Zwei Dinge, bevor wir anfangen: Es wurde noch bei keiner meiner Geschichte so oft nachgefragt und gedrängt wie bei dieser, was zu gleichen Teilen nervig und absolut wunderbar ist. Ich freue mich sehr, dass so viele Mitspieler motiviert dabei sind und möchte mich für die Wartezeit entschuldigen. Ich möchte mich in Zukunft etwas mehr beeilen und versuchen, alle zwei Monate ein neues Kapitel fertig zu kriegen – schneller wird es vermutlich nicht gehen. Ich möchte eure Charakter gut rüberbringen, und auch nicht einfach irgendwas schreiben, sondern die Kapitel gut strukturieren. Dann habe ich noch andere Projekte, due gepflegt werden wollen, und in diesem Fall habe ich das erste Kapitel überarbeiten müssen (hauptsächlich Zeitfehler, an dieser Stelle danke an Sam für’s Bemerken!) und war eine Woche krank (und habe außerdem, wie einige vielleicht bemerkt haben, ein Buch rausgebracht, was auch nochmal Zeit gefressen hat …). Dazu kommt natürlich die Wartezeit für eure Rückmeldung und mindestens eine Woche, die nur das Schreiben des Kapitels selbst beansprucht, ganz zu schweigen vom Planen. Kurz gesagt: Jede Woche ist zu utopisch, einmal im Monat wäre eventuell schaffbar, aber zu heikel, alle drei Monate – wie jetzt – finde ich aber selber zu lang. Also versuchen wir es für den Moment einmal mit „alle zwei Monate“ und falls ich deutlich früher fertig bin, kriegt ihr das Kapitel dann.
Und die zweite Sache: Wollt ihr mehr über die Hintergründe bei dieser Geschichte erfahren, welche Entscheidungen getroffen wurden und welchen Effekt diese hatten? Haltet ihr das überhaupt für eine gute Idee und wollt ihr, dass eure eigenen Entscheidungen hier öffentlich werden? Ich hätte Lust, ein wenig über verschiedene Entscheidungen zu plaudern und wie diese die Geschichte beeinflussen, auch darüber, ob ich irgendwo eine Münze geworfen habe, um Glück oder Pech mit rein zu bringen. Andererseits könnten diese Offenbarungen euch schnell zu viel verraten obwohl ich Spoiler zu Charakteren nach Möglichkeit vermeiden würde … tja, wie ist so das allgemeine Interesse?
So, damit nun aber los!
LG Marvin
~ Kapitel 2 ~
Der Bug schnitt durch die dröhnenden Wellen. Die Mächte des Meeres konnten das gewaltige Schiff kaum bewegen, es schaukelte nicht einmal. Dafür blies der Wind hier vorne sehr heftig, fast schon so stark, dass er die Luft beim Ausatmen direkt wieder zurück in die Lunge trieb.
Riikka mochte den Gegenwind, der an ihrem Haar und den Drahtohrringen mit Rentierfell riss und ihr den Salzgeruch der See ins Gesicht trieb. Auch die Kälte machte ihr wenig aus, obwohl die einzige Jacke, die sie mitgenommen hatte, doch recht dünn war. Sie hatte hauptsächlich Badesachen und drei dicke Krimis in ihren Koffer gepackt, davon ausgehend, dass sie alles nötige würde nachkaufen können. Doch an Bord gab es nur ein Café und ein paar Kleinigkeiten, keine Kleidung. Der plötzliche Wetterumschwung hatte nicht nur Riikka, sondern auch die Crew überrascht. Seit gestern war der Himmel von ungewöhnlich vielen Wolken bedeckt, immer wieder regnete es auch dicke, schwere Tropfen, die zum Herbst passen würden, aber nicht zum Sommeranfang.
Riikka griff in den Beutel Lakritze und schob sich ein weiteres Stück in den Mund. Sie hatte nur zwei Beutel mitgenommen und nun den Beutel mit den sanften Lakritz angebrochen – die starken hob sie sich auf.
Die Kälte ertrug sie deshalb, weil sie hier draußen alleine war, während die anderen Teilnehmer der Kreuzfahrt im Frühstücksraum oder in den Aufenthaltsräumen aufeinander hockten. Dort hatte Riikka es nicht länger ausgehalten, denn alle Gespräche kreisten immer nur um das gleiche Thema: Das Wetter und wie der Regen die teure Kreuzfahrt zunichtemachte, wie man hoffte, dass es in Italien besser werden würde …
Nachdenklich lutschte Riikka auf dem Lakritz herum, als sie plötzlich Schritte hörte. Sie drehte sich um und stand einem kräftigen, untersetzten Mann mit einem kurzen, aber vollen weißen Bart und strahlendblauen Augen gegenüber. Er trug eine Uniform der Marine und eine weiße Mütze, sein adrettes Erscheinungsbild wurde etwas durch den Umstand getrübt, dass sein Gesicht mit Narben übersät war, ebenso zog sich ein Ring tiefer Narben über eines der Schienbeine, und an der linken Hand fehlten ihm zwei Finger.
„Geht es Ihnen gut, Miss?“, fragte der Mann. Er sprach Englisch mit einem schwachen Akzent, den Riikka nicht einordnen konnte.
„Ja“, sagte Riikka und legte den Kopf leicht schief. „Sie sind der Steuermann.“
„Einer der Steuermänner. Auf so einer langen Fahrt wechseln wir uns selbstverständlich ab.“
„Warum sind Sie hier?“
„Ich habe Sie hier draußen gesehen“, antwortete der Kapitän. Im Gegensatz zu vielen anderen Menschen schien ihn Riikkas emotionslose Art nicht zu irritieren. Er trat an das Geländer und legte die kräftigen Arme darauf ab. „Mit Kreuzfahrten ist das so eine Sache – Sie würden sich wundern, wie viele Menschen auf so einer Fahrt … nun … verloren gehen. Da wollte ich lieber nachsehen, dass mit Ihnen alles in Ordnung ist.“
„Ich weiß davon“, sagte Riikka. „Etwas mehr als 20 Menschen jedes Jahr.“
Der Steuermann sah sie überrascht an. „Sie sind doch nicht etwa Polizistin?“
„Bibliothekarin.“
„Na, dann bin ich aber erleichtert. Mein Name ist übrigens Maula Vazquez.“
Sie reichten einander die Hände. Maulas Griff war wie erwartet stark und schwungvoll, doch Riikka hielt dem zerquetschenden Griff stand. „Annika Riikka Paavola“, stellte sie sich vor.
„Ah, eine Finnin?“
Sie nickte. „Vazquez … Ihr Nachname ist spanisch, aber Maula ist afrikanisch, wenn ich mich nicht irre.“
„Sie irren sich nicht“, erwiderte der Kapitän. „Lange Geschichte. Meine Mutter ist als Ärztin von Spanien nach Nordafrika gezogen und hatte sich verliebt.“
„Eine schöne Geschichte“, meinte Riikka.
„Wie man‘s nimmt.“ Maula wiegte den Kopf hin und her, um zu bedeuten, dass er sich nicht ganz sicher war. Dann klatschte er in die Hände. „Doch genug davon! Sie sollten nach drinnen gehen, Riikka. Es ist verflucht kalt hier draußen.“
„Die Kälte macht mir nichts aus. Ich bin sogar gerne hier draußen. In Italien wird es noch warm genug.“
Ein Schatten legte sich auf Maulas Gesicht. „Falls wir dort ankommen.“
„Wie … stimmt etwas nicht?“, fragte Riikka.
Der Steuermann seufzte. „Entschuldigen Sie, eigentlich dürfte ich überhaupt nicht darüber reden. Aber Sie scheinen mir niemand zu sein, der leicht in Panik verfällt oder ähnliches.“
Riikka schwieg dazu. Der Steuermann wandte sich wieder dem Ozean vor ihnen zu. „Tatsache ist, dass vor zwei Tagen die Instrumente an Bord ohne jeden ersichtlichen Grund ausgefallen sind. Wir fahren faktisch blind, es kann ja kaum noch jemand anhand der Sterne navigieren.“
„Irgendwo werden wir schon ankommen“, meinte Riikka.
„Natürlich. Deswegen haben wir auch noch nichts gesagt, immerhin soll unter den Passagieren keine Unruhe ausbrechen. Seltsam ist es trotzdem. Die Systeme sind wie tot. Auf so einem riesigen Schiff läuft zwar immer mal wieder etwas schief, aber für gewöhnlich fällt ein System aus und ist nach ein paar Stunden wieder repariert. Jetzt finden unsere Techniker den Fehler einfach nicht.“
Riikka sah Maula unverwandt an. Der Steuermann seufzte, drehte sich um und klopfte ihr väterlich auf die Schulter, während er sich an den Rückweg zum Schiff machte. „Ich wollte Sie nur warnen, Riikka. Passen Sie auf sich auf.“
Sie sah dem kräftigen Mann nach. Riikka war nicht unbedingt beunruhigt. Der Steuermann hatte sehr ruhig gewirkt, und nicht, als würden sie jeden Moment sinken können. Trotzdem fragte sie sich, warum er ausgerechnet sie hatte warnen wollen.
Nachdenklich drehte sie sich zum Meer um und sah auf die Wellen, die sich am Bug brachen. Sie würde seinen Rat dennoch beherzigen.
Wenig später ging sie unter Deck und packte ihre wenigen Sachen ordentlich in ihren Koffer. Nicht, dass sie viel in der engen Kabine herumliegen gehabt hatte, doch nun steckte sie ihre Kleidung in eine der vielen Plastiktüten, die sie mitgenommen hatte – eigentlich, um Einkäufe zu transportieren. Die zwei Tüten Lakritze, das Glas Moltebeeren und die drei Krimis sowie den Tolino packte sie in eine zweite Plastiktüte und knotete diese fest zu. Immerhin … sicher war sicher.
~*~
„Du siehst müde aus!“, begrüßte ihn Clacy von der Maske, drückte Thomas in einen Drehstuhl und schaltete die Lichter ein, die rings um den großen Spiegel angebracht waren.
Geblendet schloss Thomas die Augen. Irgendwie hatte er sich nach all den Jahren immer noch nicht an diese Lichter gewöhnen können.
Clacy legte ihm die Finger unter das Kinn und zwang ihn, den Kopf zu heben. Wenig später spürte er den Pinsel, mit dem sie helles Puder auf seine Wangen auftrug.
„Du solltest mehr schlafen. Die Augenringe werden immer schwieriger zu kaschieren.“
„Ich weiß, ich weiß.“ Thomas seufzte. „Ich habe im Moment einfach nur ein bisschen Stress.“
„Ich weiß, wegen der Sache mit Baker“, fuhr Clacy fort. „Aber da soll sich der Sender nicht beschweren, immerhin haben sie den Typen durchgewunken.“
Der Besuch des Masters of Desaster Simon Baker war tatsächlich ein kleines Desaster geworden. Dass Thomas dem Wissenschaftler erlaubt hatte, sich lang und breit über diverse mögliche Katastrophen auszulassen, hatte zwar einerseits die Einschaltquoten gehoben, vielen der Stammzuschauer aber nicht gefallen. Noch immer kamen ab und zu E-Mails mit Beschwerden, doch die größte Flut war zum Glück abgeflaut. Dennoch war Thomas zu seinem Chef zitiert worden, dem er den Sendeplatz für „The Golden Talk“ verdankte.
„Die Leute sehen sich deine Show an, weil sie abschalten und sich ablenken lassen wollen. Nicht, um vom Klimawandel und dem Zusammenbruch des Internets zu hören!“, war Thomas vorgeworfen worden. Und sein Chef hatte recht, immerhin war es Thomas‘ vorrangigstes Ziel, die Menschen zum Lachen zu bringen. Sie von den Alltagssorgen abzulenken, wenigstens für die eine Stunde am Freitagabend von 18 bis 19 Uhr.
Clacy trug nun auch den matten Lippenstift auf, der sich heute mehr als sonst wie eine Maske anfühlte. Für gewöhnlich liebte Thomas seinen Job, er liebte die Show, aber heute würde er sich wirklich zusammenreißen müssen, um seine übliche, fröhliche Rolle zu spielen.
Er erhob sich aus dem Stuhl.
„Noch fünf Minuten!“, rief ihm Lars zu, Cheftechniker und Thomas‘ bester Freund. Er klopfte Thomas auf die Schulter, als dieser an ihm vorbei ging. „Halt die Ohren steif.“
Thomas wartete, verborgen vom Publikum, auf die Titelmelodie seiner Show. Als sie schließlich erklang, trat er nach draußen und hörte tosenden Applaus, wie schon seit Jahren.
„Danke, Danke!“ Er konnte wegen der auf die Bühne gerichteten Scheinwerfer nicht viel sehen, winkte den Anwesenden aber mit einer Selbstverständlichkeit, als wäre jeder von ihnen ein alter Freund, den er wiedertraf.
„Ich bin Thomas Goldschmidt, herzlich Willkommen zur heutigen Folge von ‚The Golden Talk‘. Bitte begrüßen Sie mit mir meinen Gast des heutigen Abends …“
~*~
Mit schnellen, zielstrebigen Schritten durchquerte Keelan die große Halle, die dank der vielen Koffer und Menschen einem Hindernisparcours glich. Mit geübtem Blick scannte sie dabei die vielen Schilder und suchte unter den kursiv gedruckten Übersetzungen der Schilder nach dem Hinweis auf die Gepäckabgabe. Es dauerte nicht lange, bis sie das Symbol entdeckte, Koffer, die auf einem Rollband befördert wurden. Eilig schlug sie die Richtung ein und folgte einem endlos langen Flur, dessen eine Front nahtlos mit riesigen Fensterscheiben bedeckt war, die ihr einen Blick auf die Rollbahnen und die wartenden Maschinen boten.
Keelan Clarkson hatte keinen Blick übrig für die gigantischen Flugzeuge, denn in ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Sie war nicht begeistert davon, zu ihren Eltern nach Dublin zurückkehren zu müssen, aber weiterhin mit Ethan zusammenwohnen wollte sie natürlich auch nicht und eine eigene Wohnung konnte sie sich nicht wirklich leisten. Die eine Woche seit der Trennung war schon schlimm genug gewesen, obwohl Ethan ihre Offenbarung, dass sie sich für eine Ehe noch viel zu jung fühle, erstaunlich gut aufgenommen hatte. Trotzdem, es war ein seltsames Gefühl gewesen, einander jeden Tag in der Küche oder im Bad zu sehen, allein in dem großen Doppelbett zu liegen, während Ethan die Nächte auf dem Sofa im Wohnzimmer verbrachte. Das hatte ihr nur klar gemacht, wie nah sie dem langweiligen Leben als verheiratetes Paar schon gewesen waren, vor dem Keelan sich immer gefürchtet hatte. Den ganzen Tag arbeiten, zuhause nur ein paar Worte wechseln und dann ins Bett fallen, ohne einander auch nur zu berühren … sie und Ethan hatten sich einfach nichts mehr zu sagen gehabt, und so hatte sie vor etwas mehr als einer Woche den endgültigen Entschluss gefasst, dass es so nicht weitergehen konnte.
Sie hatte das Ende des langen Flurs erreicht, wo sich zwei silberne Aufzugstüren befanden. Keelan zog ihren schweren Koffer allerdings zur Treppe daneben und hetzte keuchend die Stufen hinauf. Sie war gestern noch lange wach gewesen und hatte unbedingt ihr aktuelles Kapitel beenden wollen – wohl wissend, dass sie heute alles neu schreiben würde – und deswegen verschlafen. Jetzt war sie eine Viertelstunde zu spät dran, doch glücklicherweise war die Schlange am Schalter nicht besonders lang. Keelan stellte sich hinten an und strich sich das gewellte Haar hinter die Ohren. Sie versuchte, ihren Atem zu beruhigen, denn schon die kurze Treppe hatte sie völlig außer Atem gebracht. In Sport war sie eben schon immer eine Niete gewesen, trotz ihrer zierlichen Figur und des sportlichen Kleidungsstils.
Sie wartete geduldig, bis sie an der Reihe war und ließ von ihrer Nervosität nichts nach außen durchschimmern. Endlich trat sie vor und platzierte ihren Koffer auf der Waage. Gleichzeitig übergab sie der jungen Dame am Empfang ihr Flugticket.
Verdacht schöpfte Keelan erst, als die Frau die Stirn in Falten legte und das Ticket mit einem zweiten, aufmerksameren Blick bedachte.
„Verzeihung, Miss, aber Ihr Flug wurde storniert.“
„Storniert?“, wiederholte Keelan.
„Ja, das steht überall auf den Tafeln“, berichtete die Frau mit einem defensiven Tonfall, als würde sie erwarten, dass Keelan sie anbrüllen würde. Tatsächlich hätte Keelan das gerne getan, doch nicht mit den ganzen Anstehenden in der Schlange hinter ihr. Außerdem war ihr bewusst, dass die junge Bedienstete wohl kaum an der Stornierung schuld war.
„Seit wann ist der Flug storniert? Und wann geht der nächste?“, fragte sie deshalb. Sie dachte an den Preis, den sie für das Ticket bezahlt hatte. „Kriege ich mein Geld zurück?“
„Der nächste Flug nach Dublin geht erst wieder in einer Woche“, teilte die Frau ihr mit. „Aber da der Flug sehr kurzfristig storniert wurde, können Sie kostenlos eine Alternative in Anspruch nehmen. Gehen Sie zur Information, dort wird man Ihnen weiterhelfen.“
Keelan wuchtete ihren Koffer von der Waage und fluchte innerlich. Trotzdem tat sie wie geheißen, stieg die Treppe hinunter, folgte dem langen Flur und suchte in der Eingangshalle den Informationsschalter. Dort wurde ihr tatsächlich geholfen, der ältere Mann am Schalter suchte ihr einen Flug heraus, der zuerst nach Berlin in Deutschland und von dort weiter nach Dublin führen würde. Er buchte Keelan ohne Aufpreis um. Sie war ziemlich überrascht.
„Der Flug nach Berlin geht noch heute Abend, aber da ein Passagier kurzfristig von dem Flug zurückgetreten ist, kann ich Sie da noch unterbringen. In Deutschland werden Sie allerdings einen Aufenthalt von 39 Stunden haben, ehe der nächste Flug nach Dublin geht. Das ist immer noch die beste Verbindung, die ich Ihnen anbieten kann.“
Ich werde das schon irgendwie schaffen, dachte sich Keelan, nahm ihr Flugticket in Empfang und marschierte daraufhin zum Wartebereich, wo sie sich einen Kaffee holte und ihre Eltern anrief, um ihnen die ganze Misere zu schildern.
~*~
„Seth, wir müssen reden.“
Enilas Worte lösten einen tosenden Sturm in seinem Kopf aus. Unzählige Stimmen riefen durcheinander und Seth spürte einen Druck in der Magengrube, als ob sich eine Faust um seine Eingeweide schließen würde.
Jetzt ist es so weit, dachte er. Enila hält es mit mir nicht mehr aus, kein Wunder, und sie will gehen.
Sie saß am Küchentisch und wartete, bis er sich auf den Stuhl ihr gegenüber setzte. Ihr ernstes Gesicht ließ ihn das schlimmste befürchten und er wappnete sich innerlich. Soweit man sich dafür wappnen konnte, in nächster Zukunft das Herz in der Luft zerfetzt zu kriegen.
Sie hatte noch immer ein blaues Auge. Und auch ihre Lippe war noch immer aufgeplatzt. Enila trug, genau wie die kleine Wohnung, die Spuren von Exodus‘ Ausbruch.
„Ich habe mit meinen Eltern gesprochen“, begann Enila leise. „Sie wollen, dass ich zu ihnen gehe. Wenigstens für ein paar Wochen.“
Seth starrte auf den Tisch und schwieg. Er knibbelte an einem Splitter im Holz der Tischplatte herum.
Enila beugte sich vor und ergriff seine Hände. „Ich liebe dich, Seth. Ich gehe nicht lange fort, nur eine Weile. Du verstehst mich doch, oder?“
„Natürlich verstehe ich dich.“ Seine Stimme klang heiser. Er wollte nicht, dass sie ging, aber im Grunde wusste er, dass sie gehen musste. Exodus hatte sie angegriffen, um sie zu verängstigen. Seth konnte nicht sagen, wie lange es dauern würde, bis seine neuste Persönlichkeit es nicht länger bei Drohungen belassen würde. Der Gedanke, dass Enila etwas zustoßen könnte, dass er daran schuld sein würde, war unerträglich.
Noch unerträglicher als die Zeit, die er ohne sie würde verbringen müssen.
Als Enila ging, zwei Tage später, fühlte Seth sich immer noch beschissen. Er winkte seiner Freundin, die unten auf der Straße in ein Taxi stieg, vom Flur im dritten Stock aus, dann kehrte er zurück in die nun leere Wohnung. Sie hatten aufgeräumt, aber in einer Ecke stapelten sich zerbrochene Stühle und zerschnittene Kissen, die noch auf den Sperrmüll mussten. Sowie ein Mülleimer mit kaputtem Porzellan. Exodus war schon beinahe gründlich gewesen.
Seth wusste, dass die Eagles heute spielten. Also schaltete er den Fernseher ein, ignorierte die Nachrichten und die Werbeeinblendungen und holte vorbereitend Bier aus dem Keller, Chips aus der Küche und zwei Tütchen mit weißem Pulver aus dem doppelten Bode der Schublade seines Nachttischschränkchens. Er verpasste die ersten paar Minuten vom Spiel, bevor er endlich auf dem Sofa saß, die Füße auf das Beistelltischchen legte und den angefeuchteten Finger in beide Tütchen drückte, um das Pulver abzulecken.
Langsam kehrte Ruhe in seinem Kopfkarussell ein. Set und Setting passten offenbar, denn MDMA und Kokain konnten sich auch gegenseitig aufheben und einen ohne Vorwarnung vor den D-Zug des nächsten Alptraums setzen, an die Schienen gefesselt und alles. Doch das wäre ihm sogar egal gewesen. Endlich konnte er sich selbst wieder denken hören. Seth öffnete die erste Bierdose. Das Zischen war wie Musik in seinen Ohren.
Ein paar Stunden der Realität dieser Scheißwelt entfliehen, das war doch nicht zu viel verlangt.
Offenbar schon, denn mit einem leisen „Zapp!“ wurde der Bildschirm plötzlich schwarz.
Einige Sekunden starrte Seth sein Spiegelbild an, das genauso in den Arsch gefickt aussah, wie er sich fühlte.
Dann beugte er sich vor und griff nach der Fernbedienung. „Komm schon, du Mistding.“
Der Fernseher reagierte nicht. Seth stand mühsam auf und kontrollierte den Stecker. Nein, das Gerät war noch im Strom. Trotzdem zog Seth den Stecker raus, setzte ihn wieder ein.
Nichts.
Doch die Lampe im Zimmer funktionierte noch, wie Seths nächster Test bewies. Obwohl die alte Glühbirne ziemlich stark flackerte, doch das hatte sie schon vorher getan. Es war also kein Stromausfall.
Seth fluchte erneut. Da stand er jetzt, eine halbleere Dose Bier in der Hand, und sein Abendprogramm ging den Bach runter.
„Verdammte Scheiße!“, brüllte er und trat gegen den TV-Tisch, woraufhin der Fernseher darauf gefährlich wackelte. Seth atmete tief durch, trank die Bierdose leer, deren Inhalt mit einem Mal weniger kühl, erfrischend und köstlich schmeckte, und wankte zum Sofa, um sich neues Pulver auf den Gaumen zu reiben. Die Glücksgefühle waren jedoch verflogen. Als wäre ein kalter Windhauch durch die Ritzen in Seths Schädel gepfiffen und hätte sie weggeblasen. Frustriert überlegte er, was er tun sollte. Einen Film gucken? Doch auch der DVD-Spieler war ausgegangen. Seth schlurfte zum PC. Doch auch der Computer ließ sich nicht hochfahren.
„Das kann doch nicht wahr sein“, murmelte er wütend.
Ein kurzer Rundgang zeigte, dass auch die Playstation, sein Handy und die Funkuhr in der Küche betroffen waren. So langsam wich Seths Wut einer unterschwelligen Besorgnis, denn das konnte ja kein Zufall sein. Vielleicht war es allerdings auch nur die Wirkung des Speeds, die ihn runterfuhr.
Er ging zum Telefon und wählte Enilas Nummer. Sie war vermutlich noch nicht einmal am Bahnhof – wobei, was erhoffte er sich? Dass sie zurückkam, nur, weil ihm langweilig werden könnte? Nein, so verweichlicht war er nicht.
Ehe er sich entschließen konnte, sie doch nicht anzurufen, hatte er bereits gewählt und hörte ein monotones Tuten. Der Rufaufbau kam nicht einmal zustande.
Was im Umkehrschluss hieß, er konnte niemanden anrufen, hatte kein Internet und auch keinen Zugang zu den Nachrichten. Er war abgeschnitten von der Welt.
~*~
Ihre Welt war schwarz und besaß nichts außer dem Stimmen, die gedämpft an ihre Ohren drangen. Keinen Boden. Kein Gefühl von Wind auf der Haut. Keinen Geschmack oder Geruch.
Sie konnte sich bewegen, auch wenn ein schwacher Widerstand ihre Muskeln bremste, die rennen, springen, schlagen wollten. Sie verharrte in diesem Zustand, schon eine Ewigkeit lang.
„Hallo, meine Kleine.“
Sie drehte blind den Kopf, um auf die Stimme zu lauschen. Von den drei Stimmen war ihr diese die liebste. Sie war sanft und freundlich, liebevoll.
„Heute ist ein großer Tag. Freust du dich?“
Sie gab natürlich keine Antwort. Schwerelos trieb sie dahin, völlig losgelöst von allem.
„Na, erzählst du ihr wieder Märchen?“, fragte eine andere Stimme hämisch.
Sie ballte unwillkürlich die Hände zu Fäusten. Diese Stimme mochte sie nicht.
„Das geht Sie nichts an“, erwiderte die erste Stimme ruhig. „Und es ist immer noch ein Mensch da drin.“
„Pah, vielleicht noch zu fünfzig Prozent“, knurrte die zweite Stimme. „Können wir dann loslegen?“
„Sofort!“, sagte die erste Stimme wieder. „Die Simulation ist gleich fertig geladen.“
„Prima.“ Unverhohlene Ungeduld lag in der zweiten Stimme. „Wird ja auch Zeit.“
~*~
Samuels Blick war etwas ganz eigenartiges. Jedes Mal, wenn er dem Ältesten gegenüberstand, fühlte sich Ruben, als ob Samuel bis auf den tiefsten Grund seiner Seele blickte und die dunkelsten dort vergrabenen Geheimnisse offenlegte. Er wusste garantiert auch von der Blutwurst, die er sich letztens nach der Runde mit Daniel gekauft hatte, und dieses Wissen ließ Ruben noch stärker schwitzen als er ohnehin wegen der Hitze im überfüllten Königssaal schwitzte. Und dabei war er eben erst eingetreten!
„Willkommen!“, begrüßte ihn Samuel und legte die Hände sanft an Rubens Oberarme. Wie immer strahle der Älteste Ruhe und Sanftmut aus, wofür Ruben ihn sehr bewunderte. Doch der wache Blick aus diesen grauen, scharfen Augen rief ihm im gleichen Moment alle seine Sünden vor Augen.
„Danke“, sagte er und hoffte, dass seine Stimme nicht zitterte. Samuel richtete den Blick von Ruben weg und auf Ester, die ihm auf den Fuß folgte. Der Älteste begrüßte auch Rubens Frau, genauso wie alle anderen, die nach und nach in die kleine Halle strömten.
Ester hakte sich bei Ruben unter und sie suchten zwei Sitzplätze. Ruben entdeckte Daniel, der ihm winkte, doch leider war kein Platz mehr in der Nähe seines besten Freundes frei. Stattdessen fanden Ruben und Ester zwei Stühle am Rand der dritthintersten Reihe.
Es dauerte nicht mehr lange, bis der Zustrom versiegte. Alle Zeugen waren eingetroffen, was der Anlass für Samuel und die restlichen Ältesten war, die kleine Holzbühne zu betreten und das Wort zu ergreifen. Wie jedes Mal begannen sie mit einer Fürbitte für die sündige Welt. Ruben merkte allerdings, dass der Älteste die Worte stärker betonte als sonst – was schon einiges zu bedeuten hatte. Irgendwie lag eine Aura von Dringlichkeit in den Zeilen. Rubens Eindruck wurde bestätigt, als der Älteste sich nach der Fürbitte an die Gemeinde richtete:
„Liebe Gemeinde, bei der heutigen Versammlung müssen wir einige schwere Themen ansprechen.“
Ruben tauschte einen überraschten Blick mit Ester. Beide ergriffen einander an den Händen.
„Es gibt einige beunruhigende Berichte“, fuhr der Wortführer fort. „Kriege, Katastrophen, Unglück, Mord … das alles kennen wir von dieser sündigen Welt, doch nun geschieht etwas neues. Große Reiseschiffe verschwinden spurlos von den Radaren, die Technik der Sündigen versagt. Ihre Wissenschaftler können es sich nicht erklären, doch wir – wir wissen, was geschieht. Auf der ganzen Welt häufen sich unerklärliche Vorkommnisse, und das kann nur eines bedeuten: Das erste Siegel wurde gebrochen.“
Ester klammerte sich so fest an Rubens Hand, dass es weh tat, doch er hinderte sie nicht daran, spürte es kaum. Eine Mischung aus Euphorie und Angst durchflutete ihn, so heftig, dass er kaum atmen konnte.
Das erste Siegel! Die Apokalypse! Rubens erster Gedanke war: Endlich! Sie hatten recht gehabt! Das Ende der Welt nahte wirklich – und natürlich hatte er niemals daran gezweifelt, aber trotzdem war diese Bestätigung unglaublich, das Wissen, dass die ganze Welt das Ende bald sehen würde, dass die ganze Welt glauben würde.
Dann holte ihn die Realität ein, was das bedeutete. Das Ende der Welt. Tod, Vernichtung, Leid und Elend. Die vier Reiter. Ein Kampf, der die Grundfesten der Erde erschüttern würde.
Angst überflutete ihn, spülte durch sein Bewusstsein als schwarze Masse, wirbelte seine Gedanken durcheinander, während am Horizont ein einziger Leuchtturm stand und leuchtete: Gott wird uns retten, Gott liebt uns. Wir sind die Auserwählten, die ins Paradies eingehen werden.
„Unsere Aufgabe, Menschen zu retten und auf den Wahren Weg zu führen, ist damit umso dringlicher geworden.“ Nun sprach Samuel zu der Versammlung. „Uns bleibt vielleicht nicht mehr viel Zeit – aber womöglich wird diese Katastrophe sich auch über Wochen, Monate, Jahre hinziehen und uns alle auf eine furchtbare, letzte Probe stellen. Unsere Experten überall auf der Welt sind noch dabei, das auszurechnen. Bedenkt, Brüder, dass dies nur noch die letzte Hürde sein wird. Wir müssen stark sein, stark im Glauben, stark für einander und stark im Handeln. Verbreitet Sein Wort, geht auf die Straßen, warnt die Ungläubigen, auf dass einige von ihnen vielleicht doch noch das Licht sehen werden. Dies ist unsere heilige Aufgabe.“
Samuel atmete tief durch. Ruben bemerkte, dass die Hände des Älteren zitterten. „Und nun, liebe Brüder und Schwestern … lasst uns beten.“
Ruben atmete tief durch. Er merkte, dass er Esters Hand losgelassen hatte. Er suchte die Gesichter der Umstehenden nach Daniel ab und entdeckte seinen besten Freund mit blassem Gesicht in der Menge.
„Vater ich habe gesündigt in Gedanken, Worten und Werken, aber sie sind mir alle herzlich leid und reuen mich sehr …“
Den Rest der Versammlung bekam Ruben kaum mit. Nach dem Schuldbekenntnis folgten noch Bibelworte aus der Offenbarung. Samuel und die anderen Ältesten beantworteten danach Fragen, beratschlagten mit den Anwesenden, was zu tun sei und in welcher Reihenfolge. Viele kündigten an, ihre Jobs aufzugeben, um mehr Zeit für das Missionieren zu haben.
Ester stieß Ruben an und zischte. „Willst du vielleicht weiter Autos zusammenschrauben und Zeit damit vergeuden?“
Also schloss sich Ruben jenen an, die ihre Arbeit kündigen wollten. Er hatte diesen Job sowieso nicht gemocht.
„Und wohin willst du gehen?“, fragte Samuel ihn darauf.
„Ich weiß nicht … die Hauptstraße?“ Ruben zuckte mit den Schultern. Vor seinem Inneren Auge sah er das Schild der Metzgerei mit den köstlichen Blutwürsten. Ja, so eine würden seine Nerven dringend brauchen. Oder würde er sich damit endgültig den Weg ins Paradies versperren?
Das Ende der Welt! Es fühlte sich so unwirklich an, und doch war es nun bald so weit.
~*~
Während sie durch die Straßen schlenderte, die Hände in den Hosentaschen vergraben und die große, dunkelblaue Sporttasche über der Schulter, konnte sie nicht verhindern, dass ihre Gedanken sich Rin zuwandten.
Rin … eigentlich Katharina. Die Art, wie das Mädchen sich vorgestellt hatte, geisterte der jungen Frau immer noch im Kopf herum. Unwillkürlich tastete sie nach der Kette um ihren Hals, die kupferfarbene Nachbildung einer Patronenhülse. Ein Andenken. Hohl, wie die neue Trägerin inzwischen wusste. Rin hatte darin einen eng zusammengerollten Zettel mit einem kleinen, handschriftlichen Gedicht verwahrt, dessen Zeilen klein und ordentlich aufgeschrieben worden waren. Ein richtiges Kunstwerk.
Caprice hatte das Gedicht behalten. Ja, es förmlich verwahrt. Zuerst war ihr die Kette nur wie eine Trophäe erschienen, nachdem sie erfolgreich vor zwei wütenden Mädchen und später vor der hinzugerufenen Polizei geflohen war. Es war keine richtige Verfolgungsjagd gewesen, eher ein Versteckspiel. Räuber und Gendarm. Und Caprice war sehr gut darin, sich zu verstecken. Sie hatte ihre Tasche erreicht und die Stadt verlassen. Niemand hatte sie auf den Dächern gesucht.
Später erst war ihr beim Betrachten der Kette klar geworden, dass sie Rin nicht ‚einfach nur interessant‘ gefunden hatte. Sondern süß. Sie hatte sich ehrlich zu ihr hingezogen gefühlt und gerne mehr Zeit mit ihr verbracht. Wäre sie bloß nicht aufgeflogen!
Inzwischen verfluchte sie sich dafür, Rin eine Fake-Nummer gegeben zu haben. Das wäre natürlich ein Risiko gewesen, falls Rin mit der echten Nummer zur Polizei gegangen wäre, aber so hätte die Hoffnung bestanden, dass sie einander wiedersehen würden.
Der Wind war kalt und erste Regentropfen trafen ihre Stirn. Die Blondine hob den Kopf und bemerkte das Neonschild eines Internetcafés ganz in der Nähe.
Unwillkürlich lächelte sie. Sie liebte diese Orte!
Ohne zu überlegen trat sie durch die Tür und buchte einen Rechner für eine Stunde. Die Preise waren richtige Wucher, aber dafür konnte sie auf einer weichen Sitzbank sitzen, durch Trennwände von allen Seiten geschützt, und eine Stunde lang recht sorglos googlen, ohne die Angst, dass man ihre Suchergebnisse irgendwo bemerken und verfolgen würde.
Caprice zog einen zerfledderten Notizblock aus der Jackentasche und recherchiere ein wenig – über Tollkirsche, Fleckenhalsotter und schließlich über den Bau von Sprengsätzen – ehe ihre Finger bei der Suche nach der Patronenhülse um ihren Hals auf einen anderen Widerstand stießen.
Den Stick trug sie immer unter dem T-Shirt, an einer dünnen Silberkette befestigt. Nun nahm sie die Kette ab und steckte das Gerät in den PC. Wenig später öffnete sie das Dokument, das sie gesucht hatte.
„Zwei Seiten des Mondes – Teil 1: Hinein in die Schatten“
Caprice seufzte. Eine unsichtbare Spannung schien von ihr abzufallen und sie streckte verträumt die Hand aus, um mit den Fingern über den Namen der Autorin zu streichen: Rin Morgan.
Ein Künstlername, vermutete sie. Caprice streckte die Zunge in den Mundwinkel und beugte sich vor, um zu lesen. Ein Bein hatte sie inzwischen auf die Bank gezogen und unter die Kniekehle des anderen geklemmt. Sie wippte beim Lesen leicht auf und ab und ihre Augen flogen nur so über die Seiten.
„Verdammt, Rin!“, hauchte sie. „Du schreibst gut!“
Erneut trat ein leiser Hauch von Wehmut in ihre Augen, während sie Seite um Seite verschlang. Dieser verschwand jedoch, als ihr jemand auf die Schulter tippte.
Caprice zuckte zusammen und riss den Kopf herum. Neben ihr stand ein hagerer Mann, Marke Oberschullehrer: Braunes Hemd, karierte Wollweste, eckige Brille auf der vorspringenden Nase. „Verzeihen Sie … Ihre Zeit ist abgelaufen und ich habe den Tisch jetzt gebucht.“
„Oh.“ Caprice spürte, wie ihr Nacken kribbelte. Orientierungslos sah sie auf die Uhr. Sie hatte die Zeit ganz vergessen! Eilig riss sie den Stick aus dem PC und sprang auf, raffte die verteilten Utensilien zusammen – das Notizbuch, den Stift, mit dem sie ihre Erkenntnisse aus dem Internet abgeschrieben und auf dem sie später beim Lesen herumgekaut hatte, die Kette für den Stick, ein Stück Alufolie von irgendeiner weitzurückliegenden Mahlzeit, mit dem sie ebenfalls unbewusst gespielt haben musste …
„Oh, bitte nicht so eilig, ich habe Zeit.“ Beschwichtigend hob der Mann die Hände und lächelte. „Ich habe zufällig ein wenig Ihres Textes gelesen. Die Vampirgeschichte. Sind Sie die Autorin?“
„Ich, oh …“
„Es war nicht meine Absicht, mitzulesen, doch ich konnte mir nicht helfen, und daraufhin war ich wie gefangen. Ein einzigartiger Text!“
Caprice zwang sich zu einem Lächeln und reichte dem Mann die Hand. „Kein Problem! Rin Morgan – eigentlich Katharina. Ich wollte ein wenig Korrekturlesen und muss die Zeit vergessen haben.“
Erfreut nahm der Mann ihre Hand und schüttelte sie. „Ein glücklicher Zufall für uns beide. Ich arbeite in einem Verlag – Blutmond Verlag, vielleicht haben Sie davon gehört.“
„Oh, das habe ich tatsächlich!“, log Caprice lächelnd. „Sie haben doch auch diese eine Geschichte veröffentlicht … wie war noch gleich der Name? Verdammt, ich habe das Buch verschlungen und nun fällt es mir nicht ein. Eine Vampirgeschichte, Gay Romance, …“
„Night Servant?“, riet der Mann.
„Exakt!“, rief Caprice aus. „Das hat mich in vielen Teilen inspiriert – darf ich das so sagen?“ Sie kicherte. „Ich habe keine Fanfiktion oder so geschrieben, aber die Themen der Geschichte …“
„Oh, ich habe genug gelesen, um von deinen – ich darf dich doch Duzen – von deinen Fähigkeiten überzeugt zu sein.“ Caprice erhielt ein weiteres Lächeln von dem Mann und eine Visitenkarte, die er ihr in die Hand drückte.
„Lars Meyer-Freifels“, las sie.
„Ganz recht. Ich würde mich freuen, wenn du deinen Roman einschicken könntest.“
Sie lächelte Lars bezaubernd an. „Er ist noch nicht ganz fertig. Aber ich denke, in einigen Wochen werden Sie von mir hören.“
„Das hoffe ich doch!“, sagte Lars und reichte ihr zum Abschied erneut die Hand. „Sie haben Talent, Rin Morgan.“
Caprice lächelte immer noch. „Vielen Dank!“
Erst, als sie auf der Straße stand, verblasste ihr Lächeln. Sie zog den Stick wieder auf die Kette und hängte ihn sich um, dann verstaute sie den Notizblock und das Stück Alufolie. Die Straßen waren nass, es musste zwischendurch geregnet haben. Caprice marschierte los und ließ das Café hinter sich zurück, während sie gedankenverloren die Visitenkarte betrachtete.
Sie wurde erneut aus ihren Gedanken gerissen, als sie einen dunklen Schatten vor sich bemerkte. Wie angewurzelt blieb sie stehen, denn an der Kreuzung direkt vor ihr fuhren mehrere Fahrzeuge mit Camouflagemuster in einer langen Reihe hindurch. Die Ampel blinkte und war offensichtlich pausiert worden, damit der Zug unbehindert durch die Stadt kam.
Caprice steckte die Karte ein und schluckte. Ihre Arme versteiften sich. Militärfahrzeug um Militärfahrzeug kreuzte die Straße vor ihr, eine schier endlose Reihe. Ein Brummen ließ sie den Blick in den Himmel heben, wo ein Flugzeug vorbeiglitt, ein niedrig fliegendes Militärflugzeug der Bundeswehr.
Ihr Blick huschte die Straße hinauf und hinab, dann schulterte sie die Tasche und ging mit schnellen Schritten und gesenktem Kopf in die Richtung zurück, aus der sie gekommen war. Die ganze Zeit über kaute sie nervös auf der Unterlippe.
Sie hatte sich ablenken lassen. In ihrer Wachsamkeit nachgelassen. Ein gefährlicher Fehler.
~*~
Mit einem Stöhnen wie ein sehr alter, sehr großer Drache, der sich mühsam aus dem Halbschlaf erhebt, um die mutig in seine Höhle vorgedrungenen Wanderer zu verspeisen, legte sich das große Schiff auf die Seite.
Die Maschinen rollten und stampften. Als Riikka die Hand an die Wand legte, um sich abzustützen, spürte sie im Inneren etwas vibrieren. Ein Stahlträger, vermutete sie.
Die kleine Kabine kippte hin und her, als würden zwei Kinder an beiden Seiten sitzen und wippen. Riikka klammerte sich an den Pfosten des Eisenbettes und schaffte es nicht, auch nur einen Fuß zu bewegen. Sie war nicht der Typ, um seekrank zu werden, aber inzwischen verspürte auch sie ein flaues Gefühl im Magen.
Der heftige Wellengang hatte sie eben erst aus dem Schlaf gerissen, weil der Sturm sie Kopf voran gegen die Wand geworfen hatte. Noch immer orientierungslos stand Riikka wie angewurzelt in ihrer Kabine.
Das ist ein Traum, dachte sie und blinzelte. Ich träume bestimmt.
Irgendwo erklang ein schriller Schrei. Draußen, auf dem Gang vor ihrer Tür, hörte sie das Prasseln eiliger Schritte, einen dumpfen Aufprall und atemloses Keuchen, aber keine Rufe.
Wieder legte sich das Zimmer auf die Seite. Der Koffer rutschte unter dem Bett hervor und stieß gegen Riikkas Schienbein. Der Schmerz holte sie in die Realität zurück. Es war, als hätte sie bis eben die Luft angehalten, als würde ihr Herz erst in diesem Moment wieder in seinen Rhythmus einsetzen, eilig, wie, um die verlorene Zeit einzuholen.
Riikka löste die Hand von der Wand, während sie sich trotzdem immer noch am Bett festklammerte, und packte den Koffergriff.
Wie gut, dass Maula Vazquez sie gewarnt hatte, dachte der nüchterne Teil ihres Gehirns, der die ganze Szene zurückgelehnt auf dem Sofa verfolgte und sich Popcorn einwarf. Riikka sah sich, den Koffer in der Hand, suchend um. Sie sollte die Sicherheit des Bettes nicht verlassen, doch das laute Knirschen, das sie hörte, und das brutale Rumpeln des Schiffes machte ihr klar, dass sie nicht weiter zögern durfte.
Sie stieß die Tür auf und sah die Menschenmengen auf dem Gang, eine kopflose Masse, die rempelte, stieß und taumelte. Riikka würde lieber in ein Becken voller Piranhas springen als sich in diese Menge zu mischen, doch es gab keinen anderen Weg. Sie packte den Koffer noch einmal fester, dann ließ sie die Stange des Bettes los, ihren an die Wand geschraubten Halt, und trat vorwärts.
Sofort wurde sie von der Menge erfasst und mitgerissen wie von einer Flut – nein, wie von einer Gerölllawine. Ellbogen und Schultern trafen sie überall, malträtierten sie, pressten ihr die Luft aus den Lungen. Beine trafen vor, unter, neben ihren Koffer, sogar darauf, und immer wieder fiel ein Gewicht gegen ihren Arm. Mehr als einmal glaubte sie, loslassen zu müssen, wenn sie sich den Arm nicht brechen wollte. Mehr als einmal spürte sie unter ihren Schuhen plötzlich nicht mehr den harten Boden, sondern weichen Widerstand, aber sie konnte nichts tun, um den Gefallenen zu helfen. Mehr als einmal streifte ihr Blick weit aufgerissene Münder und Augen, schrie man ihr ins Ohr, flehte, bettelte, strafte, wütete jemand mit einem einzigen Blick in ihre Seele.
Dann ging es stolpernd Stufen hinauf, Riikka trat ins Nichts, wurde von den Nebenmännern emporgetragen, weil sie sich an einen Rücken klammerte, und dann … dann ließ der Druck mit einem Mal nach und sie stand völlig verloren auf einem glatten, rutschigen Stahldeck, das sich neigte wie das Geduldsspiel eines Riesen, der die kleine Kugel endlich in das vorgesehene Loch bringen wollte.
Sie fiel und rutschte auf einen Mast zu, warf sich auf den Bauch und erwischte mit den Händen ein Netz. Jemand trat gegen ihre Schulter, sie drehte den Kopf und sah eine junge Frau weiter rutschen, fast noch ein Mädchen. Es suchte verzweifelt Halt an Deck und plötzlich … plötzlich war da nur noch Schwärze und die gezackte Linie, wo das gesplitterte Schiff einfach aufhörte.
Ich hätte einfach nur die Hand ausstrecken müssen, um sie zu retten, schoss es Riikka durch den Kopf. Wäre sie doch nur schneller gewesen. Und – sie stellte fest, dass sie den Koffer immer noch mit der Hand umklammert hielt, die sie gebraucht hätte, um das Mädchen festzuhalten.
Verdammtes Ding. Was war so ein Koffer schon wert? Einen Moment lang wollte sie ihn von sich schleudern, aber dann konnte sie es doch nicht. In diesem Koffer war alles, das letzte bisschen Ordnung, das überdauert hatte, während die ganze Welt um sie her einen wahnsinnigen Tanz direkt aus der Hölle tanzte.
Salzwasser schlug ihr ins Gesicht. Sie spuckte aus, hustete und zog sich näher an den Mast, als das Schiff einen Moment lang in eine günstige Richtung schwankte. Sie sah sich um, und da hörte sie eine Stimme rufen:
„Hier! Hierher, Leute! Zum Rettungsboot!“
Sie hob den Blick und entdeckte Maula, der direkt neben einem der Rettungsboote stand und den Flüchtenden hineinhalf.
Maula! Rettung!
Sie sprang auf und eilte vorwärts, doch eine neuerliche Welle warf das Boot hoch und sie wehrlos auf den Boden.
Werde ich auch ins Meer fallen, wie das Mädchen?, fragte sich Riikka, während sie über das Deck glitt.
Dann bremste ein plötzlicher Ruck sie aus.
Sie hing am Koffer. Der Koffer hing an irgendeinem Splitter der Reling, ein Rad hatte sich hinter einer Metallstange verkeilt, sodass der Koffer nicht länger rutschen konnte.
Riikka drehte den Kopf zur Seite. Der Sturz hatte sie auf irgendeine Weise näher an Maula herangebracht. Sie müsste nur aufspringen, einen guten Moment abpassend, und es wäre ein kurzer Sprint zum Rettungsboot.
Sie klammerte sich an die geborstene Reling und ruckte am Koffer.
Er saß fest. Stoßen könnte sie ihn, aber dann würde er ins Meer fallen. Riikka zögerte. Sah zum Rettungsboot und wieder zum Koffer.