Markus schließlich. „Ein Bekannter von mir hat ein Ferienhaus auf dem Land. Es sind vielleicht 20 oder 30 Kilometer von hier. Wir könnten dorthin laufen.“
„Zwanzig Kilometer?!“, ächzte Malte.
„Dort gäbe es ein Telefon, Wasser, Betten …“ Markus grübelte. „Und ein paar Vorräte könnte es auch geben.“
Nacheinander kletterten nun auch die restlichen fünf über den Zaun zu Keelan und Fynn.
„Tja, ich sehe keinen Grund, das nicht zu versuchen“, stellte Maximilian fest. „Außer, dass meine Füße mich umbringen werden.“
Die anderen nickten. Dann sahen sie Keelan an. „Und du? Kommst du mit? Wir könnten vom Haus aus vielleicht jemanden erreichen.“
~*~
Gordon blieb verschwunden. Er hatte keine Vorräte eingepackt und auch keine Botschaft hinterlassen. Er war einfach gegangen.
Riikka würde ihn am liebsten suchen, doch dazu bleib keine Zeit. Hazel ging es immer schlechter, am Morgen war sie kaum noch ansprechbar gewesen. Alles an Wasser und Verbänden hatten sie bereits für Enrico verbraucht, dessen Stumpf wenigstens nicht erneut geeitert hatte. Doch dieser Lichtblick wog das angehäufte Unglück kaum auf. Ritas Kreislauf war kollabiert und sie nicht mehr ansprechbar. Jochen weigerte sich, von ihrer Seite zu weichen, und hielt weinend ihre Hand, während er ihr seine unsterbliche Liebe beteuerte. Sun Lin war einem Nervenzusammenbruch nah. Trotzdem hatte Riikka sie losgeschickt, neue Vorräte zu suchen. Ihre Nahrungsmittel gingen zur Neige und außer Jochen war nur noch Sun fit genug zum Laufen.
Erneut wische Riikka Schweiß von Hazels Stirn und betastete das geschwollene Bein. Sie hatte versucht, die Wunde aufzuschneiden, um das Gift herauszubekommen, doch Hazel hatte vehement den Kopf geschüttelt – da war sie noch wach gewesen – und hatte erzählt, dass sie Blutverdünner nehme. Jede Wunde würde endlos lange bluten und sie noch mehr schwächen. Also blieb Riikka nur die Hoffnung, dass Hazels Körper das Gift überwinden könnte.
Es sah nicht gut aus. Die rothaarige Australierin erschien ihr mit jeder verstreichenden Stunde gebrechlicher.
„Riikka …“ Fran Chapman sah sie flehend an.
„Was ist?“, fragte Riikka.
„Sun ist schon lange weg. Müsste sie nicht zurück sein?“
„Das ist kaum eine halbe Stunde“, brummte Riikka. Sie hatte wenig Lust, sich auch noch um Sun Sorgen zu machen.
„Bitte … kannst du nach ihr gucken?“, bat Fran.
Riikka seufzte und warf ihr den Lappen zu. „Dann kümmerst du dich um Hazel.“ Immerhin konnte sie selbst hier nicht viel ausrichten.
„Danke, Riikka!“ Fran strahlte sie an und robbte neben die Kranke.
Mit langsamen Schritten ging Riikka zum Strand. Der Wind war kühl, doch die Sonne brannte so heiß wie immer. Eigentlich das perfekte Wetter für Riikka, wäre da nicht der schreckliche Sonnenbrand, den sie jetzt schon hatte.
Als sie sich dem Strand näherte, sah sie einen fremden Mann dort knien. Er beugte sich über eine reglose Gestalt: Sun.
Riikka erstarrte. Dann setzte sich ihr Körper wie von selbst in Bewegung. „Sun! Weg von ihr!“ Sie rannte auf den Mann zu, der überrascht den Blick hob und zurückwich. Abwehrend hob er die Hände.
„Was hast du mit ihr gemacht?“, brüllte Riikka heiser und sah auf Sun hinab. Sie lag mit verkrampften Gliedern im Sand und rührte sich immer noch nicht.
„Sie hatte einen Anfall oder so“, stammelte der Mann mit schwerem Akzent. Er war dunkelhäutig, sportlich und ein ganzes Stück älter, als er auf Riikka im ersten Moment gewirkt hatte. Während sie neben Sun auf die Knie ging, kam er vorsichtig näher. „Einen Schlaganfall, glaube ich. Jedenfalls hat sie sich an den Arm gegriffen. Ich hab getan, was ich konnte …“
„Wieso?“, fiel Riikka ihm ins Wort.
„Ich weiß nicht. Wir haben das Wrack gesehen und wollten nach Vorräten suchen. Als ich deine Freundin getroffen habe, haben wir einfach geredet. Ich bin überrascht, dass hier noch Leute leben. Und dann, plötzlich …“
„Wer sind ‚wir‘?“, fragte Riikka ihn.
„Musa und ich. Er wartet beim Flugzeug“, berichtete der Mann.
Riikka blinzelte ihn an. „F-Flugzeug?“
„Ich bin Pilot. Nurrudin.“ Er sah zu Sun. „Sie sagte, ihr habt Verletzte. Ich kann euch mitnehmen. Wir versuchen, ein Krankenhaus für sie zu finden.“
Riikka starrte ihn noch ungläubiger an. Sie sah zu Sun. Immerhin atmete das Mädchen noch, aber wenn sie wirklich einen Schlaganfall hatte, sollte sie sich vermutlich schnell entscheiden.
„Ich habe kein Flugzeug gehört“, sagte sie wie in Trance.
„Es ist ein kleines Sportflugzeug. Ich kann hier landen, dann müssen die Verletzten nicht so weit transportiert werden.“
Riikka sah zu Sun, dann zurück in Richtung ihres Lagerplatzes.
~*~
Das dumme Kaninchen war nicht schnell genug. Ethan hätte es am liebsten angeschrien, als er das Tier an einem Hinterlauf in die Höhe hielt. Wäre es ihm entkommen, dann müsste er jetzt keine Entscheidung treffen.
Seufzend sah er in die dunklen Augen des Tiers. Er sah sein eigenes Spiegelbild. In der Hand fühlte er das Messer, mit dem man die Jäger ausgestattet hatte.
Sein Magen knurrte. Ihre Vorräte hatten nur für einen Tag gereicht. Das hier … war vermutlich die einzige Chance auf eine Mahlzeit für eine lange Zeit. Fast fünfzig Leute verließen sich darauf, dass er ihnen wenigstens etwas Essen brachte.
Das Kaninchen wand sich in seinem Griff und versuchte verzweifelt, freizukommen. Ethan hatte noch nie irgendetwas getötet, von Motten und Mücken einmal abgesehen.
Er hob das Messer und versuchte, die Kehle des zappelnden Kaninchens zu erreichen. Er merkte, dass seine Hand zitterte. Entmutigt ließ er das Messer sinken. Sein Gesicht spiegelte sich in den panischen Augen seines Opfers.
Ethan schloss die Augen und dachte an das Lager. An die Verantwortung, die auf seinen Schultern lastete. An die Kinder, die versorgt werden mussten.
Dann öffnete er die Hand und ließ das Kaninchen laufen. „Na los, hau ab.“
Er würde eben einfach Beeren finden müssen. Und einige Pilze hatte er vorher gesehen. Vielleicht fand er im Lager jemanden, der sich damit auskannte.
Seufzend drehte er sich um und wollte zum Lager zurückgehen.
Sein Blick fiel auf eine menschliche Gestalt, die eilig den Hügel hinabließ, als sie seinen Blick bemerkte. Irgendjemand aus dem Lager der Flüchtlinge.
Und wer auch immer es war, er hatte gesehen, wie Ethan eine Mahlzeit davonhoppeln gelassen hatte.
~*~
Der Wind strich durch die Blätter der Zypressen und über die Gräser. Langsam wanderte Gordon durch das kniehohe Gras. Die Stille war herrlich. Endlich einmal nicht mehr unter Menschen, weg von allen Forderungen und Problemen, die ihm so unverständlich waren. Er fühlte sich, als wäre ein unangenehmer Film von seiner Haut gewaschen worden. Obwohl da natürlich noch der Dreck war, der ihn unablässig juckte.
Er wollte endlich wieder nach Hause. Dorthin, wo alles sicher und normal war. Er hatte gewusst, dass diese Kreuzfahrt die Hölle sein würde. Aber er hatte nicht damit gerechnet, wie schlimm es wirklich werden würde.
Seine Schuhe quietschten leicht bei jedem Schritt. Ein beruhigend vertrautes Geräusch. Er hatte etwas Hunger, doch nicht sehr. Heute wäre Spiegelei-mit-Speck-Tag. Etwas anderes wollte er auch nicht.
Obwohl er inzwischen schwitzte, genoss er die Wanderung. Er hatte nicht zu der Gruppe gepasst, die jetzt hinter ihm lag. Riikkas Worte, als sie ihn angeschrien hatte, hallten noch immer in ihm nach. Er wäre in jenem Moment beinahe in Tränen ausgebrochen.
Jetzt war er endlich einmal frei. Und er würde diese Freiheit genießen.
Es dauerte nicht lange, bis er auf eine Straße traf. Weit und breit war kein Auto zu sehen, also wandte er sich nach Norden. Die Weltkarte hatte er perfekt im Gedächtnis gespeichert, auch eine Straßenkarte von Italien, die er sich vor der Reise angesehen hatte. Wenn er der Straße folgte, würde er früher oder später zu den Alpen kommen. Und von da aus würde es immer weiter gehen, bis er ein Boot nach Madagaskar nahm. Dann wäre er endlich wieder zuhause.
~*~
Ächzend klammerte sich Thomas an den Stoff. Die Matratze hatte sich schon wieder im Treppenhaus verkeilt. Und da sie keine Haltegriffe mehr hatte – die waren abgerissen – hatte er keine Möglichkeit, sie gut festzuhalten. Inzwischen lief ihm der Schweiß in Strömen über den Rücken und hatte seine Haare verklebt. Trotzdem mobilisierte er noch einmal alle Kräfte.
„Hau … ruuuck!“
Jameson, Rudd und zwei Männer, die im Studio Obdach gefunden hatten, drückten von unten. Thomas und zwei weitere Gäste zogen. Die Matratze bog sich in der Mitte. Dann rutschte die verkeilte Kante unter der Decke weg und die Matratze sprang Thomas und seinen beiden Helfern entgegen. Der Mann wurde von den Füßen gerissen, die Frau hielt Stand. Endlich war die Matratze durch die Tür. Erschöpft trugen die sechs die Matratze ins Studio und in den Schlafraum der Männer.
Es war die dritte Matratze, die sie vom Sperrmüll gerettet hatten. Außerdem hatten sie reichlich Decken und Kissen herbeischaffen können, sodass in den beiden Räumen, die zum Schlafen bereitgestellt worden waren, inzwischen nahezu hundert Menschen lebten. Nachdem sie in der Sendung von der Unterkunft erzählt hatten, hatte sich die Nachricht schnell verbreitet. Jede Stunde kamen mehr Menschen und Thomas wurde klar, dass sie mehr Platz brauchten. Oder sie würden Menschen ohne Obdach abweisen müssen.
Müde trat er in den Aufnahmeraum mit den Sitzrängen des Publikums. Wenn sie in Schichten schliefen, überlegte er, könnten sie dreimal so viele Menschen aufnehmen. Aber dann blieb immer noch die Frage, wo sie Nahrung herbekommen sollten.
Im Hinterraum der Bühne, wo die Räumlichkeiten der Maske lagen, traf Thomas auf Lars. Er saß auf dem Boden neben Max, der fleißig auf ein Blatt Papier kritzelte.
Er nickte Lars dankbar zu, der auf Max aufgepasst hatte, während Thomas beschäftigt gewesen war. Lars signalisierte mit einem Grinsen und hochgerecktem Daumen, dass es für ihn kein Problem gewesen war.
„Na, kleiner Mann?“, fragte Thomas den Jungen und ging in die Hocke. „Was zeichnest du da?“
„Einen Elefanten!“, erklärte Max stolz. „Auf dem kann ich reiten!“
„Oh, wirklich?“ Thomas betrachtete die Zeichnung. „Der ist richtig gut geworden!“ Der Elefant war besser als jeder Elefant, den Thomas zeichnen konnte.
„Das muss er sein.“ Max nickte ernst. „Er soll ja halten, bis ich Mama gefunden habe und sie hierherbringen konnte.“
Mitleidig verzog Thomas das Gesicht. Natürlich vermisste Max seine Mutter, obwohl er sich nicht mit einem einzigen Wort beklagt hatte. Er würde den Jungen gerne aufmuntern, aber das ginge wohl nur, indem er Emmeline fand und herbrachte.
Ob sie, wo auch immer sie war, seine Sendung sehen konnte? Thomas nahm sich vor, bald noch einmal zu senden und Max dabei mit vor die Kamera zu nehmen. Auf diese Weise konnte er Emmeline zeigen, dass es ihrem Sohn gutging.
„Deine Mutter wird sich freuen, wenn du sie mit einem so tollen Elefanten abholst“, sagte er zu Max.
„Thomas?“ Er hörte Schritte hinter sich und sah auf. Anne Morrigan kam den Gang entlang auf ihn zu. Sie wirkte nervös. „Da ist schon wieder jemand …“
„Wie viele?“, fragte Thomas. „Hol sie rauf, wir finden bestimmt noch irgendwo Platz.
„Zwei, aber …“
Thomas runzelte die Stirn. Zwei Menschen? Das war harmlos, wieso war Anne dann so beunruhigt? Sie sah zu Max und winkte ihn mit sich. Thomas stand auf. „Bin gleich wieder da.“ Von düsteren Vorahnungen erfüllt folgte er Anne.
„Was ist denn?“, fragte er, als sie in das Schminkzimmer trat und die Tür hinter ihnen zuzog.
„Der ältere der beiden ist krank“, sagte sie. „Fieber, Husten … ziemlich schwerwiegend.“
„Dann braucht er doch umso dringender unsere Hilfe!“
„Schon, aber … was, wenn es ansteckend ist? Und wir holen uns irgendeine Seuche ins Haus?“ Anne sah ihn zweifelnd an. „Ich möchte die beiden wirklich nicht wegschicken, aber vielleicht können wir ihnen auch einfach Vorräte und Medizin geben?“