In einem zerstörten Hochhaus, durchstürmt vom Wind, der durch die eingebrochene Seite hereinweht, leicht schwankend über der in Trümmern liegenden Stadt, spielt eine Schallplatte.
Immer wieder springt die Nadel ein Stück zurück und wiederholt das gleiche Lied mit Rauschen und Kratzen.
„You must leave now, take what you need, you think will last.
But whatever you wish to keep, you better grab it fast.“
Erde hat sich im ehemals teuer eingerichteten Wohnzimmer ausgebreitet. Ein Kalender an der Wand flattert. Sessel und Stühle sind vom Regen durchnässt. Der Gebäudeblock stöhnt und ächzt. Ab und zu bröckelt Putz herab. Stahlträger knirschen.
Nur eines in diesem Raum ist neu und offenbar gut gepflegt: Eine digitale Uhr an der Wand, die genau drei Stunden anzuzeigen scheint. Sekunden und Minuten sind jedoch auf Null eingefroren. Nichts bewegt sich, nur ab und zu huscht eine ferne Spiegelung von Feuer über die Glasfläche.
Mit einem Klacken schlägt die Uhr plötzlich um, von drei Stunden auf zwei. Falls es wirklich Stunden sind, die sie anzeigt.
Die Nadel springt über die Rillen der Schallplatte und bleibt hängen. Wieder und wieder ertönt die gleiche Liedzeile.
„And it's all over now, Baby Blue. It’s all … it’s all over now … It’s all over now, Baby … all over now, Baby Blue …“
~*~
Und damit herzlich Willkommen zurück beim Let’s Write! Ich hoffe, ihr seid bereit für die letzten Kapitel, die letzten beiden Entscheidungen … Jepp, ich habe mir einen Plan gemacht und wir steuern relativ fix auf das Ende zu. Wir haben nur noch zwei Charaktere, wo überhaupt Plotpunkte offen sind, überall sonst wird’s zunehmend statischer; und ein paar Leute sind ja auch schon tot. Ich denke, das ist ein ganz guter Zeitpunkt, um zu einem Ende zu kommen, was bedeutet, dass die nächste Entscheidung jetzt relativ wichtig wird. (Und ich versuche, die Entwicklung der beiden angesprochenen Charaktere noch durchzuboxen.)
Ich quatsche euch am Kapitelende noch mal etwas zu, jetzt aber erst einmal viel Spaß in der Apokalypse!
~*~
„Was sollen wir jetzt tun?“ Ratlos suchte Thomas in der plötzlichen Dunkelheit nach Simon. Die Notbeleuchtung des Labors war angesprungen, doch seine Augen hatten sich noch nicht vollkommen an den düsteren, roten Schimmer gewöhnt. Gegenstände erkannte er nur als verschwommene Schatten. Simon hatte er aus den Augen verloren, denn der Forscher hatte sich bewegt.
„Es müsste irgendwo Sicherungen geben“, erklang dessen Stimme nun links von Thomas.
Tastend arbeitete sich der Moderator in die Richtung.
„Wenn wir Glück haben, können wir den Strom wieder anstellen und … aha!“
Mit einem dumpfen Geräusch und einem Surren sprangen die Lichter erneut an. Thomas blinzelte gegen das schmerzhaft grelle Licht. Er hatte sich gerade an die Dunkelheit gewöhnt!
Als er endlich wieder mehr erkennen konnte, erblickte er Simon vor dem Sicherungskasten. Doch dessen Gesichtsausdruck war nicht dazu angetan, ihm Mut zu machen. Eher im Gegenteil: furcht breitete sich darauf aus.
„Was ist?“
„Es ist zu still“, erklärte Simon. „Die Lüftungen sind nicht wieder angesprungen.“
„Das heißt, uns läuft immer noch die Zeit davon?“
Statt zu antworten, sprang Simon auf und rannte durch die Gänge zurück zur Tür. Thomas hörte ein lautes Fluchen aus der Richtung, als Simon offenbar feststellte, dass der Eingang immer noch verschlossen war.
Mit hängenden Schultern kam der Master of Desaster zurück. „Wer auch immer das auf den Bildschirmen war, hat ganze Arbeit geleistet. Diese Frau hat das komplette Sicherheitssystem überschrieben, bis auf das Licht. Das war wohl nur, um uns Angst zu machen.“
„Dann ist sie eine Hackerin?“ Thomas sah zu den nun erloschenen Computerbildschirmen. Er hörte die Verzweiflung in Simons Stimme und etwas in ihm bäumte sich störrisch gegen die Panik auf. In seiner Karriere als Moderator war es ihm in Fleisch und Blut übergegangen, seine Interviewpartner von heiklen Themen abzulenken und ihnen Vertrauen einzuflößen. Und auch jetzt suchte er instinktiv nach einer Lösung. „Können wir das Programm umschreiben?“
Simon ließ sich darauf ein und startete testweise einen der Computer. Zur Überraschung der beiden Männer fuhr das Gerät hoch. Der Bildschirm flackerte kurz, dann leuchtete er stabil.
„Ich versuche, einen Kontakt nach draußen herzustellen“, kündigte Simon an. „Wenn wir deine Leute erreichen, können sie die Tür vielleicht rechtzeitig öffnen …“
Seine Stimme wurde leiser, als etwas auf dem Bildschirm seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Der Dateiordner der Blackbox war geöffnet.
Die Männer beugten sich gemeinschaftlich vor. Simon klickte wie in Trance auf die letzte Audiodatei.
~*~
„Ich versuche jetzt den Landeanflug.“
„Nein! Carmen hat uns gescannt. Sie wird uns abschießen.“
„Wir haben kein Benzin mehr, Luke. Wir können nicht weiter Kreise ziehen.“
Kleidung raschelte in hektischen Bewegungen. Hallend eilten Schritte einen Flug entlang, entfernten sich und kamen zurück. Gleichzeitig wurde das Brausen des Windes immer lauter.
„Die Geräte spinnen.“
„Ich sehe es. Dan, ich liebe dich, okay? Wir müssen einfach versuchen, den Sender zu erwischen.“
„Komm schon – was bringt ein einziger von zwanzig?!“
„Es ist einer weniger, mit dem sie alles kontrolliert. Ein Sendemast weniger … Scheiße!“
„Was ist?“
„Das Steuer streikt.“
Ächzen und unterdrücktes Fluchen, ein mechanisches Knirschen.
Dann Stille, nur durchbrochen von pfeifendem Wind und zischend sinkendem Luftdruck.
„Immerhin … immerhin steuern wir direkt auf den Turm zu.“
„Vergiss doch einmal den dummen Mast, Luke. Zur Hölle nochmal, wieso müssen wir es sein, die die Welt retten wollen?“
„Weil außer uns niemand da ist. Weil wir sie durchschaut haben und sie uns nicht erpressen kann.“
„Scheiße, Mann. Das wird ein heftiger Aufprall.“
Ein lauter Knall, erschrockene Rufe und weiteres Ächzen, als die Sprecher gegen eine Wand fallen.
„Tragfläche eins.“
„Das ist nicht witzig!“
Heulender Wind füllte einen Moment die Stille.
„Shit.“
„Ja.“
Ein ohrenbetäubendes Krachen, Splittern und Bersten, dann brach die Aufnahme ab.
~*~
Die unangenehme Stille wurde von einem gellenden Alarmton durchbrochen. Die Gangster sprangen auf, Juan zückte eine Pistole und sah sich nach einem Angreifer um. Iris zuckte zusammen.
Nur Chiara bliebt erst einmal ruhig, doch als der Ton nach wenigen Sekunden erstarb, tappte ihr Fuß nervös auf den Boden. Noch einmal fixierte sie Iris. „Also gut, Firestarter. Wir reden später.“
Dann ging sie aus der Küche.
Nach einem kurzen Blickwechsel zuckte Juan mit den Schulter und die Gangster und Iris folgten ihrer Gastgeberin durch das Wohnzimmer und in den Computerraum, den Iris bereits bemerkt hatte. Sie atmete die Luft tief ein, die etwas muffig roch, nach zu vielen Kühlern, die liefen. Ein elektrisches Summen füllte den Raum. An einer Wand stapelten sich Bildschirme übereinander, davor lagen drei Tastaturen, in einer Ecke entdeckte Iris weitere – eine runde Tastaturscheibe mit chinesischen Zeichen und eine mit kyrillischen Buchstaben. Der Rest der Ersatzteile war vermutlich ähnlich.
„Was war das?“, fragte Juan, der an dem geliehenen Morgenmantel herumzupfte.
„Das weiß ich sofort. Ich habe einen Alarm eingerichtet, der in verschiedenen Fällen aktiviert wird.“ Chiara beugte sich über die Tastaturen und bewegte die Maus, doch auf den Bildschirmen geschah so viel gleichzeitig, dass Iris nicht wusste, wo genau Chiara agierte.
Iris musterte Landkarten, auf denen rote Markierungen pulsierten, Nachrichtenportale in verschiedensten Sprachen, Newsticker verschiedener Fernsehsender, und eine erstaunlich vielfältige Auswahl an Postfächern. Auch geheime Datenbanken blitzten auf, deren Anblick ihr nur teilweise vertraut war. Neugierig machte sie einen Schritt vor.
„Wenn ihr hier schon schnüffelt, dann fasst gefälligst nichts an!“, fauchte Chiara.
Iris zeigte auf ein blinkendes Licht. „Ist das hier der Alarm?“
Chiara musterte die Meldung. „Tatsächlich …“, gab sie widerstrebend zu und verengte die Augen. „Das ist … ein Labor in New York. Merkwürdig …“
Sie tippte etwas ein und die Meldung erschien größer auf einem anderen Bildschirm.
„Du hast die Computer eines Labors gehackt?“, fragte Iris.
„Es ist nicht mal ein besonders geheimes Labor. Aber jemand gibt sich gerade alle Mühe, es zu verriegeln. Brechen wir das mal auf.“ Chiara beugte sich vor, ihre Finger hämmerten auf die Tastatur. Gespannt verfolgte Iris jede Bewegung. Die Codezeilen, die sie aufschnappte, sahen unkonventionell aus. Sie wünschte sich eine Kamera, um das alles aufzunehmen und später zu analysieren.
Chiara vertippte sich kein einziges Mal, dann drückte sie auf Enter.
In der Küche begann die Kaffeemaschine zu surren. Alle drehten sich um.
„Holt mir mal jemand meinen Kaffee?“ Chiara machte eine ungeduldige, wedelnde Handbewegung und Fernando stolperte gehorsam los.
„Ich dachte, du wolltest …?“, setzte Juan an.
„Der Code dafür läuft automatisch. Falls ich nicht da wäre, müsste ich ja trotzdem einen Gegenangriff starten.“ Chiara wies auf einen Ladebalken, der bereits bei 75% stand. „Gleich sollten wir Zugriff auf die Computer haben. Dann sind die Kameras dran.“
„Und was genau ist in dem Labor jetzt passiert?“, fragte Juan. „Ist Carmen dort?“
Chiara lachte auf. „Nein! Sie lässt sich nicht so leicht aufspüren. Sie hat eine geheime Basis, irgendwo in einem abgelegenen Teil der Welt. Wenn ich wüsste, wo sie ist, hätte ich schon längst eine Rakete umprogrammiert. Und das weiß sie.“
„Dann seid ihr immer noch hinter Carmen her“, stellte Iris fest und musterte die Gangster und Chiara fragend.
Chiara nahm ihren Kaffee entgegen und trank einen Schluck, während sie Iris‘ Blick festhielt.
„Du hast keine Ahnung, wem du da geholfen hast, oder?“, fragte sie dann. „Du hast sie einfach auf die Menschheit losgelassen.“
„Ich wollte halt auch mal was Gutes tun.“ Iris zuckte mit den Schultern. „Nicht immer noch Gaunereien, Chaos stiften und Trickbetrügereien.“
Chiara schüttelte den Kopf. „Carmen war nicht ohne Grund eine Gefangene. Sie ist unglaublich schlau und die vermutlich beste Hackerin des Planeten. Und sie ist überzeugt davon, dass die Menschheit sterben muss, oder wenigstens der größte Teil, damit sich die Natur erholen kann.“
„Also hat sie den Kampf aufgenommen? Carmen gegen den Rest der Welt?“ Iris wusste, sie sollte vielleicht entsetzt sein, aber sie war eher beeindruckt.
„Ganz im Gegenteil. Sobald sie frei war, hat sie begonnen, systematisch Wissenschaftler und Techniker um sich zu versammeln. Sie kann von überall her auf ein Smart Home oder eine Verkehrsüberwachung zugreifen, wen sie also nicht bestechen kann, den erpresst sie, indem sie seine Familie bedroht. Oder mit schmutzigen Geheimnissen. Nichts ist vor ihr sicher.“
„Schlau.“ Iris grinste.
„Sie hat Maschinen aus China, die Stürme auslösen können. Sie kann Männer losschicken, um Bohrinseln in die Luft zu jagen. Sie konnte einen Großteil der Satelliten in der Umlaufbahn des Planeten stürzen.“
„Mit anderen Worten: Sie hat alle Macht.“
„Sie ist auch im Besitz der Atomwaffencodes.“ Chiara sah auf. „Dass sie sie noch nicht genutzt hat, liegt vermutlich daran, dass ihre Experimente noch nicht so weit sind. Momentan würde ein Atomkrieg alles Leben auf der Erde vernichten – aber Chiara möchte die Tier- und Pflanzenwelt ja überwiegend bewahren. Also müssen ihre komischen Mutantenwesen noch reifen oder so, bis sie Radioaktivität aushalten.“
„Sie macht ernst.“ Juan musste schlucken. „Stellt euch vor, wir hätten nichts davon bemerkt.“
„Wie passt ihr überhaupt in das Bild?“, fragte Iris die Gangster.
„Wir haben bemerkt, dass uns jemand beim Schmuggel den Platz streitig macht.“ Juans Blick wurde finster. „Wir hätten einfach Platz gemacht und unser Zeug durchgezogen. Wir wollten nur ein bisschen Geld, keinen Ärger, der Schwarzmarkt ist ja groß genug.“ Iris bemerkte, dass sich seine Hand zur Faust ballte. „Das war, bevor mein Bruder erschossen wurde.“
„Carmen hat …?“
„Ihr konnte nie etwas nachgewiesen werden. Offiziell war es ein Cop.“ Juan knurrte leicht. „Aber Júlio wusste, wie man mit den Bullen umgeht.“
„Habt ihr es dann mit den rührenden Kriegsgeschichten?“, fragte Chiara empathielos. „Wir haben Kontakt.“
Juan, Iris und die Gangster beugten sich vor. Auf einer Kamera sahen sie zwei Männer in einem Labor, einer bediente die Computer, während der andere, ein blonder, gegen die Türen hämmerte, die offenbar verschlossen waren.
„Ist das nicht dieser Moderator?“, fragte Iris erstaunt.
Chiara tippte etwas ein, und Kästchen erschienen um die Gesichter der Männer.
„Thomas Goldschmidt, genau. Und der andere ist Simon Baker. Offenbar ein Wissenschaftler.“
„Was zu Hölle machen sie da?“ Juan runzelte die Stirn.
Chiara tippte noch etwas. „Ich bin jetzt auf dem PC vor Simon. Mal sehen … oh! Sie haben eine Blackbox, aber an dem Ding wurde herumgespielt. Jemand hat Daten daraufgeladen.“ Chiara stöhnte. „Okay, Simon, lass mich mal daran, sonst dauert das noch ewig!“
Auf dem Bildschirm sprang der jüngere Mann auf, als sich sein Computer offenbar selbstständig machte.
„Iris, tipp mal links war ein, bevor die beiden in Panik geraten“, riet Chiara.
Iris quetschte sich gebeugt neben die Frau und schrieb: ‚Seid gegrüßt, Erdlinge. Bitte leistet keinen Widerstand, während wir euch entführen.‘
„Iris!“, donnerte Juan und richtete die Pistole auf sie.
„Spielverderber“, murrte sie und wählte andere Worte: ‚Keine Panik, wir wollen nur helfen. Wir sind auch hinter Carmen her.‘
Sie schickte ab und konnte beobachten, wie Simon sich vorsichtig wieder an den Rechner wagte. Er tippte eine Antwort. ‚Wer seid ihr? Wer ist Carmen?‘
„Oh je – die haben gar keine Ahnung.“
„Wir haben keine Zeit, ihnen alles zu erklären“, entschied Chiara. „Ihnen bleibt nicht mehr besonders viel Atemluft.“ Sie grinste plötzlich. „Aber die Blackbox ist eine wahre Fundgrube! Endlich habe ich Carmens Sendestationen – die, mit denen sie trotz Internetausfalls die gesamte Welt im Würgegriff behalten kann.“
„Wie, es gibt einfach eine Handvoll Satelliten?“ Iris war etwas entsetzt.
„Gut versteckte Sendetürme mit eine Menge Potential.“ Chiara öffnete mehrere Mails, hing Daten an und schickte ab. Dann schob sie Iris und Juan je eine Tastatur zu. „So, Leute. Eigentlich lasse ich ja niemanden an meine PCs, aber das hier ist ein Notfall. Wir müssen die Informationen zu den Masten und Carmens Umtriebigkeiten so weit wie möglich verteilen. Wenn wir jetzt zuschlagen, gibt es vielleicht eine Chance, sie zu besiegen.“
„Und dieser Moderator und sein Freund?“, fragte Juan. „Wir müssen sie befreien.“
„Wir stehen unter Zeitdruck“, sagte Chiara. „Ich weiß nicht, ob wir beides schaffen, bevor Carmen uns womöglich das Internet abschneidet.“ Sie sah Iris, dann Juan an. „Deshalb die Tastaturen. Entscheidet selbst, was euch wichtiger ist. Zwei Männer, die wir nicht kennen, oder die ganze Welt.“
Sie seufzte, als sie sich dem Bildschirm wieder zuwandte. Offensichtlich hatte auch sie sich noch nicht entschieden.
~*~
„Du solltest dich wirklich hinsetzen.“
Ruben hatte seinen Zorn offenbar überwunden und trat vorsichtig zu Ethan. Er tigerte immer noch im Haus auf und ab, bis der Deutsche das nicht mehr hatte mitansehen können.
„Es geht schon“, brummte er deshalb, doch Ruben ließ nicht locker.
„Du solltest dich schonen.“
Genau das wollte Ethan jedoch nicht. Sobald er sich setzte, spürte er Müdigkeit, die an ihm hochkroch. Er konnte sich nicht erinnern, jemals so erschöpft gewesen zu sein, und wenn er ehrlich war, machte ihm die Art der Müdigkeit Angst. Sie kam mit eisiger Kälte daher, mit wirren Gedanken, die müde im Kreis stolperten wie Blinde, die vergebens nach dem Faden des Sinns haschten.
Falls er die Augen schlösse, wusste er nicht, ob er wieder erwachen würde.
Er war sich nicht sicher, ob er Ruben mit diesen Befürchtungen belasten wollte. Der Deutsche wirkte selbst, als wäre er am Ende. Er hatte die Augen weit aufgerissen und zuckte bei jedem Geräusch zusammen. Dabei saßen sie nun schon mehrere Stunden in ihrem Gefängnis fest, und die Leute, die das Camp übernommen hatten, waren noch nicht wieder aufgetaucht. In der Morgendämmerung war Ethan, genau wie der Rest, nervös geworden, doch den ganzen Tag über hatte sich niemand blicken lassen. Sie hatten sich in dem verfallenen Haus eingerichtet, die meisten waren zu müde gewesen und hatten geschlafen. Jetzt, am späten Nachmittag, sank die Anspannung. Heute würde sie wohl niemand besuchen kommen.
Was ihre Lage nicht besser machte. Daniel war inzwischen aus der Ohnmacht aufgewacht, und hatte müde nach Wasser gefragt, doch im Haus gab es nichts. Noch bevor Rubens Freund wieder eingeschlafen war, hatten sie begonnen, die Hintertür zu bearbeiten. Wer nicht verletzt war, wechselte sich damit ab, sich gegen die Tür zu werfen. Sie bebte in ihren Angeln, also ließ sie sich vermutlich aufbrechen. Doch die Art, wie Ruben sich die schmerzende Schulter hielt, gab Ethan wenig Mut. Keiner von ihnen wusste, wie man eine Tür aufbrach.
Mit anderen Worten: Sie saßen in einem Haus ohne Wasser fest, und das nach einem heißen, italienischen Frühsommertag.
Ihnen blieb nicht mehr viel Zeit.
„Bitte ruh dich aus“, drängte Ruben ihn noch einmal. „Du bist verletzt.“
In diesem Moment ließ ein Rauschen sie alle herumwirbeln. Im ersten Moment glaube Ethan, dass es sich um das Zischen einer Schlange handelte, doch dann erkannte er, dass das Geräusch von einem kleinen Küchenradio stammte.
Die Gefangenen wichen irritiert zurück. Sie hatten bereits versucht, das Radio anzuschalten, was nicht funktioniert hatte. Oder es hatte durchaus funktioniert – nur war nichts gesendet worden.
Jetzt allerdings erklang eine mechanische Text-to-Speech-Stimme auf Italienisch. Ethan und Ruben tauschten einen verwirrten Blick. Anderen Gefangenen fielen fast die Augen aus dem Kopf, und aufgeregtes Gemurmel erhob sich, bevor endlich eine Übersetzung auf Englisch und Deutsch folgten, die auch Ethan und Ruben verstanden.
~*~
Die ganzen Katastrophen der letzten Wochen haben einen Grund, einen einzigen. Und der liegt in einer verrückten Frau, die verschiedene Gerätschaften und Satelliten nutzt, um Erdbeben und Stürme auszulösen, die Technik lahmzulegen und insgesamt die Menschheit größtenteils zu vernichten. Ihr Name ist Carmen Manzanares. Und wir können sie aufhalten, jedoch nur, wenn wir alle zusammenarbeiten. Sie hat Sendetürme, über die sie ihre Kontrolle ausübt, diese müssen wir vernichten. Sie stehen überall auf der Welt, und zwar in …
~*~
„Keelan?“ Markus‘ Stimme weckte sie sofort aus dem unruhigen Schlummer der Nacht. Er hatte einen Unterton, der ihr klarmachte, dass irgendetwas wichtiges vor sich ging.
„Ja?“ Sich den Schlaf aus den Augen reibend drückte sie sich vom Sofa hoch. Die Nacht war ungewöhnlich heiß gewesen, sie war verschwitzt. Im Grunde freute sie sich, dass sie aufstehen konnte.
„Wir haben eine komische Meldung bekommen, die solltest du dir ansehen.“
Keelan trug noch die gleichen Klamotten wie tags zuvor – wie seit mehreren Tagen, eigentlich. Gähnend folgte sie Markus ins Wohnzimmer, wo sich auch der Rest ihrer Gruppe versammelt hatte. Nur Malte fehlte, vermutlich schlief er noch.
„Worum geht es?“
Fynn reichte ihr den Laptop, auf dem eine lange Mail geöffnet war, die sie irgendwie erreicht hatte. Keelan starrte auf den Text, der glücklicherweise in Englisch war. Ganz allmählich weiteten sich ihre Augen, als der Sender Absatz für Absatz mehr verrückte Theorien aufstellte. Eine Frau sollte für die weltweiten Katastrophen der letzten Wochen verantwortlich sein? Das klang nach einer Verschwörungstheorie, und doch gab es unzählige Dokumente, Statistiken und Schaubilder, die die These unterstützen sollten. Keelan scrollte durch die Texte und überflog die vielen Informationen lediglich.
„Sie will von uns, dass wir irgendwelche Türme ausfindig machen und zerstören“, meldete sich Maximilian.
„Wer, sie?“ Keelan scrollte zum Ende der Nachricht. „Wer ist Chiara Moretti?“
„Das wissen wir nicht“, sagte Markus. „Offenbar hat sie unsere Aufrufe in den Foren gesehen. Sie hat die gleiche Mail auch sofort an sämtliche anderen Kontakte geschickt, die wir angesammelt haben.“
„Also Spam?“
„Ich weiß nicht – ich glaube nicht, dass Spammerbüros in diesen Zeiten arbeiten.“ Markus sah ratlos zu den anderen. Die zuckten alle mit den Schultern. Niemand schien zu einem Schluss gekommen zu sein.
„Und diese Türme …?“
„Einer ist relativ in der Nähe, den Berg rauf.“ Nils hatte offensichtlich direkt nachgesehen. „Se verspricht auch eine Belohnung dafür, wenn man ihr hilft.“
„Geld, vermutlich.“ Markus schnaubte. „Was sollen wir damit?“
„Dieser Sendemast ist weit weg und wir haben keine Ahnung, wie wir ihn kaputtkriegen sollen.“ Lucas zuckte mit den Schultern. „Im Grunde können wir gar nichts tun.“
Keelan klappte den Laptop zu. „Das sehe ich ähnlich. Wir haben genug andere Probleme. Heute Mittag reden wir weiter, aber bis dahin …“
Die sechs Männer stimmten nickend zu, und damit war ihre Besprechung vertagt.
Als Keelan aus dem Haus trat, sah sie die anderen Probleme bereits. Menschenmassen strömten durch die Straßen der kleinen Ferienhaussiedlung. Woher all diese Leute kamen, konnte sich Keelan nicht erklären. Es war, als hätte jemand ein Schleusentor geöffnet, und nun flossen die Seen bergauf in ihr Lager.
Nach einem kurzen Blickwechsel gesellte sich Richard an ihre Seite und sie traten auf die Menschen zu, die in der Nacht ihr Lager einfach vor den Hecken aufgeschlagen hatten.
„Guten Morgen“, weckte Keelan sie mit der fröhlichsten Stimme, die sie aufbringen konnte. Der Geruch nach ungewaschenen Körpern und der Anblick der in Fetzen gekleideten Menschen, die unter Müllsäcken und ähnlichem geschlafen hatten, war beinahe zu viel für sie. „Wir werden euch sofort eine Unterkunft zuteilen. Bitte nehmt alle eure Gegenstände dorthin mit. Wenn ihr Verletzte habt, meldet euch bitte bei uns, ansonsten werdet ihr eingeteilt, um Nahrung zu suchen oder im Krankenhaus auszuhelfen.“ Es war unheimlich, wie rasch sie eine behelfsmäßige Infrastruktur entwickelt hatten. „Abends gibt es eine Essensausgabe.“
Hinter ihr übersetzte Richard zuerst ins Deutsche, dann noch nach Italienisch, Spanisch und Französisch, obwohl die letzten drei Sprachen vermutlich überflüssig waren. Quälend langsam erwachten die Flüchtlinge, standen auf, suchten ihre Sachen zusammen.
„Was sollen wir nur mit denen allen machen?“, fragte Keelan flüsternd.
„Wir schaffen das schon.“ Richard berührte sacht ihre Schulter.
Bis sich alle Neuankömmlinge erhoben hatten, verging beinahe eine halbe Stunde. Genug Zeit, dass Nils mit einer Liste und einer Landkarte auftauchen konnte. Der schlanke Braunhaarige hatte die Organisation und Verwaltung von Lebensmitteln, Decken und Häusern an sich gerissen und wusste folglich, wo noch Wohnungen frei waren. Nachdem sich eine Schlange gebildet hatte, teilte Keelan die neuen Hilfesuchenden mit Nils‘ Unterstützung ein. Zum Glück blieb die wartende Masse friedlich, denn Keelan wüsste nicht, was sie im Falle einer Eskalation tun sollte.
Müde nach einer schlecht durchschlafenen Nacht und hungrig kehrte sie mit Nils und Richard ins Haus zurück, wo Maximilian einen köstlichen Eintopf gezaubert hatte. Woher die Zutaten gekommen waren, konnte sich Keelan nicht erklären – sie tippte auf dunkle Magie.
„Ein bisschen Magie steckt sicherlich drin“, antwortete Max lachend, als sie ihre Vermutung grinsend äußerte. „Aber es ist erstaunlich, wie viel in den Häusern hier lagert. Ich habe ein paar junge Männer verpflichtet, alles nebenan einzulagern. Und es ist eine gute Menge zusammengekommen.“
„Warte – das sind die Vorräte der Leute?!“ Keelan schob den Teller von sich.
„Keine Angst, sie haben natürlich auch ihr Frühstück bekommen. Aber einen Topf habe ich für uns abgezwackt.“ Maximilian grinste. „Wir haben etwas mehr als der Rest, aber wir brauchen unsere Kräfte auch, wenn wir zur Stadt gehen und – ihr habt’s erraten – noch mehr Vorräte holen!“
Keelan ächzte leise. Sie hatte einen Muskelkater, nachdem sie gestern viel zu viel herumgelaufen war. Und heute stand ihr das wieder bevor?
Malte hüstelte. „Vielleicht sollten nicht alle von uns losziehen – jemand muss auf das Haus aufpassen.“
„Und auf die Vorräte!“, warf Maximilian ein. „Hier laufen sicher eine Menge Leute herum, die hungrig genug sind, um alles mögliche zu tun. Wir sitzen auf einem Pulverfass.“
„Schon gut.“ Keelan seufzte. „Ihr beide bleibt hier.“
„Was das angeht …“ Markus zog vorsichtig den Laptop zu sich.
„Alles klar. Du musst dich ohnehin ausruhen. Dann verbreitest du unser Hilfsangebot und sagt den Leuten vielleicht direkt, wohin sie müssen. Das würde uns etwas Ärger ersparen.“ Blieben noch Fynn, Lucas, Nils und Richard, die Keelan entschlossen zunickten. Sie würde also nicht alleine losziehen.
Mit Schwung stand sie auf. Muskelkater hin oder her, es machte ihr Mut, dass sie etwas unternehmen konnte. Irgendwas! Wenn sie an die vielen Menschen dachte, die sie hier aufgesucht hatten, sah sie zwar in erster Linie die organisatorischen Probleme – doch sie bewirkten hier auch etwas Gutes. Das war den Ärger wert.
~*~
„Kann man dieses Ding nicht irgendwie ausschalten?“, knurrte einer ihrer Mitgefangenen wütend, als sich die Durchsage aus dem Radio zum neunten oder zehnten Mal wiederholte.
Ethan fühlte sich noch immer wie erstarrt, und auch der Rest erholte sich nur langsam von seinem Schock, während die Durchsage sich auf Spanisch, Englisch, Deutsch und offenbar Chinesisch immer wieder wiederholte. Zwischendurch kamen manchmal Übersetzungen in anderen Sprachen, aber diese vier wiederholten sich unablässig.
Ausgelöste Katastrophen. Die Geschichte einer gefährlichen Verrückten. Und dann die Sendetürme und ihre Positionen.
Konnte das die Wahrheit sein? Es klang absolut verrückt, doch wer sollte zu dieser Zeit lügen? Wer auch immer diese Durchsagen geschaltet hatte, musste einfachste Mittel verwendet haben – ein Text-to-Speech-Programm und offenbar auch Google Translator, denn die Grammatik der englischen Übersetzung war ein wenig steif. Da die Radiostationen alle nicht mehr sendeten, war es vermutlich auch gar nicht so schwer gewesen, die Wellenlänge für eigene Übertragungen zu nutzen.
Es müsste stimmen. Niemand würde in der aktuellen Situation Zeit für einen derartig großangelegten und geschmacklosen Streich haben. Aber das hieße, dass jemand die Apokalypse absichtlich ausgelöst hätte.
War das überhaupt möglich?
„Ich kann’s nicht mehr hören!“, stieß der Mann von eben aus. Er war gerade an der Tür zugange, die sie immer noch aufzubrechen versuchten. Jetzt warf sich der große Kerl mit aggressivem Schwung gegen das Holz und – die Tür gab nach.
Alle Köpfe fuhren herum, während der Dunkelhaarige erstaunt nach draußen stolperte und sich instinktiv die Schulter hielt.
Die Gefangenen sprangen auf, nichts hielt sie mehr in dem verfallenen Haus.
„Wartet!“, bat Ruben sie. „Ihr müsst meinem Freund helfen, bitte …“
Kaum jemand ließ sich erweichen, den bewusstlosen Daniel aus dem Gebäude zu schleifen. Es waren zwei, die sich von Ruben aufhalten ließen. Als sie wieder ins Haus traten, humpelte Ethan zu ihnen.
„Du bist verletzt!“, rief Ruben ihm unnötigerweise in Erinnerung, als Ethan sich bückte, um mit anzufassen.
„Passt schon“, sagte er ausweichend.
Sie trugen Daniel hinaus und legten ihn knappe zwei Meter hinter den Zaun des Vorgartens, als wären sie erst hier außer Gefahr. Das so märchenhaft erscheinende Haus war zum Symbol des Horrors geworden.
~*~
Einer ihrer Helfer, eine junge, kräftig gebaute Frau, begann, einige Latten aus dem Zaun zu reißen.
„Was tun Sie da?“, fragte Ruben.
„Wir bauen eine Trage für ihn.“ Sie deutete auf Daniel. „Und vielleicht auch für ihn.“ Diesmal galt ihr Blick Ethan.
„Es geht schon“, wehrte der Amerikaner erneut ab. Er humpelte zwei Schritte, bückte sich und hob einen langen Stiel auf, offenbar von einem Spaten. Als er sich den Stock unter den Arm klemmte, grinste er spitzbübisch. „Das reicht mir.“
Die Frau musterte ihn scharf. „Du solltest deine Verletzung nicht auf die leichte Schulter nehmen. Ich hab‘ Leute mit weniger schlimmen Wunden zusammenklappen sehen.“
„Sind Sie Ärztin?“, fragte Ruben.
Die Frau schüttelte den Kopf. „Freiwillige Feuerwehr. Allerdings schon länger nicht mehr. Der Stress wurde einfach zu viel, ich musste aufhören.“
„Möge der Herr Ihnen Kraft geben und Sie für Ihre Hilfe belohnen.“
Etwas verdutzt nickte die Frau. „Danke …“
In diesem Moment trat Ethan an Ruben heran. „Was haben wir jetzt vor?“
„Hilfe suchen. Und den Ort so schnell wie möglich verlassen“, antwortete Ruben wie aus der Pistole geschossen.
Mehrere der anderen Menschen drehten sich zu ihnen um und spitzten offenbar die Ohren.
„Aber der Turm ist in der anderen Richtung.“ Ethan wies zurück zum Lager.
„Welcher Turm?“ Ruben runzelte die Stirn, obwohl ihm dämmerte, was Ethan meinte.
„Der Sendeturm. Im Radio hieß es … er ist am Meer.“
Wo das Lager voller Bewaffneter war.
„Na und?“
„Wie, na und?“ Ethans Akzent wurde stärker. „Das ist der Grund, warum wir Schiffbruch erlitten haben. Weil da so ein verdammter Turm steht und den Funkverkehr stört. Wir müssen …“
„Was, du willst zurück?“ Ruben hoffte, dass er nicht zu ängstlich klang. Er wusste genau, dass alle Blicke auf ihnen ruhten. „Das ist zu gefährlich. Die töten uns!“
„Aber du hast die Ansage doch gehört. Wenn diese Carmen nicht aufgehalten wird, wird sie uns alle vernichten.“
~*~
„Schwärmt aus!“
„Wo sind diese Ratten?“
Mit angehaltenem Atem kauerte Jayden im Gebüsch. Schritte und das Bersten trockener Äste erklangen ringsum. Seth, über den er sich schützend gebeugt hatte, stöhnte halblaut, ohne aufzuwachen.
„Boss – was, wenn sie zum Turm wollen?“
„Deshalb suchen wir sie ja – um sie vorher abzuknallen. Und für Jake!“
„Miles haben sie auch erwischt.“
„Schweine.“
Die Bewaffneten zeigten keinerlei Angst. Sie hatten das Blut auf der Straße gesehen und rechneten nicht damit, dass Seth und Jayden ihnen entkommen konnten. In einem festen Netz, dessen Maschen sich immer enger zusammenzogen, durchkämmten sie die Wildnis.
Jayden starrte auf die Pistole. Mit zwei Kugeln käme er nicht weit …
„Wenn ihr’s schafft, erschießt sie nicht sofort. Ich will denen die Eier abschneiden, bevor sie sterben.“
~*~
„Festhalten!“, rief Nurrudin. Das kleine Flugzeug hüpfte und bockte in der Luft. Der dunkelhäutige Pilot kämpfte mit hervortretenden Muskeln darum, das Steuer gerade zu halten.
Rita tastete mit bebenden Fingern über die Sitzlehne und suchte nach Halt. Draußen stieg Rauch von einer Tragfläche auf, die an einem Felsen entlanggeschrammt war.
Grau ragte die Felswand vor ihnen auf. Von oben hatte sie flacher ausgesehen, wie eine sachte Rampe. Deshalb hatten sie sich auch entschlossen, hier zu landen, nachdem der Sturm vorüber gewesen war. Rita hielt den Atem an, als das Flugzeug auch schon auf dem Boden aufschlug.
Dann explodierte die Welt förmlich. Sie wurde umhergeschleudert, nur vom Gurt des Sitzes an ihrem Platz gehalten. Mehrere Stimmen erhoben sich zu Schreien. Es gab drei große Erschütterungen, bis das Flugzeug liegenblieb – glücklicherweise auf dem Bauch, denn Rita war sich sicher, dass sie sich mehrfach überschlagen hatten.
Der Gurt drückte ihr die Luft ab. Sie öffnete ihn.
„Raus hier!“, befahl Musa in diesem Moment. „Los, los!“ Er öffnete eine der Seitentüren. Rita wollte rennen, als sie über Widerstand stolperte: Fran. Ihr erster Instinkt war, über sie zu klettern, doch das wäre zu schwierig. Ächzend griff sie unter die Arme des Mädchens und schleppte sie mit sich.
Musa zerrte Enrico an einem Bein heraus. Rita sah zurück. Jochen kämpfte noch mit dem Verschluss des Sitzes. Durch die offene Cockpittür konnte sie Nurrudin erkennen, der schlaff im Gurt hing. Von seiner Hand, die nach unten baumelte, tropfte Blut, das auch die Zacken der geborstenen Scheibe dunkel hervorhob.
Musa kam nach draußen. Enrico brüllte auf, als der Italiener unsanft über einen steinigen Hang gezerrt wurde. Rita schleppte Fran nicht minder unsanft hinterher.
Dann drückte eine Hitzewelle sie zu Boden, kurz, bevor sie den Knall der Explosion wahrnahm. Die Hitze spülte über sie hinweg, nahm ihr den Atem.
Schneller, als sie es für möglich gehalten hatte, war Rita wieder aufgesprungen. Kleine Flammenfahnen wehten durch die Luft, die vor Hitze flimmerte.
„JOCHEN!“
„Nicht!“ Musa hielt sie zurück, doch Ritas Beine hätten ohnehin keinen Schritt mehr vorwärts machen können.
Bebend sank sie zu Boden. Die Luft roch verbrannt und metallisch.
~*~
Schüsse krachten durch eine Art Nebel, der sich über Seths Sinne gelegt hatte. Sein Körper fühlte sich an wie ein wattige Trennwand zwischen dem unverständlichen Chaos draußen und dem gestochen scharfen Streit in seinem Inneren. Er fühlte Panik, irgendwo im Hinterkopf, Wut und Liebe.
Enila.
Ihm war, als hätte er ihr Gesicht gesehen, für einen Moment jedenfalls.
Als er blinzelte, bemerkte er jedoch nur ein dunkles Gesicht. Er brauchte eine Weile, um Jayden zu erkennen, der sich gehetzt umsah, sodass das Weiße in seinen Augen aufblitzte. Er kauerte über Seth und hielt dessen Pistole in der Hand.
Verwundert stellte Seth fest, dass er im Gestrüpp lag. „Was ist passiert?“ Wage erinnerte er sich an Schüsse. Waren sie nicht im Auto gewesen?
Jayden zuckte zusammen. „Seth! Leise!“
Seth setzte sich auf. In einiger Entfernung entdeckte er die Erhebung des Highways, wo ihr Wagen mit einigen Löchern im Tank stand. Dann sah er Männer mit Waffen im Anschlag, die das Gebiet durchkämmten.
Er begriff, was geschehen war, kurz, bevor ihn ein Schmerz in der Seite an seine Schussverletzung erinnerte. Sie saßen also in der Falle, mit einer bewaffneten Übermacht auf ihrer Spur. Es war nur eine Frage der Zeit, bis man sie entdecken würde. Schöne Scheiße.
„Ich könnte den Wagen hochjagen“, wisperte Jayden gedämpft und zielte mit der Waffe. „Aber es ist niemand in der Nähe und ich weiß nicht, ob der Schock reicht, um sie zu vertreiben.“
Jeder Atemzug schmerzte. Seth unterdrückte ein Stöhnen. Neben ihm zögerte Jayden unentschlossen.
„Wer sind diese Arschlöcher überhaupt?“
„Banditen, vermute ich.“ Jayden reckte vorsichtig den Kopf und zog ihn sofort wieder in Deckung. „Irgendwelche Leute, die vom Chaos profitieren wollen.“
„Die waren verdammt gut ausgerüstet.“ Seth sah in die andere Richtung, in die, in die sie gefahren waren. Der Highway war verlassen, immerhin kam niemand durch die Absperrung. Am Horizont erblickte er etwas Draht, wie von einem Zaun, und dahinter ein hohes, schmales Gebilde.
„Du meinst, das sind keine Zivilisten?“
„Du hast doch auch Kampferfahrung. Sag du es mir.“ Seth drückte versuchsweise auf seine Wunde. Blut nässte seine Hand und der leichteste Druck schmerzte.
„Sie haben von einem Turm gesprochen“, erklärte Jayden flüsternd und sah sich noch mal um. „Vielleicht sind es Söldner oder Wachmänner.“
Seth tastete in seinen Taschen und stieß auf ein Feuerzeug. „Okay, Kumpel, du musst mir eines versprechen.“ Er zog seine Brieftasche hervor. Darin war kaum noch Geld, aber dafür etwas viel wichtigeres. Er reichte Jayden das Foto von Enila. Sein Daumen hinterließ einen blutigen Fingerabdruck. „Finde mein Mädchen, ja? Stell sicher, dass es ihr gut geht.“
„Seth?“ Jaydens Stimme wurde einen Moment lauter. „Was soll der Scheiß?“
„Wir wissen beide, dass ich es nicht packen werde.“
„Sag so was nicht! Wir werden …“ Jayden merkte offenbar selbst, dass er dummes Zeug redete. Seth hatte in seinem Leben die eine oder andere Wunde gesehen, denn die nächtlichen Straßen seines Viertels waren alles andere als sicher. Die Kugel hatte sich ins eine Eingeweide vergraben. Er hätte eine gewisse Chance, wenn sie einen Notarzt hätten rufen können, oder Verbandszeug gehabt hätten, und Zeit, um sich auszuruhen.
Doch nichts davon stand ihnen offen.
„Ich bin Arzt. Ich werde das schon hinkriegen“, plapperte Jayden.
„Klappe“, knurrte Seth. Allmählich näherten sich die Bewaffneten ihrer Position. Von den Seiten kroch schon wieder Schwärze in sein Sichtfeld, doch er stemmte sich stur dagegen. „Also, such Enila. Pass auf sie auf, ja? Sag ihr … ach, das weiß sie.“
„Seth …“
Er drückte Jayden das Foto in die Hand und zog sein Feuerzeug hervor. „Viel Glück.“
Mit einem leisen Ächzen erhob er sich in die Hocke und begann, geduckt vorwärts zu huschen. Er hörte, dass Jayden ihm protestierend hinterherrief, aber er drehte sich nicht mehr um. Stattdessen biss er die Zähne aufeinander, denn jeder Schritt jagte neues Feuer durch seinen Körper.
Er kam bis an den Rand der Straße, als plötzlich ein Ruf erklang. „Hey! Da vorne!“
Seth sprang vorwärts und stürzte sich durch die Beifahrertür des Wagens, die glücklicherweise offenstand, als auch schon Kugeln durch die Luft pfiffen. Er lag flach auf den Sitzen und griff nach den Drähten, um den Motor zu starten. Erstaunlicherweise röhrte der Motor sofort auf und der Wagen rollte los, weil die Handbremse nicht angezogen war.
Etwas traf seinen Knöchel. Den Schmerz nahm er kaum noch wahr, doch sein Bein wurde von der Wucht gegen die Fahrertür geschleudert.
Er roch Benzin, das aus dem zerschossenen Tank drang. Wegen der vielen Schüsse hörte er kaum etwas von draußen, doch offenbar kamen die Bewaffneten näher und brüllten einander irgendwas zu. Seths Ohren waren von weißem Rauschen gefüllt, das alle anderen Geräusche überlagerte.
Als er durch die Fenster sah, erblickte er Jayden im Gebüsch, der rannte. Ein zufriedenes Lächeln kroch über seine Lippen.
„Feuer einstellen!“, donnerte jemand, die Schüsse erstarben. „Schnappt euch den Kerl!“
Die Männer waren nah. Seth schloss die Augen und ließ das Feuerzeug aufschnappen.
~*~
Die gewaltige Explosion schrillte in seinen Ohren. Jayden warf sich auf die Erde, kurz bevor die Druckwelle das trockene Gesträuch um ihn herum zu Boden drückte. Er legte die Arme über den Kopf. Etwas prasselte aus dem Himmel auf seine Kleidung und er hörte nur seinen Atem, der von der Erde unter ihm zurückgeworfen wurden. In seinen Ohren schrillte ein hohes Piepsen.
Seine Finger zitterten, als er vorsichtig den Kopf drehte. Eine Rauchwolke erblühte über dem Highway. Er sah ein paar Menschen, die taumelnd von der Explosion zurückwichen, einer stürmte vorwärts und brüllte einen Namen, den Jayden nicht verstehen konnte, weil die Stimme des Mannes hysterisch und rau war.
Wie in Trance rappelte er sich auf und schleppte sich vorwärts, den Blick stur auf den Horizont gerichtet. Sein Rücken prickelte in Erwartung eines Schusses, und doch war es ihm egal. Sein Kopf fühlte sich an wie in Watte gepackt, abgeschnitten vom Rest seines Körpers, zu keiner Entscheidung fähig. Auf beiden Seiten glitt die Wildnis an ihm vorbei, die Weiten einer ehemaligen Prärie.
Kein Schuss fiel. Die Rauchsäule blieb hinter ihm zurück.
Jayden sah auf seine Hand und bemerkte das Foto darin. Das Denken fiel ihm schwer. Enila … Er hatte ein Versprechen gegeben …
Ein heller Fleck erschien auf seiner erdverschmierten Hand. Dann ein zweiter. Verständnislos starrte er darauf, bis er begriff, dass es Tränen waren.
~*~
„Was ein Tag. Ich kann kaum fassen, dass es so viele Menschen auf einmal geben kann!“
Beeindruckt, aber auch mit wachsender Nervosität, sah Keelan auf die lange Schlange an Personen, die sich den Hügel zum Feriendorf hinaufarbeitete. Es waren noch mal mehr Menschen als gestern gewesen, die sie in der Stadt gefunden hatten. Die meisten waren allerdings am Vormittag zu ihnen gekommen. Gegen Abend kamen nur noch vereinzelte Verletzte, die sich mühsam zu ihrer ‚Auffangstation‘ mit Lebensmitteln und Erster Hilfe schleppten. Offenbar war die Stadt langsam geleert, doch Keelan bezweifelte nicht, dass auch in Zukunft immer wieder Menschen ihrem Aufruf folgen würden.
Um das ganze Lager ernähren zu können, hatten sie damit begonnen, Gruppen zusammenzustellen, die in der Stadt alle möglichen Vorräte plündern sollten. In den dichten Strom der Flüchtlinge mischten damit auch Helfer, Männer und Frauen mit Rucksäcken oder provisorischen Transportmitteln wie Schubkarren oder Kinderwagen, die Wasser, Essen, Kleidung und Decken, Medizin und Werkzeug nach oben schafften.
Während Keelan zu den Häusern auf dem Hügel sah, bemerkte sie eine Art Trampelpfad, der sich noch höher wand, auf einen benachbarten, bewaldeten Berg. Wohin der Weg führen mochte? Seitdem sie erfahren hatte, dass irgendwo dort eine Art geheimer Sendeturm stand, hatte sie eine Vermutung.
Eine weitere Helfergruppe rumpelte mit einem Karren heran. Jeder musste sich bei Nils anmelden, der sorgsam Buch darüber führte, was nach oben gebracht wurde – damit später keine Lebensmittel spurlos verschwanden oder dergleichen.
„Was habt ihr?“, fragte er.
„Nicht viel. In den Supermärkten ist das meiste schon abgelaufen oder geplündert“, entgegnete die Frau entmutigt, die diese Gruppe anführte. „Wenn ihr meine Meinung hören wollt: Wir müssen anfangen, Nahrung anzubauen, so schnell wie möglich. Und selbst dann weiß ich nicht, ob wir alle durchbringen können.“ Sie lächelte schief. „Ich habe etwas Erfahrung damit, ich habe vor dem hier Events organisiert. Das Essen reicht immer weniger lange, als man glaubt.“
„Danke“, murmelte Keelan, und spürte neue Sorge wie ein Geschwür im Magen. Sie musterte den Rucksack, den die Frau nun vorsichtig ablegte.
„Wir haben eine Sache gefunden, die ihr euch angucken solltet. Ich weiß nicht, ob wir das wirklich mit nach oben nehmen sollten, aber es könnte hilfreich sein.“
Als sie den Rucksack öffnete, starrte Keelan auf mehrere rote Stangen, die sie aus Filmen kannte. Diese in der Realität vor sich zu sehen, war ein verrücktes Gefühl.
„Dynamit?“ Nils hörte damit auf, die magere Ausbeute der anderen Helfer zu protokollieren. „Das können wir auf keinen Fall mitnehmen! Wenn das hochgeht – niemand von uns kann damit umgehen.“
„Das sehe ich ähnlich“, erwiderte die Frau und setzte den explosiven Rucksack wieder auf, als kenne sie keine Sorgen. „Ich halte es trotzdem für besser, wenn wir wissen, wo das Zeug ist. Bevor es sich selbst entzündet und womöglich einen Suchtrupp erwischt.“
„Der Bahnhof liegt etwas außerhalb der Stadt – bringen wir es dort unter“, schlug Keelan vor.
Die Frau nickte und marschierte los, um die gefährlichen Stoffe an einen sicheren Ort zu bringen.
„Dynamit!“, meinte Keelan kopfschüttelnd. „Wozu sollten wir das gebrauchen können?“
„Ich hätte eine Idee“, murmelte Nils und blickte demonstrativ zum Berg mit dem Sendemast. „Aber im Grunde können wir damit vielleicht an Geröll kommen, wenn wir ein bisschen am Berg herumsprengen. Aber das können wir später besprechen. Ich denke, wir sollten los. Siehst du die Wolken?“
Natürlich sah Keelan die. Die schwarzen Fronten ballten sich bereits seit einer Stunde am Horizont zusammen und schienen direkt auf die kleine Stadt zuzuhalten wie von einem rachsüchtigen Wind gelenkt. Einzelne Blicke zuckten aus der Schwärze.
„Das wird ein ziemliches Unwetter. Brechen wir auf“, entschied sie. Sie hatten so lange gewartet, wie sie es gewagt hatten – wer jetzt noch nicht am Lager war, müsste das Unwetter irgendwie anders überstehen.
Der Sturm würde heftig werden. Ein weiteres Unglück, das die Gegend heimsuchte. Es schien einfach keine Pause zu geben.
Während Keelan überwachte, dass sich alle auf den Weg machten, ließ sie den Blick ein letztes Mal über die Stadt schweifen. Diese lag größtenteils im Tal, schwerere Regenfälle würden verheerende Folgen haben.
In einem Fenster, im dritten Stock eines nahen Gebäudes, blitzte ein Gesicht auf. Keelan fuhr zusammen – ein blondes Mädchen, kein Zweifel! Was zu Hölle machte sie alleine dort oben?
Sie hatte instinktiv zwei Schritte gemacht, als die ersten Regentropfen auf ihre Haut trafen. Ein paar Leute schrien auf und alle beschleunigten ihre Schritte, um die Stadt sofort hinter sich zu lassen.
Keelan zögerte.
~*~
Ein Schrillen durchbrach die konzentrierte Stille. Yulia funkelte das Telefon böse an, bevor sie widerstrebend vom PC zurücktrat und abhob. „Ja?“
„Frau Kusmyna, haben Sie den Bericht fertig?“
Der Mann am anderen Ende der Leitung hatte sich nicht vorgestellt, also musste es irgendeiner der aufgeblasenen Anzugträger aus dem Büro des Präsidenten sein.
„Nein, habe ich nicht“, erwiderte sie kühl. „Ich weiß nicht, ob es Ihnen aufgefallen ist, aber wir haben eine weltweite Katastrophe. Ich habe alle Hände voll zu tun. Und haben Sie bereits die Evakuationslager aufgestellt, die ich angefordert habe?“
Sie konnte die Irritation des Kerls durch den Hörer beinahe riechen. Solche Leute waren es nicht gewohnt, dass das gemeine Volk ihnen gegenüber vorlaut wurde. Aber Yulia brauchte der Politik nicht länger in den Hintern zu kriechen.
„Ähh, also, was die Lager angeht …“
„Dann schaffen Sie Bewegung in die Sache! Ich kann mich nicht um alles kümmern“, fauchte Yulia und legte auf.
Dann atmete sie tief durch und strich sich das graue Haar mit bebenden Fingern aus der Stirn. Ihre Brille war beschlagen, dabei war es im Serverraum nicht einmal so heiß. Doch das Gespräch hatte ihr Paniklevel neu steigen lassen.
Jetzt setzte sie sich wieder vor den PC und versuchte, ihre Atmung zu beruhigen. Mit einem Blick zur Tür vergewisserte sie sich, dass die Tür geschlossen war, ehe sie ihre Finger wieder auf die Tastatur setzte und mit der Arbeit von zuvor weitermachte.
Sie war sich bewusst, dass die Regierung niemals erfahren dürfte, was genau sie hier tat. Alle gingen davon aus, dass sie sich bemühte, mögliche zukünftige Katastrophen vorherzusagen, wie alle Wissenschaftler im Moment. Einem anderen Naturwissenschaftler wäre beim Anblick der Zahlenkolonnen auch erst einmal keinen Verdacht schöpfen. Es ging um Inzidenzen, Ansteckungsparameter, DNA-Analysen und alles, was man von einer Virologin erwarten würde.
Fragen würden erst aufkommen, wenn man die Mails sah, zwischen deren chinesischen Zeichen man nur wenige Werte und Parameter erkennen konnte.
Man würde sich fragen, warum sie die Mails an eine Wetterstation in China sendete. Um ehrlich zu sein, fragte Yulia sich das jedes Mal. War es ein Schäferhund wirklich wert, dass sie all das hier tat?
Aber sie war nicht fähig, sich einfach zu verweigern und ihren Liebling damit dem Tod auszuliefern. Auch, wenn der Preis jedem anderen übertrieben erscheinen würde.
Wieder schrillte das Telefon. Yulia nahm ab. „Ja?“
„Bist du fertig?“
Yulia schluckte. Die Stimme am anderen Ende der Leitung war weiblich. „J-ja, ich wollte gerade abschicken.“
„Ich hoffe für dich, dass das Virus diesmal funktioniert.“
„Definitiv, Frau Manzanares. Ich habe es überprüft. Das Problem war, dass der Trägerstoff in der Wolke zu kalt wurde, und als es dann regnete, war …“
„Mich interessiert nur das Ergebnis“, unterbrach die Anruferin sie kalt. „Ich habe hier gerade andere Probleme. Also mach eine Ansage.“
„N-natürlich.“ Yulia sah auf den Bildschirm. „Ich sende dann jetzt, in Ordnung?“
„Na los.“
„Und … könnte ich dann vielleicht meinen Hund wenigstens …?“
Aus dem Hörer drang nur ein Tuten. Yulia starrte darauf und seufzte schwer.
~*~
Sie blieb wie erstarrt stehen, bis der Wagen unter ihr anhielt. Vorsichtig sah Kit sich um. Sie erkannte die Gegend nicht. Sie waren auf einem offenen, betonierten Platz vor einem niedrigen, offenbar verlassenen Gebäude mitten im Nirgendwo. Weiße Streifen auf dem Boden verrieten ihr, dass es ein Parkplatz sein müsste. Nach einem kurzen Grünstreifen schloss sich auf der einen Seite ein Tannenwald an, auf der anderen ein Fluss, den die Straße auf einer großen Brücke überquerte.
Es war das erste Mal, dass sie so eine Wasserfläche in echt sah, nicht im Simulationstank. Und irgendwie sah das Wasser grauer aus, ruhiger und breiter, als sie von einem Fluss erwartet hätte. Dafür roch er sehr viel intensiver nach Algen.
Die Menschen stiegen aus und bildeten einen Halbkreis um sie, bis auf zwei, die sich über ein Tablet beugten und irgendetwas besprachen. Als Kit die Ohren spitze, konnte sie einzelne Worte aufschnappen: ‚Turm‘, ‚Auftrag‘, ‚die ganze Zeit direkt vor unserer Nase‘ …
„Hey. Kannst du sprechen oder nicht?“
Die Stimme zwang ihre Aufmerksamkeit zurück auf die unmittelbare Bedrohung. Mit einem Fauchen fuhr Kitsune herum. Hinter ihr stand die Frau, die ihr Vertrauen so schändlich missbraucht hatte. Kits Krallen bohrten sich in das Metall ihrer Unterlage.
Mit halb erhobenen Händen wich sie zurück. „Ich nehme das mal als ein ‚Nein‘.“
„Was willst du?“, knurrte Kit.
Die Augen der Frau weiteten sich, dann wirbelte sie zu den Männern herum. „Ich habe es euch gesagt!“
Alle starrten Kit an. Unter ihren Blicken sträubten sich die Härchen auf ihren Armen.
Die Frau drehte sich wieder zu Kit. „Ich bin Jane. Es tut mir leid, falls wir dir Angst gemacht haben, das war nicht unsere Absicht. Hier sind ein paar Mutationen aus verschiedenen Laboren ausgebrochen, und viele davon sind echt gefährlich. Das verstehst du doch, oder?“
Kitsune zögerte.
„Sie ist ebenfalls gefährlich“, knurrte einer der Männer feindselig.
„Sei doch still“, brummte die Frau genervt. „Sie kann uns vielleicht helfen.“
„Helfen? Wieso sollte ich?“
„Du stammst auch aus einem Labor, oder? Es gibt noch mehr davon, und die Leute dort nutzen Wesen wie dich, um uns anzugreifen. Du könntest uns helfen, in eines einzubrechen.“
„Jane, bist du dir sicher, dass …?“
„Ja, bin ich.“ Jane warf dem Zweifler einen bösen Blick zu, ehe sie Kit wieder anlächelte. „Was sagst du? Wirst du uns helfen?“
~*~
„Wir hätten in der Luft bleiben sollen.“
„Das ging nicht, Rita, und das weißt du.“ Musas Stimme war müde. „Wenn der Tank leer gewesen wäre, wäre der Absturz noch schlimmer gewesen.“
„Aber es wäre nichts explodiert!“
Fran zuckte zusammen, während Ritas Stimme von den Bergwänden ringsum zurückhalte.
„Sei still, verdammt! Willst du auch noch eine Lawine auslösen? Haben wir nicht genug hinter uns?“
Sie klappte tatsächlich den Mund zu und funkelte Musa nur noch zornig an. Fran hatte sich zusammengekauert und die Arme fröstelnd um den Oberkörper geschlugen. Sie lag neben Enrico im Schutz eines leichten Felsüberhangs, wo Rita und Musa die beiden Verletzten abgelegt hatten.
„So“, knurrte Musa, „und jetzt geh endlich Holz suchen, oder wir werden noch erfrieren.“
Widerwillig stampfte Rita los. Sie spürte die Tränen aufsteigen, kaum, dass sie Musa den Rücken gekehrt hatte. Immer wieder sah sie Jochen vor sich, wie er mit seinen Wurstfingern am Verschluss des Gurtes herumfummelte. Ihr letzter Blick auf ihn, ehe die Explosion ihn verschluckt hatte. Einfach so! Sie wünschte sich irgendwas, um den Schmerz zu betäuben – aber auch Alkohol hatten sie nicht mehr.
Sie war keine hundert Meter weit gekommen, als sie ein merkwürdiges Surren hörte. Erschrocken hob sie den Blick und erkannte ein kleines Flugzeug im Himmel über ihnen.
„Heeey!“, brüllte Musa hinter ihr und sprang wild mit den Armen wedelnd auf und ab. „Hier unten!“
Rita spürte neuerliche Tränen aufsteigen, als das kleine Flugzeug wendete und in langsamen Kreisen abstieg. Sie rannte, so schnell sie konnte, zurück zu ihrem ungeschützten Lager im Schnee.
Die Maschine landete ein ganzes Stück von der Absturzstelle entfernt. Ein einzelner Mann stieg aus und winkte sie zu sich.
Musa hatte Enrico bereits geschultert, als Rita bei ihnen ankam und Fran huckepack nahm. Keuchend stapften sie vorwärts.
„Wer sind sie?“, fragte Musa den fremden Piloten völlig verwirrt.
„Ein Freund hat mir gesagt, dass ihr Hilfe braucht. Thomas Goldschmidt, der Moderator.“
„Häh?“, machte Rita. Sie konnte sich noch an Goldschmidt erinnern. Bevor er nach Amerika gezogen war, um ‚The golden Talk‘ zu moderieren, hatte sie seine deutschen Sendungen geguckt. Aber sie hatte ihn noch nie persönlich gesprochen.
„Steigt ein“, drängte sie der Mann auf Englisch. „Ich will nicht bei Nacht durchs Gebirge fliegen.“
~*~
Noch immer erschüttert konnte Gordon keinen Schlaf finden. Trotz seiner Erschöpfung lief er geradeaus, immer weiter, setzte mechanisch einen Fuß vor den anderen, während seine Haut vor Grauen kribbelte, wann immer er an die alte Frau und den grausigen Anblick in ihrer Küche zurückdachte.
Er war dankbar über ein wenig Ablenkung, als er mitten auf den verlassenen Wiesen auf einen Zaun traf.
Es war ein bissfester Maschendraht, wie der Tierarzt ihn von Madagaskar kannte. Allerdings war dieser hier fast drei Meter hoch, gekrönt von gerolltem Stacheldraht. Auf den stabilen Stahlträgern blinkten rote Lämpchen, also waren irgendwo auch Stromdrähte verlegt. Zwar gab es kein Warnschild, aber Gordon hörte trotzdem das leise Knacken elektrischer Spannung.
Er blieb einen guten Meter vom Zaun entfernt stehen und versuchte, den surrealen Anblick zu verarbeiten. Unauffällig kniff er sich in den Arm. Langsam bekam er das Gefühl, die vertraute Welt vollkommen hinter sich gelassen zu haben. Zuerst eine Kannibalin und jetzt ein Hochsicherheitszaun mitten im Nirgendwo?
Langsam setzte er sich in Bewegung und folgte einem Trampelpfad durch das Gras, der am Zaun entlang führte. Wenn man vom Rehabilitationszentrum in Madagaskar ausgehen konnte, dann wurde der Zaun täglich abgeschritten und auf Schäden untersucht, mindestens aber einmal in der Woche. Das würde den Weg erklären, dem Gordon nun folgte.
Mehrere Kilometer wand sich der Zaun durch die italienischen Hügel. Gordon sah Gräser in Löchern des Zauns wachsen, ab und zu fand er eine Eidechse, die es beim Erklettern des Drahts gegrillt hatte. Manche Menschen konnten einfach keine Rücksicht nehmen.
Ein Surren riss ihn aus Gedanken, die erneut zur Kannibalin zurückkehren wollten. Instinktiv sah er sich um, entdeckte einen kleinen Busch und ging dahinter in Deckung, ehe er überhaupt nach dem Urheber des Geräusches Ausschau hielt.
Es war eine Gruppe aus drei Drohnen, die vom eingezäunten Gelände kamen und nicht weit von Gordons Position gen Horizont jagten, wo in einigen hundert Metern das Glitzern des Meeres wieder zu sehen war, das Gordon eigentlich hinter sich hatte lassen wollen.
Die Drohnen waren groß wie ein Schreibtisch, mit mächtigen Rotoren und schweren Körpern, an denen Leuchten blinkten und von denen Greifarme baumelten.
Gordon runzelte die Stirn. Hatte nicht so etwas auf dem Tisch der alten Frau gelegen?
Die Drohnen schienen ihn glücklicherweise nicht bemerkt zu haben, sodass er seine Aufmerksamkeit auf das Gelände innerhalb des Zauns richtete. In einiger Entfernung konnte er eine weiße Kante erahnen, die Ecke eines flachen Gebäudes, und auch ein Tor, das Einlass in den Bereich bieten würde. Er ging vorsichtig ein Stück weiter und sah, dass das kleine Wachhaus mit einem rundumlaufenden Fenster verlassen war.
Geduckt schlich er von Strauch zu Strauch und behielt den Zaun, den Himmel und das Häuschen im Blick, doch nichts rührte sich. „Hallo?“ Zögerlich trat er an die Schranke, eine einfache, rot-weiße Schranke, unter der er sich problemlos hindurchducken konnte. Eine breite Auffahrt führte vor die Tür des fabrikartigen Gebäudes, das jedoch nur die Größe von vielleicht zwei Garagen hatte. Ein merkwürdiger Turm erhob sich dahinter, eine Art Strommast aus Metallstreben, der jedoch keine Leitungen aufwies, und auf dessen Spitze eine Satellitenschüssel und andere Antennen saßen.
Plötzlich wurde die weiße Tür aufgestoßen. Entsetzt ging Gordon hinter dem Wachhaus in Deckung.
Er hörte eine Frauenstimme brüllen. Er verstand die Worte nicht, die italienisch oder spanisch sein mochten, doch sie schien furchtbar wütend zu sein. Ein Knall zeugte davon, dass sie gegen etwas metallisches getreten hatte.
Sie schien mit niemandem zu reden, ausschließlich zu fluchen, doch plötzlich änderte sich ihre Stimme zu einem schrilleren Keifen, das über den Platz hallte.
Gordon hielt den Atem an. Hatte sie ihn bemerkt?
Ein Schuss ließ ihn aufspringen. Durch das Glas des Wachhauses sah er eine ältere, dünne, blonde Frau, die ihn direkt anstarrte, eine Pistole in der Hand. Durch die geöffnete Tür hinter ihr sah er unzählige Computer, und konnte sogar einige rote Meldungen erkennen.
Wieder rief sie ihm etwas zu. Dann wechselte sie plötzlich auf Englisch: „Who the fuck are you? What are you doing here?“
~*~
Und das wäre es dann mit diesem Kapitel!
Es tut mir leid, dass das Ganze so lange gedauert hat, aber die letzten drei Monate waren dummerweise sehr viel stressiger als geplant. Sollte sich jetzt aber bessern.
Außerdem möchte ich das aktuelle Let’s Write gerne allmählich beenden. Ich habe ja schon länger davon gesprochen, inzwischen habe ich aber einen recht guten Plan, wie die letzten Kapitel ablaufen. Gefühlt werden jetzt viele Entwicklungen in letzter Sekunde in den Plot gequetscht, andererseits gibt es gar nicht mehr so viel anderes zu tun. Das nächste Kapitel sollte möglichst ein Endkampf werden, weshalb hier plötzlich überall Hinweise auf Carmen aufgetaucht sind. Und das übernächste und letzte Kapitel wird wohl einfach eine Art Epilog und Bilanz, abhängig davon, welches Ergebnis die Entscheidungen im nächsten Kapitel haben. Vermutlich überflüssig, zu erwähnen, dass ich das Todesrisiko noch mal beträchtlich hochgeschraubt habe.
Ich möchte übrigens ein neues Let’s Write starten, und dafür habe ich mir bereits einiges überlegt. An „The Death of Everything we knew“ stören mich ein paar grundlegende Sachen, die sicherlich auch euch aufgefallen sind. Zum einen sind die Charaktere einfach zu weit auseinander, als dass sie gut miteinander interagieren können. Mir machen allerdings die Entscheidungen am meisten Spaß, wo zwei oder mehr Leute gemeinsam Einfluss nehmen. Es wäre aber auch etwas übersichtlicher, wenn die Charaktere sich alle im gleichen Gebiet aufhalten und man nicht immer raten muss, an welchem Strand wer jetzt gerade gestrandet ist …
Genau das habe ich in der neuen Runde vor. Ich werde die Spieler außerdem in eine meiner Welten einladen, die Eisenwelt, da ich mich dort sehr viel besser auskenne und weniger recherchieren muss als in der realen Welt. Ich möchte auch darauf achten, dass wir ein besseres Verhältnis von Haupt- und Nebencharakteren haben, hier waren es, glaube ich, etwas zu viele Nebencharaktere. Eventuell werde ich auch kürzere Kapitel nutzen oder Kapitel in mehrere Parts zerlegen, insbesondere, wenn man viele Entwicklungen von Charakteren dann auch durch die Sichten von begleitenden Charakteren weiterverfolgen kann …
Vom Setting her wird es vermutlich eine Abenteuerreise mit Horror-/Mysteryelementen. Wer Interesse hat, den würde ich mit Freuden in der neuen Runde begrüßen. Auf Belletristica sind die meisten Orga-Kapitel bereits hochgeladen:
https://belletristica.com/de/books/24308 /chapter/170285
Auf Fanfiktion sind die Regeln ein wenig anders, hier darf man ja keine „leeren“ Kapitel hochladen. Ich kann aber noch keine Aussagen zur Anmeldefrist treffen, und sobald ich dort eine Entscheidung getroffen habe, möchte ich gerne noch einmal etwas hochladen, damit eine Nachricht/Meldung entsteht. Auf Belletristica werde ich dazu das Kapitel mit den Steckbriefvorlagen nutzen, auf Fanfiktion könnte ich das aber nicht, folglich werde ich dort alle auf einmal hochladen: Prolog, Orga, Steckbriefe – aber eben erst, wenn ich genaueres zur Anmeldefrist weiß.
Das Kapitel mit den Steckbriefen ist allerdings bereits in einer Vorschauversion verfügbar:
Ihr könnt euch jetzt bereits anmelden, wenn ihr möchtet, doch es kann einige Zeit dauern, bis es mit der mysteriösen Expedition dann auch wirklich losgeht. Insbesondere möchte ich nicht, dass meine anderen Projekte unter den Let’s Writes leiden, und ich will eine kleine Pause zwischenschieben, um bei allem anderen neue Vorräte aufzubauen. Wie gesagt – die letzten drei Monate waren echt stressig und ich bin bei vielen Geschichten hinterher.
Das alles soll übrigens auch nicht dazu führen, dass „Death of Everything“ jetzt komplett abgewürgt wird. Ich will noch mal ein furioses Finale schaffen, ein paar herzzerreißende Szenen, und dann einen Abschluss, der sich hoffentlich vollständig und rund anfühlt. (Was nicht unbedingt ein Happy End sein muss …)
Wenn es anders nicht funktioniert, kann ich auch immer noch ein drittes Kapitel planen, wahrscheinlicher ist aber, dass das nächste Kapitel einfach völlig übertrieben wird.
Ich hoffe jedenfalls, ihr hattet bis hierher alle Spaß, und seid auch für das große Finale noch an Bord (des sinkenden Schiffes).
LG Marvin