„Ich bin Thomas Goldschmidt, herzlich Willkommen zur heutigen Folge von ‚The Golden Talk‘. Bitte begrüßen Sie mit mir meinen heutigen Gast …“
Thomas hörte, wie das Publikum die Luft anhielt. Es war die erste Sendung nach dem Desaster mit Simon Baker, für Thomas stand viel auf dem Spiel. Deswegen hatte er jemanden eingeladen, dessen Name immer wieder fiel, wenn man über den Moderator Thomas Goldschmidt sprach. Jemand, den sogar die Zuschauer immer mal wieder verlangten, weil man von ihm scheinbar nicht genug bekommen konnte. Thomas‘ Vorbild, das zu interviewen schon immer sein Traum gewesen war. Heute würde er sich diesen Traum erfüllen und im gleichen Zug hoffentlich seine Karriere retten. Doch ein bisschen spielte vielleicht ein gewisser Fatalismus in die Entscheidung hinein. Vielleicht war heute die letzte Chance, sein Idol vor der Kamera zu treffen. Und die musste er einfach nutzen, komme, was wolle.
Thomas merkte, dass alle ihn anstarrten. Lars, der Cheftechniker, warf ihm einen fragenden Blick zu und kreiste mit der einen Hand. ‚Rede!‘, bedeutete diese Geste von Thomas‘ engstem Freund.
Er richtete die Hand auf den Durchgang, atmete tief durch und verkündete: „Meine Damen und Herren – er ist eine Legende des Fernsehens. Nicht zuletzt für mich persönlich ist es eine unglaubliche Ehre, diesen außergewöhnlichen Mann heute hier zu haben. Einen mächtigen Applaus für … Thomas Gottschalk!“
Der Gast trat aus dem Schatten hinter dem Bühnenbild und kam im Licht der Scheinwerfer auf Thomas zu. Doch aus dem Zuschauerraum kam nur Stille. Als wäre das Publikum im Schatten tot.
Gottschalk lächelte und winkte. In diesem Moment brach der Applaus los wie ein brechender Damm und tönte in Thomas‘ Ohren. Er konnte nicht verhindern, dass er vor Erleichterung grinste. Der blonde Ex-Moderator ließ sich routiniert in den Sessel gegenüber Thomas fallen und lehnte sich entspannt zurück. Er lächelte das Lächeln, das Thomas Goldschmidt jahrelang vor dem Spiegel einstudiert hatte, bis er es fast ebenso perfekt beherrschte. Fast. Neben Gottschalk persönlich musste man sich einfach wie eine unzureichende Kopie fühlen.
Diese Gedanken schossen Thomas durch den Kopf, während er die Begrüßungen durchging, ein Spiel, das sie beide perfekt beherrschten, wie zwei erfahrene Ballspieler.
„Hatten Sie eine angenehme Reise?“, fragte Thomas sein Idol.
Gottschalk nickte mit einem breiten Grinsen: „In der Tat, und mein Flugzeug ist auch nicht wegen irgendwelcher Sonneneruptionen abgestürzt.“
Gottschalk lachte, während Thomas das Lächeln ein wenig einfror. Gottschalk hatte sich also über die schreckliche letzte Sendung informiert. Peinlich. Doch als der Gast Thomas anlächelte und zwinkerte, entspannte sich der junge Moderator.
„Nun, Thomas, Sie sind in Deutschland und auch außerhalb berühmt. Schmerzt es Sie immer noch, bei Ihrer erfolgreichsten Sendung ‚Wetten, dass...?‘ einen Schlusstrich gezogen zu haben?“
„Es war eine schwierige Entscheidung, doch es war einfach an der Zeit“, berichtete Gottschalk. „Es war ja nicht so, dass …“
In diesem Moment ertönte ein Geräusch wie von einem herabfahrenden Computer, nur deutlich lauter. Mit einem Knall gingen die Lichter oben aus, und Thomas sah die Leuchten der Kameras erlöschen.
Sie waren nicht länger auf Sendung. In all den Jahren als Live-Moderator war ihm das noch nie passiert.
Einige Zuschauer schrien, doch dann ertönte Gottschalks Stimme: „Bleiben Sie ruhig. Das ist nur ein kleiner, technischer Defekt.“
Obwohl er wusste, dass das alles andere als die Wahrheit war, merkte Thomas, dass sogar er sich entspannte.
~*~
Koffer oder Rettungsboot?
Riikka sah einen Moment stumm zu Maula und der vermeintlichen Sicherheit hinüber. Doch dazwischen lag ein schräges, vom Salzwasser überspültes Deck, über das immer wieder große Trümmerstücke rutschten.
Sie drückte den Koffer vor, sodass dieser durch die Reling rutschte. Das Gepäckstück baumelte über dem Abgrund.
Riikka kletterte umständlich über das Geländer. Das Schiff tobte und stampfte unter ihr und ihr Körper zitterte vor Kälte und Erschöpfung. Alles Training schien sie im Stich gelassen zu haben.
Dann befand sie sich mitsamt ihrem Koffer außen am Bord. Unter ihr schäumte das Meer und schlugen die Wellen zornig gegen die Bordwand. Riikka befand sich auf der Schlagseite, sodass das Meer hier deutlich näher war als auf der gegenüberliegenden Seite.
Die Fluten werden mich unter das Schiff spülen, wenn ich nicht aufpasse, schoss es ihr durch den Kopf.
Dann packte sie ihren Koffer und sprang.
Eine Welle hatte das Schiff angehoben und Riikka hatte sich abgestoßen. Sie war so weit wie möglich nach vorne gesprungen, doch es fühlte sich nach zu wenig Abstand zum stampfenden Schiff an. Dann zog die Schwerkraft sie in die Tiefe.
Riikka schlug hart auf den Wellen auf, die sich nicht nach Wasser, sondern nach hartem, getrockneten Erdreich anfühlten. Sie strampelte mit den Beinen und presste die Lippen aufeinander, als sie untertauchte. Salzwasser schwappte in ihr Gesicht. Dann durchbrach sie blind die Wasseroberfläche und schnappte nach Luft.
Erst jetzt fühlte sie sie Kälte des Meeres. In der Hand hielt sie immer noch den Koffer, und dieser trieb auf den Wellen. Riikka klammerte sich an das Gepäckstück wie an ein Stück Treibholz. Der Ozean saugte an ihrer Kleidung und Gischt peitschte ihr wie Hagel ins Gesicht. Sie sah sich um, suchte nach Land, denn lange würde sie nicht durchhalten.
Ein Rettungsboot wurde vom Schiff abgelassen. Riikka sah Maula an Bord, zusammen mit mehreren Menschen, offenbar Gästen. Sie fing über das ganze Chaos hinweg seinen Blick auf, als das kleine Gummiboot in die Tiefe stürzte und dann auf dem Wasser aufschlug. Trotzdem behielt Maula den Blickkontakt bei, bis das Schiff von einer Welle getragen kippte. Der schwere Rumpf lehnte sich auf die Spitze des Rettungsbootes und dieses wurde unter Wasser gedrückt. Über dem ganzen Lärm konnte Riikka die Menschen kreischen hören, als das Rettungsboot schneller, als irgendjemand reagieren konnte, unter den Metallrumpf gezogen wurde.
Für einen kurzen Moment sah Riikka eine dunkle Wolke unter Wasser – bräunlich oder rötlich – dann gab es keine Spur mehr von dem Boot.
Riikka krallte die Finge rum den seitlichen Griff ihres Koffers und paddelte wie verrückt mit den Füßen.
Vorwärts … sie musste vorwärts, raus aus dem Wasser. Sonst würde sie hier sterben.
Die Angst kribbelte in ihr, verlieh ihr neue Energie. Sie spürte weder Schmerzen noch Kälte noch Erschöpfung, nur Todesangst.
Sie wusste nicht, wie sie an Land gekommen war. Ihre Erinnerung war leer, nur schwammige Bilder von Wellen und der Geschmack von Salzwasser waren geblieben.
Riikka kam im Sand zu sich, am Strand des weiten Meeres. Ihre Finger umklammerten immer noch den Koffer, sie konnte sie nicht lösen, bis sie mit ihren Lippen und dem Kinn darüber rieb.
Die Sonne stand am Himmel. Es war warm und Riikkas Kleidung getrocknet, aber sie hatte furchtbaren Durst. Fast wäre sie zum Meer gekrochen und hätte das salzige Wasser in sich aufgesaugt, doch ein Rest Verstand war ihr geblieben.
Sie blieb sitzen und massierte ihre verkrampften Finger. Schnitte zogen sich über ihre Arme und Beine, vielleicht von Muscheln, über die die Wellen sie getragen hatten. Der Strand sah dagegen wie ein Traumstand aus: Weite, weiße Sandflächen, einige Muscheln, kein Seetang. Dafür lagen überall Trümmer verteilt. Zerfetze Metallstücke, Koffer, Kleider, Körper, Stangen, Holz, und noch mehr undefinierbare Teile.
Riikkas Hände zitterten. Sie atmete tief durch. Nur die Ruhe bewahren. Nicht in Panik verfallen.
Im Geiste machte sie sich eine Liste. Wasser suchen. Trinken und die Wunden auswaschen. Danach Essen suchen. Und einen Unterschlupf.
Gucken, ob es noch andere Überlebende gab.
Sie ließ den Blick über den Strand gleiten und konnte keine Bewegung erkennen – doch, dort hinten!
Schwankend stand sie auf und taumelte wie ein Untoter über den Sand. Immer wieder rutschten ihre Füße auf dem nachgiebigen Untergrund weg.
Ein paar Möwen kreischten, der Himmel war strahlend blau, der schwache Wind kühlte angenehm – und Menschen waren gestorben.
„Hallo? Geht es Ihnen gut?“
Riikka erreichte denn Mann, der auf der Erde lag und sich schwach regte. Er hustete und spuckte Sand aus.
Sehe ich auch so aus?, wunderte sich Riikka. Haare voller Sand, Haut voller Schrammen, und so blass wie eine Leiche?
Es war ein kräftiger Mann mit dunkelbraunem Haar – Locken, vermutete Riikka, obwohl diese im Moment platt am Schädel klebten. Seine Haut war gebräunt, obwohl sie jetzt aufgeweicht und blasser erschien. Er hatte einen Waschbärbauch und war auch sonst eher kräftig gebaut – oder vielleicht eher wohlgenährt.
„Aquaaa …“, krächzte der Mann.
Ein Italiener. Riikka kniete sich neben ihn und rollte den Mann auf die Seite, sodass dieser weiteren Sand und etwas Meerwasser ausspucken konnte. Keuchend blieb er so liegen.
„Geht es Ihnen gut?“, sprach Riikka ihn wieder an, diesmal auf Italienisch.
„Ja“, ächzte der Mann elend. „… Durst!“
„Ich habe leider kein Wasser.“ Riikka half dem geschwächten Mann auf die Beine. Gemeinsam torkelten sie in den Schatten einiger Büsche. Riikka blieb allerdings nicht sitzen, sondern stand auf, um ihren Koffer zu holen.
„Hier!“ Sie kramte das Glas Moltebeeren hervor und reichte es dem dehydrierten Mann. Es war zwar kein Wasser, aber immerhin Flüssigkeit …
Der Mann kippte das Glas herunter und blieb dann auf dem Rücken liegen. Sein Atem ging pfeifend und flach.
Riikka war sich nicht sicher, ob der Mann nicht doch sterben würde. Sie konnte keine schwerwiegenden Verletzungen sehen, doch dann war sie wiederum auch keine Ärztin. Sie wollte nicht stehen bleiben, also ging sie den Strand ab und suchte nach Strandgut, das sie gebrauchen könnte. Sie fand nicht viel, das nicht viel zu schwer oder vom Schiffbruch zerfetzt worden war. Allerdings entdeckte sie eine Plastikflasche mit Mineralwasser, die vermutlich aus der Bordkantine stammte, ein paar durchweichte Müsliriegel und einige wenige Stofffetzen, die sie benutzen könnte, um etwas herzustellen.
Und Tote. Sie fand unzählige Tote. Bald schon verging ihr die Lust daran, die leblosen Körper umzudrehen, um auf eine Reaktion zu hoffen, denn die ertrunkenen Gesichter versetzten ihr jedes Mal einen Schlag in den Magen.
Das gefundene Wasser trank sie sofort aus. Die Tatsache, dass sie ihre Moltebeeren womöglich an jemanden verschwendet hatte, der ohnehin sterben würde, hatte ihr einen gehörigen Schreck versetzt, sodass sie keinen Fehler mehr begehen wollte.
~*~
„Wir müssen reden.“
Jonas sah von seinem Handy auf, auf dem er herumgetippt hatte. „Ach?“
Ruben ignoriert den spöttischen Tonfall seines Sohnes und bedeutete ihm und Hannah, ihm in das Esszimmer zu folgen.
Dort saß Ester bereits am Tisch und knetete nervös ihre Finger. Ihre Lippen bewegten sich schwach, aber Ruben wusste, dass sie lautlos betete.
Nun tauschten Jonas und Hannah doch beunruhigte Blicke. Die Kinder spürten die angespannte Stimmung offenbar und setzten sich schnell.
„Was … was ist denn los?“, fragte Hannah besorgt.
„Wir haben heute erfahren, dass die Apokalypse naht“, offenbarte Ruben gefasst. Ester stöhnte leise auf und tastete nach seiner Hand, was Ruben geschehen ließ.
Die Kinder sahen ihre Eltern mit weit aufgerissenen Augen an und wechselten dann Blicke.
„Naht das Ende nicht immer bei eurem Verein?“, fragte Hannah dann abschätzig.
„Hannah Schönfelder, das ist kein Ton, um -“, setzte Ester an, aber Ruben unterbrach sie. Nicht noch mehr Streit in dieser Familie, nicht jetzt!
„Ich weiß, dass ihr Groll gegen uns hegt“, sagte er zu seinen Kindern. „Aber seht doch: Wir haben recht! Überall auf der Welt geschehen Katastrophen …“
„Alter, das war einfach nur ne etwas stärkere Sonneneruption“, stöhnte Jonas. „Steht überall auf Twitter. Das hat hier und da ein paar Netze lahmgelegt, aber ich glaube kaum, dass das für euch eine Apokalypse ist – eher für unsere Generation.“
Hannah schnaubte belustigt.
Ruben konnte an Esters Miene sehen, dass sie nur mit Mühe ruhig blieb.
„Das ist erst der Anfang“, versuchte er es erneut. „Hört mal, wenn ihr es euch nochmal überlegen wollt …“
Jonas sprang auf. „Ich dachte, das Thema ist endlich durch! Nein, wir machen bei eurem Sektenscheiß nicht mit! Ende!“
„Jonas!“, zischte Ester.
„Gut, gut.“ Ruben hob beschwichtigend die Hände. „Setz dich trotzdem. Auch, wenn ihr es nicht wahrhaben wollt, wir müssen uns nun auf die Apokalypse vorbereiten.“ Bei dem ‚wir‘ sah er Ester an und drückte ihre Hand, um sie daran zu erinnern, dass Jähzorn eine Sünde war – und auch, um zu verdeutlichen, dass Jonas und Hannah ihr weiteres Leben freigestellt war. Das schmerzte, aber im Grunde hatte sich Ruben schon lange vorher damit abgefunden. Ein winziger Funke Hoffnung blieb aber doch.
„Ihr beide müsst euch einen Nebenjob suchen. Eure Handys und alles weitere bezahlt ihr in Zukunft selbst. Wir müssen das Geld für wichtigere Dinge nutzen.“
Hannah und Jonas stöhnten. Dass sie nicht widersprachen, war vermutlich Esters düsterem Blick zuzuschreiben. Die Kinder hatten ihre Grenzen heute bereits recht weit überschritten.
„War’s das?“, fragte Jonas, als Ruben nicht weiter sprach.
„Für’s erste“, antwortete er und entließ die Kinder mit einem Kopfnicken, die wortlos in Jonas‘ Zimmer zurückkehrten. Ruben hörte sie gedämpft murren und schimpfen, konnte aber keine Worte ausmachen.
Ester seufzte und umklammerte seine Hand mit ihren beiden. „Ausgerechnet jetzt. Kannst du es glauben?“
„Noch nicht so wirklich“, antwortete Ruben zögerlich. „Ich muss es wohl erst einmal verarbeiten.“
„Wo sollen wir nur anfangen?“, fragte Ester mit schwacher Stimme, den Tränen nah.
In diesem Moment klingelte es.
Ruben und Ester sahen einander an, worauf Rubens Frau ihre Augen mit einem Zipfel des Hemdes abtrocknete. Ruben strich über sein Oberteil – er hatte nach der Versammlung das Hemd gegen ein verwaschenes T-Shirt getauscht – und öffnete die Tür.
Im Hausflur stand eine zerbrechlich aussehende Frau mit dünnen, weißem Haar in einem dünnen, weißen Kleid. Sie starrte Ruben an.
„Sieglinde!“, begrüßte er die Frau. „Wie geht es Ihnen? Was machen Sie hier?“
Es dauerte einen Moment, bis die alte Dame antwortete. „Eier … Ich wollte fragen, ob Sie mir Eier leihen können. Ich wollte einen Pfannkuchen machen und habe keine Eier mehr.“
Ruben warf einen Blick zurück in die Wohnung. Ester hörte zu und lächelte gutmütig über die Nachbarin.
„Aber ich habe Ihnen doch am Donnerstag erst Eier gekauft“, rief Ruben Sieglinde in Erinnerung.
„Wirklich?“ Fahrig strich sie sich durch die Haare.
Ruben fasste die alte Dame vorsichtig unter dem Arm. „Kommen Sie, wir sehen nach. Einverstanden?“
Die letzte Frage war mehr an Ester gerichtet. Ruben fand, dass er ohnehin zu wenig Zeit mit seiner Frau verbrachte, da wollte er sie jetzt eigentlich nicht alleine lassen. Doch Ester nickte tapfer und wirkte wieder vollkommen gefasst.
So half Ruben Sieglinde hinüber in deren Wohnung. Er brauchte nicht lange, um die Eier im Küchenschrank zu entdecken.
„Hier, hier haben wir doch was! Soll ich Ihnen noch helfen?“
„Oh, danke, das ist sehr lieb von Ihnen!“, meinte Sieglinde überrascht.
„In Wahrheit muss ich mit Ihnen reden.“ Ruben senkte seine Stimme ein wenig. „Ich habe erfahren, dass das Ende naht.“
„Das Ende?“
„Das Ende der gesamten Welt. Die Apokalypse.“ Ruben nahm die Eier heraus und begann, den Teig für die Pfannkuchen vorzubereiten, während er von der Versammlung erzählte. „Und jetzt bleibt uns vermutlich nicht mehr sehr viel Zeit auf Gottes Erde“, sagte er zum Ende seines Berichts. „Wir müssen um Vergebung für unsere Sünden bitten, ehe es zu spät ist. Der Herr streckt uns seine rettende Hand entgegen, doch wir müssen sie auch ergreifen.“
Er sah zu Sieglinde.
„Ja, ja …“ Sie lächelte mit einem Gesichtsausdruck, der ihn an ein Schaf erinnerte. Offenbar hatte seine Nachbarin nicht zugehört, oder sie steckte in einer dementen Phase …
Ruben seufzte und machte die Pfannkuchen, ohne ein weiteres Wort zu sagen.
~*~
„Ja, der Flug geht heute Abend, um … warte einen Moment …“ Keelan kramte in ihrer Tasche, das Handy zwischen Ohr und Schulter geklemmt. Dann fand sie ihr neues Flugticket. „Ich hab’s gleich – um 18 Uhr.“
„Und wann bist du dann hier?“, fragte ihre Mutter.
„Das weiß ich noch nicht.“ Keelan musste tief durchatmen. Sie war außer Atem, dabei war sie nur von dem Informationsschalter in den Wartebereich gegangen. Doch das Chaos setzte sie unter Stress. Wieder und wieder strich sie sich die Haare aus der Stirn. Verdammte Locken – die wollten einfach nicht in Form bleiben. „Ich fliege heute Abend erst einmal nach Deutschland und da muss ich dann einen Anschlussflug nehmen …“ Sie sah auf das Flugticket, konnte die Angaben in dem ganzen Gewirr aus Zahlen, Flugnummern und Orten nicht herauslesen. Mit einem Stöhnen ließ sie sich in einen Sessel fallen. „Für den Moment sitze ich hier fest.“ Sie fuhr sich wieder durch die Haare.
„Gut, da kann man jetzt nichts dran ändern.“ Ihre Mutter klang gefasst. „Versuch in Deutschland mal, herauszubekommen, wann dein Flug geht. Wir holen dich dann hier am Flughafen ab. Und bis dahin, entspann dich. Du hast ja keine wichtigen Termine, oder?“
„Den Abgabetermin“, murmelte Keelan.
„Und du hast noch ein paar Wochen Zeit, um das Buch fertig zu kriegen“, erwiderte ihre Mutter streng. „Die Deadline wirst du ja wohl kaum verpassen.“
Keelan rang die Hände. „Trotzdem! Dass so was immer mir passieren muss! Erst die Sache mit Ethan, und jetzt sitze ich hier fest. Ich meine, ich kann ja schlecht nach Hause zurück, und selbst wenn ich wollte – er ist doch schon unterwegs.“
Mehrere Wartende sahen zu Keelan herüber, weil sie beim Telefonieren gestikulierend auf und ab lief. Sie hatte es nicht besonders lange in dem grauen Sessel ausgehalten und war direkt wieder aufgesprungen. Zwischendurch nippte sie an einem Coffee-to-go aus dem Automaten, an dem sie sich bereits zweimal die Lippen verbrüht hatte. Außerdem schmeckte das Getränk eigentlich nur nach heißem Wasser.
Ihre Mutter am anderen Ende der Leitung seufzte. Keelan konnte förmlich hören, dass ihr ein ‚Du bist es doch selbst schuld!‘ auf den Lippen lag. Ihre Mutter hätte damit auch recht gehabt, wenn Keelan ehrlich zu sich war. Sie hatte einen ganz guten Ehemann gehabt und war aus Angst vor einem tristen Alltag geflohen. Sie hatte sich getrennt, nicht etwa Ethan. Ihre Eltern konnten das beide nicht so recht nachvollziehen. Keelan rechnete ihnen ihre Unterstützung deswegen hoch an, auch die Tatsache, dass ihre Mutter den Satz nicht aussprach. Das hätte Keelan jetzt wirklich nicht hören wollen.
„Ruf uns an, sobald du mehr weißt“, bat ihre Mutter. „Pass auf dich auf.“
„Werde ich, danke, Mom.“
Keelan trank zuerst einmal ihren Kaffee aus, um sich zu beruhigen. Leider half das wenig, obwohl sie sich zum Stehenbleiben zwang. Fast sofort wippte sie auf den Füßen. Als der Kaffee endlich leer war, musste sie dringend auf die Toilette, also zog sie mit Koffer und Tasche los.
Langsam wurde ihr so richtig klar, was die umgeworfenen Pläne bedeuteten. Sie würde einige Stunden am Flughafen festsitzen und müsste sich die Zeit irgendwie vertreiben. Und dann würde eine hoffentlich nicht allzu stressige Odyssee über Deutschland beginnen.
Ihr Magen knurrte. Richtig, sie hatte heute Morgen keine Zeit zum Frühstücken gehabt. Also wanderte sie in die rege betriebene Einkaufsmeile im Flughafen und suchte eines der vielen Restaurants auf. Sie fand schließlich eine Bäckerei, die ein großes Frühstück mit Brötchen und Spiegelei anbot. Der Preis dafür war im Grunde eine Beleidigung für jeden, der für sein Geld arbeiten musste, aber Keelan hatte auch keine Lust, jetzt erst wieder in die Stadt zu fahren, um dort etwas ein bisschen weniger überteuertes zu Frühstücken.
Sie merkte, dass sie echt Hunger gehabt hatte. Nach dem Essen trank sie noch einen zweiten Kaffee, diesmal einen guten. Danach fühlte sie sich endlich wieder lebendig, wenn auch müde.
Um sich wach zu halten, begann sie eine Tour durch die Shops am Flughafen und ließ sich dabei alle Zeit der Welt, um Figürchen und Snacks anzusehen, die sie sich ohnehin nicht kaufen wollte. In einer Drogerie ließ sie sich dazu hinreißen, ein paar Parfums auszutesten. Eines, das nach Orange roch, gefiel ihr so gut, dass sie es schon kaufen wollte, bis sie das Preisschild für eine einzige winzige Flasche bemerkte. Dafür kaufte sie sich eine Flasche mit prickelndem Wasser und ein Rätselheftchen und wanderte zurück in die Wartehalle.
Anderthalb Stunden vorbei … sie hatte das Gefühl, dass der Tag niemals enden würde. Während die Sonne langsam über den Himmel und ihr Licht durch die Wartehalle kroch, setzte sich Keelan in einen Sessel und klappte den Laptop auf. Sie las das Kapitel vom letzten Abend nochmal und korrigierte kopfschüttelnd die Rechtschreibfehler. Sie sollte wirklich ruhiger tippen! Danach korrigierte sie die Handlung ein wenig, denn in der jetzigen Version begann ein Gespräch am Mittag und nach etwa sieben Sätzen war es plötzlich Abend. Und dann änderte sie Schriftart und –größe und begab sich ein zweites Mal auf Fehlersuche. Eigentlich wollte sie auch direkt das nächste Kapitel beginnen, aber inzwischen tat ihr der Rücken vom gebeugten Sitzen weh. Keelan stand auf, lief ein wenig herum und setzte sich dann wieder.
Und dann war es schlagartig 17:35 Uhr. Keelan blinzelte, als sie den Blick vom Bildschirm hob und es draußen bereits dunkel zu werden begann. Sie hatte doch nur ein paar Minuten … ein Blick auf das Dokument zeigte ihr sagenhafte 17 neue Seiten, die vermutlich nur so strotzen vor Fehlern. Keelan speicherte mit einer hastigen Bewegung. Auch das hatte sie ganz vergessen.
Dann packte sie den Laptop an und begab sich zu ihrem Gate. Schon von Weitem sah sie die Schlange. Dieser Flug war glücklicherweise nicht ausgefallen. Doch während sie sich der Stewardess näherte, die die Tickets kontrollierte, knurrte Keelans Magen plötzlich.
Oh, Mist! Sie hatte ganz vergessen, etwas zu essen! Stattdessen hatte sie wie im Wahn geschrieben und den Rest der Welt gänzlich verdrängt.
Gehetzt sah sie sich um. Würde es an Bord etwas zu essen geben? Allerdings kannte sie die Portionen der Flugzeugmahlzeiten. Die Geschäfte waren nicht so weit entfernt, sie könnte schnell loslaufen, sich ein Brötchen kaufen und würde sicherlich noch problemlos mit an Bord kommen. Aber wenn sie den Flug doch verpasste … Sie würde schon nicht verhungern, wenn sie erst in Deutschland etwas essen ging.
~*~
Er hatte sich dagegen entschieden, nach draußen zu gehen. Denn wie erwartet dauerte es nicht lange, bis die Wirkung der Amphetamine einsetzte.
Seth ließ sich in die Couch sinken. Er war zufrieden. Dass alle Technik ausgefallen war, wäre sicherlich auch kein Problem. Und wenn die Geräte nicht bald von selbst wieder angingen, würde er sich die Sache mal ansehen. So schwierig könnte das doch nicht sein!
Er setzte Musik auf und wanderte durch die Wohnung. Er fühlte sich gut. Richtig gut. Der Ärger war verflogen und genauso alle Sorgen. Nur irgendwo tief in seinem Hinterkopf wusste Seth, dass er besser nicht vor die Tür ging.
Er spürte auch Jack ‚anklopfen‘, obwohl er noch lange nicht zugedröhnt war. Aber Jack freute sich vermutlich auf ein Wochenende voller Drogen, und Seth war nur halbherzig bereit, Jack zurückzuhalten. Immerhin war das der ursprüngliche Plan gewesen!
Nach vielleicht einer halben Stunde sprang der Fernseher von ganz allein wieder an. Seth zog die Kopfhörer ab und schaltete den MP3-Player aus, als das vorherige Programm weiterlief, die live-Übertragung des Spiels. Dieses war unbeirrt fortgeführt worden.
Nach einigen Minuten meldete sich wie aus dem Nichts der Kommentator.
„Sieht so aus, als wären wir wieder auf Sendung, meine Damen und Herren. Keine Ahnung, was da los war …“
Der Kerl quatschte über das komplette Spiel. Seth hörte sich das einen Moment an und knurrte dann genervt. Das war einer dieser Menschen, die nicht ein Wort sagen konnten, ohne ihn zur Weißglut zu treiben. Genervt schaltete er den Ton ab, doch sogar die Kamera konzentrierte sich nicht auf das Spiel. Das wenige, was Seth vom Spiel sehen konnte, war verschwommen, unscharf oder verwackelt.
„Verdammt, reißt euch doch mal zusammen!“, brüllte er den Bildschirm an.
Schlagartig wechselte das Bild und zeigte nun einen Nachrichtensprecher im Studio.
Seth fluchte und schaltete den Ton wieder an.
„… fielen heute überall im Land Strom und Funk aus. Der Verdacht auf einen Terroranschlag konnte bisher nicht bestätigt werden, Experten halten auch eine natürliche Ursache für möglich. Wir schalten nun nach Berlin, wo …“
Seth schaltete den Fernseher aus. Die würden heute wohl kein Spiel mehr senden.
„Verdammt!“ schrie er und stampfte auf. Dann nahm er sich eine Bierdose und trank einen Schluck. Er musste was anderes machen. Irgendwas zocken? Ja, er könnte seinen Highscore noch ein wenig höher treiben. Wenn Enila da war, hatte er ja immerhin nicht so viel Zeit zum spielen.
Er schaltete die Playstation an und hockte sich mit dem Controller davor, aber irgendwie war der Wurm drin.
„Komm schon … Komm schon!“, knurrte er und unterdrückte diverse Impulse von Leo und Krieg, den Controller einfach im Bildschirm zu versenken.
Dann klingelte es.
„Menschenkinder …“ Seth stand auf, pausierte das Spiel und stapfte zur Tür. Kurz, bevor er die Klinke berührte, durchzuckte ihn ein hoffnungsvoller Gedanke. Ob Enila zurückgekommen war?
Als er die Tür öffnete, stand ihm jedoch eine blasse, kleine Frau mit dünnen, braunen Haaren und traurigem Gesichtsausdruck gegenüber.
„Ähh …“, sagte sie, als sie sich Seths grimmiger Miene gegenübersah.
„Ich kaufe nichts und ich will auch nicht über Gott reden.“ Er wollte die Tür schon wieder schließen.
„Deswegen bin ich nicht hier!“ Mit einer Vehemenz, die er ihr überhaupt nicht zugetraut hätte, trat die Frau in die Tür und hinderte ihn daran, diese zu schließen. Dann wurde ihre Stimme sanfter. „Entschuldigen Sie … ich bin Karola Maiffert, ich wohne zwei Stockwerke über Ihnen. Ist bei Ihnen auch der Strom ausgefallen?“
„Ja“, antwortete Seth widerstrebend. Er konnte diese Karola nicht leiden, aber vor allem drängten sich ihm auch Bilder auf, wie er ihren Kopf packte und so lange gegen die Wand stieß, bis ihr Hinterkopf eine einzige blutige Masse wäre.
War das der Einfluss von Leo? Irgendwie schienen diese Bilder nicht zu ihm zu passen.
Exodus. Es konnte niemand anderes sein. Seth sollte dieses Gespräch besser beenden.
„Das war seltsam, oder?“, fragte Karola und plapperte direkt weiter. „Im Fernsehen sagen sie, dass es ein Terroranschlag gewesen sein könnte! Oder nur ein Unfall. Manche sagen auch, dass es eine Sonneneruption oder so war.“
Sie redete ohne Punkt und Komma. Definitiv jemand, mit dem Seth sich nicht länger unterhalten wollte.
Er drückte gegen die Tür. „Is mir egal.“
„Warten Sie!“ Karola ließ ihn wieder nicht entkommen. „Ich bin nur gekommen, um zu sehen, ob es Ihnen gut geht.“
Seth starrte Karola an. Was war das denn für eine Tante?
„Im Stockwerk über uns wohnt eine Freundin von mir, die ihren alten Großvater pflegt. Er ist auf Maschinen angewiesen und die sind gerade ebenfalls kurz ausgefallen. Wir konnten ihn zum Glück manuell beatmen und die Maschinen sprangen auch sofort wieder an, aber da fragte ich mich, wer hier wohl noch so im Haus wohnt. Wäre der arme Mann alleine gewesen, wäre er jetzt tot. Ich wollte einfach nur gucken …“
„Schön. Ich bin auf nix angewiesen.“ Als Seth die Tür diesmal zudrückte, unternahm Karolin nichts dagegen.
Trotzdem merkte er, wie ihre Worte ihn beschäftigten. Der Gedanke, dass der Stromausfall vielleicht noch mehr Folgen gehabt hatte, also nur die Übertragung des Spiels abzubrechen …
Seth wischte die Grübeleien energisch beiseite. Die würden ihn nirgendwohin bringen, außer vielleicht zurück in die Klapse, wenn er ihnen zu viel Macht zugestand. Er kehrte ins Wohnzimmer zurück und setzte sich auf das Sofa, vor den Bildschirm. Lange Zeit starrte er auf das eingefrorene Spiel, ohne sich dazu überwinden zu können, es weiter zu spielen.
Er trank die nächste Bierdose aus und fühlte sich leer, aufgewühlt und gleichzeitig erschöpft. Die Wirkung des Stoffs ließ offenbar nach.
Er sah aus dem Fenster und wünschte sich nichts sehnlicher, als dass Enila bei ihm wäre.
Es war inzwischen dunkel geworden. Unten an der Straße flackerten die Laternen. Noch während Seth hinsah, schwoll plötzlich ein ihm nur allzu vertrauter Ton an …
Eine Sirene.
~*~
Die junge Frau am Empfang sah verwundert auf. Kein Wunder, denn der Gast, der gerade eintrat, passte so überhaupt nicht in das Etablissement. Es handelte sich um den Vorraum zu einem großen, modernen Bürogebäude mit durchgehenden Fensterfronten, hellblauen Akzenten, der neusten Technik und gefüllt mit Menschen, die entweder seriöse Business-Anzüge (Männer) oder schicke Kostüme (Frauen) trugen.
Das junge Mädchen dagegen trug eine ripped Jeans, eine kariertes Hemd über einem dunkelblauen Muskleshirt und trug die blonden Haare unordentlich kurz geschnitten. Eine Strähne war grellrot gefärbt und fiel ihr immer wieder ins Gesicht. Im einen Ohr steckte eine Sicherheitsnadel statt eines Ohrrings, die Schuhe waren kaputt und ausgelatscht, an den Armen trug sie unzählige Bänder von Konzerten, um den Hals zwei lange Ketten, darunter einer, deren Anhänger wie eine Patronenhülse aussah.
„Wie kann ich Ihnen helfen?“, fragte die Rezeptionistin freundlich, obwohl man ihr ansah, dass das Erscheinungsbild der jungen Frau sie irritierte.
„Ich bin Rin“, stellte sich das Mädchen vor. „Herr Meyer-Freifels wollte mit mir sprechen.“
„Ach, ähh …“ Die Dame sah auf ihrem Computer nach und steckte dabei unbewusst eine Strähne zurück in ihren Dutt. „Haben Sie einen Termin?“
„Nö, hab ich nicht. Wir sind uns nur kurz begegnet, er hatte etwas von mir gelesen und gesagt, ich solle baldmöglichst vorbeikommen.“
„Oh, naja …“
Die junge Frau machte einen Schritt zurück. „Ich kann auch wieder gehen!“
„Nein, nein. Ich rufe ihn an. Warten Sie kurz …“
Die Sekretärin telefonierte mit dem gewünschten Verleger. „Eine junge Frau für Sie, Lars … nein … nein, kein Termin … Rin … Ich …“, sie verdeckte den Hörer mit der Hand und wandte sich an den Gast. „Entschuldigen Sie, wie war ihr Name?“
„Rin Morgan. Eigentlich Katharina.“ Rin bediente sich in der Zwischenzeit ungeniert aus dem Glas mit kleinen Bonbons, das auf dem Tisch stand. Mehrere Hände voll waren bereits in den Taschen des Hemdes verschwunden.
„Rin Morgan … Ja. Ja, genau! … Gut, werde ich machen.“ Die Sekretärin legte auf. „Herr Meyer-Freifels erwartet Sie jetzt.“
„Nett von ihm.“ Rin schulterte ihre Tasche – eine große, blaue Sporttasche, und schlenderte los.
„Dritter Stock, Büro fünf!“, rief die Sekretärin ihr hinterher.
Rin winkte, eine Visitenkarte zwischen zwei Fingern hochhaltend. „Weiß ich!“
Zehn Minuten später saß Rin lässt auf dem Stuhl gegenüber von Lars Meyer-Freifels‘ Schreibtisch. Sie hatte ein Bein über die Lehne gelegt und kaute auf dem Daumennagel herum.
„Das freut mich wirklich sehr!“ Lars – sie duzten sich ja, und das hatte der Verleger gleich beibehalten – scrollte durch das Dokument auf seinem Bildschirm. „Ich habe es ehrlich gesagt kaum glauben können, als ich dich im Café sah. Solche Zufälle passieren in Büchern, aber doch nicht im echten Leben … dachte ich jedenfalls.“ Er grinste sie breit an.
„Dann verlegen Sie mich?“, fragte Rin.
„Natürlich, das steht ganz außer Frage. Unsere Lektoren müssten vielleicht nochmal an das Buch ran, aber ansonsten ist es ein garantierter Erfolg. Vielleicht sogar ein Bestseller. Vorausgesetzt, du gibst uns dein Buch.“
„Klar, mach ich. Aber ich hab ne Frage. Kann ich ne Anzahlung oder so haben?“
„Wie, jetzt?“ Verwundert sah Lars auf.
Rin nickte. „Muss nicht viel sein. Meine Alten glauben mir das sonst nie. Vielleicht … ich weiß nicht, ist fünfhundert viel? Vermutlich ja.“
„Naja, dein Buch ist noch nicht verlegt. Und auch noch nicht fertig, wie du sagtest.“
„Die letzten Kapitel mache ich bald“, versprach Rin und lehnte sich zurück, bis sie mit dem Gesicht zur Decke auf dem Stuhl hing.
Lars Meyer-Freifels räusperte sich und setzte sich gerade hin. „Wie wären zweihundert?“
Rin sprang förmlich auf und saß dann kerzengerade und im Schneidersitz auf ihrem Stuhl. „Perfekt!“
„Das, was du mir heute mitgebracht hast, leite ich dann an unsere Lektoren weiter. Und du musst die letzten Kapitel bald machen, hörst du? Anders kann ich den Vorschuss nicht rechtfertigen.“
„In einer Woche hast du die Kapis“, versprach Rin. „Ich bin wirklich schnell.“
Lars nickte. „Gut. Ich hole dann den Vertrag.“
Er stand auf und verließ das Büro. Sein ‚Ich bin gleich wieder da!‘ setzte er auch in die Tat um, er war kaum zwei Minuten weg.
Rin stand vor der Fensterbank und betrachtete die Topfpflanzen, als er eintrat. Stolz präsentierte er ihr den Autorenvertrag. „Füll bitte alles aus. Eine Kopie wird dir dann per Post zugestellt.“
Rin ließ den Stift über das Papier gleiten. Name: Katharina Schneider, Alter: 21, Wohnort: Leibzig, Schillerstraße 9, …
Lars wartete, bis sie alles sorgfältig ausgefüllt hatte. Er kam nicht umhin, die junge Frau zu bewundern, denn sie hatte sogar ihre Banknummer ohne nachzusehen hingeschrieben, nachdem sie nur kurz überlegt hatte. Diese Rin Morgen war ein echtes Talent!
Nachdem sie fertig war, überflog Lars die Angaben, doch alles sah richtig aus. Dann grinste er seinen Gast verschwörerisch an und reichte ihr einen Umschlag.
Rin sah hinein und ihre Augen weiteren sich.
„Die zusätzlichen dreihundert habe ich aus eigener Tasche draufgelegt. Die kannst du mir zurückzahlen, sobald du was verdient hast. Ich zweifele keinen Augenblick daran, dass du erfolgreich sein wirst.“
„Danke!“, sagte Rin und steckte das Geld ein. Sie schenkte Lars ein schwaches Lächeln. „Wir sehen uns am Freitag.“ Dann zwinkerte sie ihm zu, schulterte ihre schwere Tasche und ging.
~*~
Sie konnte sich an nichts erinnern, als sie zu sich kam.
Vorsichtig setzte sie sich auf und fasste sich an die Stirn. Ihr Kopf dröhnte und pochte.
Name … sie musste doch irgendeinen Namen haben! Doch ihr fiel keiner ein.
Vorsichtig erhob sie sich und sah sich um. Sie war in einem Wald. Feuchte Blätter klebten an ihrer Kleidung, einem bodenlangen Ledermantel. Darunter trug sie eine Dreiviertelhose und ein bauchfreies, schwarzes Top. Statt Schuhen besaß sie nur Bandagen, die um ihre Füße gewickelt worden waren. Aber das alles fühlte sich vertraut und richtig an.
Ein Geräusch ließ sie aufhorchen. Irgendwo in der Nähe war ein Vogel aufgeflogen.
War sie hier alleine, oder war jemand in der Nähe? Instinktiv ging die in die Hocke, die Hände vor sich auf den Boden abgestützt. Dabei stießen ihre Finger auf Widerstand unter dem Laub.
Sie schloss die Hand um etwas langes, glattes aus Holz. Als sie es hervorzog, erkannte sie, dass es ein kurzer Jagdbogen war, der sich vertraut in ihre Handfläche schmiegte. Zwischen den Wurzeln eines Baumes, ebenfalls von einer dünnen Schicht Laub bedeckt, lag der dazu passende Köcher aus weichem, hellen Leder. Sie hatte keinen Gürtel, um den Köcher daran zu befestigen, doch es war ohnehin nur ein einziger Pfeil darin. Sie nahm ihn heraus und legte ihn auf die Sehne, dann richtete sie, immer noch in der Hocke, den Oberkörper auf und sah sich um.
Schatten und Lichtflecken tanzten auf dem unebenen Boden, über laubbedeckte, geschwungene Hügel und moosüberwachsende, sich schlängelnde Wurzeln. Sie hörte Geräusche … ein leises Wispern, das Flüstern von Wind im Geäst.
Und das Rascheln von Schritten im Laub.
Blind tastete sie nach weiteren Pfeilen, aber sie konnte nichts finden. Mit angehaltenem Atem lauschte sie auf die Geräusche. Sie konnte den Klang von zwei unterschiedlichen Schrittrhythmen unterscheiden, also waren es zwei Personen.
Die Geräusche kamen näher. Sie spannte den Bogen und schmiegte sich lautlos an den Stamm eines der Bäume, verschmolzt geschmeidig mit dem Schatten.
Vorsichtig spähte sie um den Stamm herum.
Da!
Ein Hirsch trat auf eine kleine Lichtung und sah sich nervös um. Er witterte und spitzte die Ohren, doch der Wind kam ihr entgegen. Das Tier konnte sie nicht wittern.
Sie streckte mechanisch den Arm und spannte lautlos den Bogen. Mühelos zielte sie auf das Herz des Tieres, obwohl der Hirsch ein ganzes Stück entfernt stand …
~*~
Er war der Jüngste auf der Forschungsstation. Das machte seine Mutter sehr stolz und ihn selbst zum Außenseiter. Es kümmerte ihn nicht groß, da er sich sowieso lieber auf die Arbeit konzentrierte, aber er merkte immer wieder, dass er mit den anderen Forschern einfach keine Gesprächsthemen fand.
Gut, das war auch schon früher überall so gewesen: In der Schule, beim Sport …
Gordon Watts wanderte am Meer entlang, während er nachdachte. Es war heiß, die Wellen rollten sanft auf den Strand. Der madagassische Dschungel auf der anderen Seite vibrierte vor Leben. Der junge Überflieger achtete besonders auf die Rufe der Tenreks. Das Fiepen von Igeltenreks oder das Rascheln der Stacheln von Streifentenreks. Die Sonne war eben erst aufgegangen und so befanden sich die einzigartigen Säugetiere auf dem Rückweg in ihre Bauten und Verstecke.
Nun, fast alle. Nur ein paar Meter vom Strand entfernt, wo sich bereits tiefster Dschungel befand, steht zwischen den Palmen verborgen ein großer Metallkäfig, in dem eine Gruppe Igeltenreks lebte. Die kleinen, stacheligen Tiere turnten über die Seile, die im Käfig gespannt worden waren, und zeigten keine Scheu, als Gordon an das Gitter trat. Er musste sogar eher aufpassen, als er durch die beiden Türen ins Innere trat, dass keines der Tiere in den Zwischenraum entkam. Die Tiere waren inzwischen an den Menschen und ihren Tagesrhythmus gewöhnt. Gordons große Schuhe, die bei jedem Schritt leise quietschten, wurden sofort zum Ziel einiger übermütiger Beißattacken.
Ein Lächeln stahl sich auf das Gesicht des jungen Forschers. Er scheuchte die Igeltenreks sanft zur Seite und machte sich daran, die Futterschalen einzusammeln, die die Tiere überall im Gehege verteilt hatten. Er füllte die Würmer und Larven hinein und stellte die Näpfe in einer ordentlichen Reihe an der weißen Wand auf, die das Gehege auf einer Seite begrenzte. Dahinter lag der Innenbereich und ein kleiner Raum mit Computern, Kaffeemaschine, Wasseranschluss und Kühlschrank. Gordons Arbeitsplatz, den er sich mit drei Frauen teilte, allesamt Forscherinnen, die genau wie er die Igeltenreks erforschten.
Als Gordon auch die Wasserschalen auffüllen wollte, lief ihm das Wasser über die Hände. Dabei hatte er doch gar nichts verschüttet …
Nässe klebte in seiner Kleidung. Das Fiepen der Igeltenreks wurde schriller und lauter, viel lauter, als die kleinen Tiere eigentlich schreien konnten. Wasser klatschte Gordon ins Gesicht.
Er blinzelte Salz brannte in seinen Augen und er … er hing an einem Stück Metall. Überall brüllten und schrien Menschen.
Was war passiert? Wie war er hierher gekommen?
Im Sonnenlicht konnte er in einiger Entfernung Strand sehen. Einen Landstreifen. Mit schweren Beinen paddelte er darauf zu. Seine Gedanken paddelten ebenso träge. Was war noch gleich geschehen? Er erinnerte sich, wie Lioba, eine der Forscherinnen, ganz aufgeregt berichtet hatte, dass sie von Bekannten zwei Fahrscheine für eine Kreuzfahrt bekommen hatte. Und irgendwie hatten die beiden Forscherinnen mehr oder weniger beschlossen, dass er das zweite Ticket erhalten sollte. Gordon hatte nicht verstanden, warum sie sich so entschieden hatten. Aber ja, er war mitgefahren. Und dann …
Das Schiff war gekentert. Jetzt war er irgendwo im Ozean.
Er schwamm schneller, während er noch versuchte, die Reste des Traums abzuschütteln. Kreuzfahrten waren ohnehin nichts für ihn. Er hätte auf Madagaskar bleiben sollen.